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Zur Bedeutung historischer Bezugnahmen der frühen Zürcher 1980er Bewegung

Im Dokument 98 »All we ever wAnted ...« (Seite 121-137)

Konturen des Gegenstandes

Eine Geschichte der Zürcher Achtziger-Bewegung sollte spätestens in den aus-gehenden 1970er-Jahren einsetzen. Die Gruppierung Rock als Revolte(RAR) formierte sich im Herbst 1979, um alternative, nicht-kommerziell orientierte Kon-zerte und kulturpolitische Diskussionen zu organisieren. Weil bisherige Veranstal-tungsorte nicht mehr zur Verfügung standen, stellte sich im Winter 1979 die Raumfrage mit großer Dringlichkeit. Bei einer vorübergehenden Besetzung der Roten Fabrikzur Durchführung eines Festes im Frühling 1980 wurde festgestellt, dass Teile davon an Firmen vermietet waren und das Opernhaus mit einem Requi-sitenlager eingemietet war. Dies empörte die alternative Jugendszene, denn das ehemalige Industrieareal sollte auf Grund eines Beschlusses der Zürcher Stimm-bürger/-innen vom September 1977 zum Begegnungs- und Kulturzentrum werden.

Die Stadtoper war aber noch für mindestens vier Jahre eingemietet, die Realisierung eines Kulturzentrums also frühestens ab Mitte der 1980er Jahre absehbar. In dieser Situation sollte am 6. Juni 1980 über einen Kredit von sechzig Millionen Franken für Umbau und Renovierung des Opernhauses abgestimmt werden – mit 53 Prozent der Stimmen wurde dem Vorhaben zugestimmt. Im Abstimmungsvorfeld initiierte die Aktionsgruppe Rote Fabrik(ARF) eine Demonstration vor dem Zürcher Opern-haus am 30. Mai, um gegen die städtische Kulturpolitik zu protestieren. Nach den darauf folgenden beiden »Krawallnächten« (30. und 31. Mai) formierten sich Voll-versammlungen unzufriedener Jugendlicher. Die Forderung nach einem Kulturzen-trum Rote Fabriktrat in den Hintergrund zu Gunsten jener nach der Einrichtung ei-nes autonomen Jugendzentrums (AJZ). Ein solches wurde, nach weiteren Unruhen, am 28. Juni unter dem Patronat der Sozialdemokraten eröffnet. Die darauf folgende, wechselvolle Geschichte des AJZ an der Limmatstrasse 18-20 – mit Razzien, De-monstrationen, Straßenschlachten, Räumungen und Wiedereröffnungen – endete im März 1982 mit dem ersatzlosen Abbruch der Liegenschaft.

Zu Ausschreitungen war es 1980 in Schweizer Städten schon vor den Zürcher

»Opernhauskrawallen« vom 30./31. Mai gekommen.1So war etwa der Besuch der

1 Heinz Nigg: Wir wollen alles, und zwar subito! Die Achtziger Jugendunruhen in der Schweiz und ihre Folgen, Zürich 2001, S. 420-463. Vgl. auch die Zeittafeln der Wochenzeitung, http://www.woz.ch/dossier/80er.html.

Britischen Königin aus Anlass der Gartenausstellung Grün 80bei Basel am 1. Mai von Ausschreitungen begleitet. Mit den massiven Zürcher Krawallen kam es aber im ganzen Land – von Lausanne über Bern bis Basel – zu Solidaritätsbe-kundungen mit analogen Forderungen nach und Konflikten um autonome Jugend-zentren.

Die historische Beschäftigung mit den urbanen Konflikten um alternative Kul-tur- und Wohnräume der 1980er Jahre ist mit einer markanten Vielstimmigkeit und Dezentralität ihres Gegenstandes konfrontiert. Die gemachten Vorbemerkun-gen sollten die Situation in Zürich etwas konturieren, um im FolVorbemerkun-genden der hier im Vordergrund stehenden Frage nachzugehen, welche Geschichtsbezüge in Flug-blättern und Videos der frühen Zürcher Achtziger-Bewegung festzustellen sind und welche Funktion diese hatten. Ich vertrete die These, dass diese schwach in-stitutionalisierte und repräsentationskritische Bewegung für ein autonomes Ju-gendzentrum Schwierigkeiten bekundete bzw. kein Interesse daran hatte, ihre so-ziale Kollektivität über explizite Vergangenheitsbezüge zu konstituieren und zu stabilisieren – etwa durch das Anknüpfen an eine Arbeiter/-innen-Geschichte oder an narrative Traditionen nationaler Widerständigkeit wie des mittelalterlichen Tell-Mythos’. Ihre Strategien der Vergemeinschaftung richteten sich an anderen Paradigmen aus; namentlich Räume sowie die visuellen, musikalischen und sprachlichen Ästhetiken von Bewegungsmedien gaben der Bewegung schärfere Konturen und eine stärkere Verfassung denn Einschreibungen in ein bestehendes historisches Narrativ.

Was schlicht D’Bewegighieß, wird meist auf den Zeitraum 1980 bis 1982 festge-legt, in dem zeitweise ein Zürcher AJZ bestand.2Insofern ermöglicht die Lokali-sierbarkeit der Bewegung auch die Bestimmung eines historischen Zeitraums. Al-lerdings verschleiern solche Grenzziehungen starke diskursive, personelle und performative Kontinuitäten in den Jahren zuvor und danach.3Es gab kein homoge-nes Phänomen namens Achtziger-Bewegung, sondern eine große Anzahl von Grup-pierungen und Individuen, mit sowohl diachron wie auch synchron sich wandeln-den Aufmerksamkeitsbereichen. Jugendliche, aber auch »Alt«-Achtundsechziger formten die AJZ-Bewegung, deren Artefakte vornehmlich Flugblätter, Zeitschriften und Videos sind.4Sie dokumentieren die Sensibilität für ein heterogenes Themen-spektrum, das das alternative Milieu ab den 1970er Jahren auszeichnete: neue Wohnformen, Luftverschmutzung, Anti-AKW-Bewegung, Gleichstellung von Frau und Mann etc.5Angesichts polizeilicher und juristischer Maßnahmen gegen die Be-wegung war zudem die Repressions-Thematik sehr präsent.

2 Hanspeter Kriesi: Die Zürcher Bewegung – Bilder, Interaktionen, Zusammenhänge, Frankfurt/Main 1984, S. 7.

3 Vgl. zu den Kontinuitäten zwischen den Bewegungen Thomas Stahel: Wo-wo-wonige! Stadt- und Wohnpoli-tische Bewegungen in Zürich nach 1968, Zürich 2006, S. 324.

4 Die Analyse der Bewegungszeitschriften ist, wie vieles in dem Themenbereich, ein Forschungsdesiderat.

5 Die Artikel in dem von Sven Reichardt und Detlef Siegfried herausgegebenen Sammelband sind hierfür be-redtes Beispiel, vgl. dies. (Hg.): Das alternative Milieu – Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968 – 1983, Göttingen 2010.

Auch wenn hier Zürich im Vordergrund steht, sollte nicht vergessen werden, dass enge Kontakte zwischen den urbanen Milieus der Schweiz bestanden. Außer-dem manifestierte sich etwa auf der Ebene der visuellen und musikalischen Ästhetik oder der politischen Handlungskonzepte eine markante Transnationa-lität. »Subkulturen« angelsächsischer Prägung (Punk, Freaks) wurden genauso re-zipiert wie die kreativen Protestpraktiken der italienischen Indiani Metropolitani der späten 1970er Jahre;6im AJZ engagierten sich viele »Zweit-Generation-Italie-ner«.7Die AJZ-Arbeitsgruppe »Übersetzig« bot schon früh im Sommer 1980 ihre Dienste an, deutsche Texte ins Französische und Italienische zu übersetzen.8Dass nicht nur die Schweiz Feld der Netzwerkbildung war, zeigt sich auch an Videoak-tivisten/-innen, die sich nach Deutschland orientierten, etwa zur Medienwerkstatt Freiburg (gegründet 1977) oder zum Medienpädagogik Zentrum in Hamburg (m.

p. z., 1973/74). Die filmische Theorie und Praxis war zudem stark beeinflusst von US-amerikanischen und britischen Vorbildern.9

Historische Bezüge

Die Zürcher Jugendhaus-Problematik

Anlass für den Opernhauskrawall war der Streit um die Nutzung der Roten Fabrik und um die Verteilung von Kulturgeldern. Allgemeiner besehen ging es um Tole-ranz und Wertschätzung einer als »neu« begriffenen Kultur und Lebensweise. Sie orientierte sich vornehmlich an der countercultureder 1960er und 1970er Jahre.

Es waren überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene, die sie als kreative Ausdrucksmöglichkeit verstanden. Symbolisch verdichtet wurde der Mangel an hierfür geeigneten Räumen im Wunsch nach einem »autonomen« Jugendhaus.

Bemerkenswert ist, dass die Geschichte der Zürcher Jugendhäuser gänzlich auf das Fehlen eines solchen »autonomen« Raumes gedeutet wurde, und zwar bis in die Gründungsjahre des Vereins Zürcher Jugendhausum 1950. Dessen Bemühun-gen zielten jedoch nie auf einen autonomen Betrieb ab.10Die Darstellungen der Bewegig entfalteten trotzdem häufig eine Chronik der jahrzehntelangen Entbeh-rung und (Ent-)Täuschung auf Grund einer VerzögeEntbeh-rungstaktik seitens der Regie-rung: »Dass am letzten maiwochenende unsere liebliche heimatstadt heisslief und je länger je mehr zu brodeln beginnt, ist auch folge der jämmerlichen kulturpolitik der stadtbehörden. Seit der ersten jugendoffensive 1949, und das ist ein nackter

6 Maurizio Torealta: »Painted politics«, in: Sylvère Lotringer/Christian Marazzi (Hg.): Autonomia – Post-Poli-tical Politics, Los Angeles 2007, S. 102-106 (Originalausgabe New York, 1980).

7 Nigg, 2001, S. 42.

8 Flugblatt »AG Übersetzig«, 1980 (Ar 201.89.7). Alle »Ar«- sowie »Vid V«-Signaturen beziehen sich auf Be-stände des Schweizerischen Sozialarchivs, Zürich.

9 Zur dortigen Entwicklung konsultiere man Heinz Nigg und Graham Wade: Community Media – Community communication in the UK: Video, Local TV, Film, and Photography, Zürich 1980, insbesondere S. 6-32.

10 Thomas Kunz: Das Zürcher Jugendhaus Drahtschmidli, Zürich 1993, S. 62 f.

fact, gibt es in zürich noch immer kein jugendhaus (weitere forderungen nach ei-nem jugendhaus folgten ‘53, ‘68, ‘71 – bunker –, ‘72 – drahtschmidli –, ‘74 – he-gibach –, ‘78 – schigu –, heute ...) nicht einmal ein echtes kulturzentrum besteht, obschon dies sogar durch eine abstimmung klar gefordert wurde.«11

Von der »jugendoffensive« 1949 wurde eine direkte Linie zu 1968 und den ge-scheiterten Projekten der 1970er Jahre gezogen. Die frühen Offensiven hatten al-lerdings pädagogisch-sittliche Motive, die mit den nonkonformistischen Frei-raum-Forderungen ab 1968 wenig gemein hatten. Die Darstellungen zielten jedoch auf ein Narrativ jahrzehntelanger, systematischer Verweigerung ab, die Bedürfnisse der Jugend ernstzunehmen, zwar unter verschiedenen »Vorwänden«, aber mit gleichbleibendem »Hauptgrund«: »DAMIT DIE HERRSCHENDE KLASSE DIE MACHT HALTEN KANN, MUSS SIE TEILEN, TRENNEN, SPALTEN, ISOLIEREN. JEGLICHES FÜR SIE GEFÄHRLICHE ZUSAM-MENKOMMEN UND WEITERGEHEN MUSS ERSTICKT WERDEN; AM EINFACHSTEN, INDEM SIE DIE TREFFPUNKTE DER BEWEGUNG SCHNAPPT.«12

Die Anknüpfung an den Klassendiskurs ist hier insofern bemerkenswert, als dass er ansonsten selten anzutreffen ist; politische Vereinnahmungsversuche durch sozialistische Splittergruppen wurden dezidiert abgelehnt.13Die frühsten Bemühungen um ein Jugendhaus werden in dem Flugblatt konsequent als »linkes«

Anliegen dargestellt. Zudem wurden die Akteure durchgehend verjüngt, ein »Ju-gendverband« und die jungen Sozialdemokraten treten darin als einzige Akteure namentlich auf, obschon sich die Geschichte, wie gesagt, komplexer ausnimmt:

11 Flugblatt »grossDemonstration Aller unzufriedenen, 21. Juni 80« (Ar 201.209.6). Mit der Abstimmung war die angenommene Initiative zur soziokulturellen Umnutzung der Roten Fabrik 1977 gemeint. Ich halte mich so weit wie möglich an die Schreibweisen der Quellen.

12 Flugblatt der RAR »AJZ JETZT! (BEVOR’S SOWIESO ZSPAAT ISCH![)]«, Mai 1980 (Ar 201.89.7).

13 In den Quellen wird die Skepsis gegenüber »Organisation«, »Struktur« und verwandten Begriffen immer wie-der deutlich, vgl. Tell – extrablatt, 20. Juni 1980 (Ar 201.209.6). Die 68er-Bewegung brachte ein neues linkes Politspektrum hervor, das grob in zwei Tendenzen aufgeteilt werden kann. Während die eine Tendenz Institu-tionen gegenüber skeptisch bis ablehnend war (Spontis), formierten sich auch revolutionär ausgerichtete Or-ganisationen (Revolutionärer Aufbau Zürich; Gruppo Galli u. a.). Es gab in der Schweiz aber vor allem auch neue Linksparteien mit parlamentarischen Ambitionen. Zu Letzteren gehörten in der Deutschschweiz die

»Progressiven Organisationen Schweiz« (POCH, 1969–1993). Ihre lokalen Organisationseinheiten gingen ge-gen Ende der Achtziger Jahre zunehmend in der Grünen Partei auf. Ähnlich erging es der in der Welsch-schweiz gegründeten trotzkistischen »Revolutionäre Marxistische Liga/Sozialistische Arbeiterpartei« (RML/

SAP, 1969–1991). Die maoistische ‚Kommunistische Partei der Schweiz/Marxisten-Leninisten« (KPS/ML, 1969–1987) nahm mit ihren militaristischen und dezidiert anti-sowjetischen Positionen, die sich mit bürgerli-chen Parteien deckten, eine Sonderrolle im Politspektrum ein. Gemeinsam ist diesen Gruppierungen, dass ihnen kein oder kaum parlamentarisches Gewicht zukam und sie spätestens meist schon ab Mitte der 1970er Jahre an Anziehungskraft verloren. Die Neue Linke ist in der Schweiz, gerade im Vergleich mit Deutschland, wenig erforscht. Als Übersicht empfiehlt sich nach wie vor die Einleitung zur Quellensammlung der Arbeits-gruppe für die Geschichte der Arbeiterbewegung Zürich (Hg.): Schweizerische Arbeiterbewegung – Ergän-zungsband 1968–79, Zürich 1980, S. 386-407. Im Lichte der Formierung der Grünen erhält man auch eine Übersicht im Aufsatz von Werner Seitz: »›Melonengrüne‹ und ›Gurkengrüne‹ – Die Geschichte der Grünen in der Schweiz», in: ders./Baer, Matthias (Hg.): Die Grünen in der Schweiz: Ihre Politik, ihre Geschichte, ihre Basis, Zürich/Chur 2008, S. 15-37.

»SCHON VOR 51 JAHREN HABEN SIE EIN JUGENDHAUS VERLANGT:

1929 DER JUGENDVERBAND, 1945 GAB ES EINE INTERPELLATION IM GEMEINDERAT, DANN AM 1. MAI 1949 HAT DIE SP-JUGEND EINES GE-FORDERT. ENDLICH GAB ES 1959 IM ›DRAHTSCHMIDLI‹ EIN PROVISO-RIUM.«14

Ein undatiertes Flugblatt macht die argumentative Motivation explizit, die die-sen Darstellungen eines vergeblichen, Jahrzehnte dauernden Bemühens um ein Jugendhaus innewohne: »Was momentan im provinzlerischen Zürich durch rechts-kräfte [sic] exerziert wird, die über dreissig Jahre lang das direkte Gespräch be-streikt haben, ist die Produktion von Terroristen und die Verheizung der kreativen Kräfte einer ganzen Generation.«15

Die aktuelle Frustration und das vorhandene Gewaltpotential wurden direkt auf eine historische Kontinuität bürgerlicher Verweigerung zurückgeführt, sich der Anliegen der jungen Generation anzunehmen. Solche chronikartigen Darstellun-gen – AuflistunDarstellun-gen von Jahreszahlen und gescheiterten JuDarstellun-gendhausprojekten – vi-sualisierten geradezu die Hartnäckigkeit der behördlichen Verweigerungshaltung gegenüber den Forderungen. Derartige basalen Bezugnahmen auf die Vergangen-heit in Form des Auflistens von Ereignissen finden sich häufig auch im Zusam-menhang mit Konflikten rund um Bauprojekte und Hausbesetzungen.16Die Dar-stellungsweise gewährte Nichtbeteiligten oder Sympathisierenden eine Übersicht über die Akteure, den zeitlichen Rahmen sowie den Gegenstand eines Streits.

Durch das Verdichten (und Selektieren) von »Daten und Fakten« unterstreichen Chroniken Kontinuitäten, indem sie den Eindruck kausal-linearer Entwicklungen erwecken. Unerwähnt blieb in diesem Fall meist der Umstand, dass die Zürcher Jugendhaus-Frage historisch besehen kein exklusiv »linkes« Anliegen war und dass der Diskurs einer nonkonformistisch und antiautoritär interpretierten Auto-nomie erst ab den späten 1960er Jahren aufkam.17

Tränengas, Holocaust und Stadtpolizei

Dass der Kampf für ein autonomes Jugendzentrum durchaus buchstäblich zu ver-stehen ist, wurde eingangs schon angedeutet. Den polizeilichen Mitteln in diesem Kampf wurde, wie schon 1968 und die gesamten 1980er Jahre hindurch, erhöhte Aufmerksamkeit zuteil, unter dem Vorzeichen, insbesondere Tränengas- und Gummigeschosseinsätze zu delegitimieren. Den Höhepunkt suchten

entspre-14 Flugblatt »AJZ JETZT! (BEVOR’S SOWIESO ZSPAAT ISCH![)]«, Mai 1980 (Ar 201.89.7). Originalzitat in Dialekt. Mit »Jugendverband« ist wahrscheinlich die Vereinigung Ferien und Freizeit (VFF) gemeint, ein 1925 gegründeter Zürcher Dachverband (Ar 89).

15 Flugblatt »Gutschein für 1 Mal Nachdenken [...]«, 1980 oder 1981 (Ar 201.209.6).

16 Bspw. enthielten Besetzer-Videos Übersichten dessen, was bislang geschah‚ wie z. B. Anarchie und Disney-land, CH 1982, Produktion: Bewohner/-innen der Universitätsstr. 89 (Zürich), 70 Min. Zur Thematik Woh-nungsnot vgl. Stahel, S. 319-361.

17 Kunz, 1993, S. 167.

chende Darstellungen immer wieder über ethisch fragwürdige Anspielungen im Sinne des »Vergasens«, die mehr oder weniger explizit auf die nationalsozialisti-schen Gaskammern referierten: »Auch lieberherr (im himmel als auf erden) und sigmund (freud-los) widmer, unsere stadteltern, versuchen vergeblich, uns mit ih-rer schweizerkäse-jugendpolitik zu vergasen (holohössl).«18Referenzen auf die nationalsozialistische Epoche in Deutschland tauchen in der AJZ-Bewegung mit großer Regelmäßigkeit auf, so auch im folgenden Flugblatttext, in dem die Unbe-fangenheit der Behörden in disziplinarischen Verfahren gegen Polizeibeamte angezweifelt wurde: »Anfang der dreissiger Jahre hat das deutsche Volk die Kon-trolle über seine Schmier [Polizei] verloren. Soll sich 50 Jahre später die Ge-schichte wiederholen? Wer glaubt denn noch, dass sich die Polizei selber untersu-chen könnte? Stichworte: Zahltagsdieb Hubatka, Folterungen im Globuskeller, Beinahemörder BA [Bezirksanwalt] Ramer.«19

Assoziative oder metaphorische Bezugnahmen auf Nationalsozialismus und Holocaust markierten die moralische Überlegenheit der »Opfer« (Bewegig) ge-genüber den »Tätern« (Polizei, Staatsanwaltschaft, Stadtregierung). Diskursiv schrieb man sich in eine historische Kontinuität staatlicher Repression und Be-nachteiligung von Minderheiten und Untertanen ein; auch gelegentliche Bezüge auf Kolonialherrschaften gehören hier erwähnt. Die strukturelle Genealogie, die mit solchen weit hergeholten Geschichtsbezügen behauptet wurde, ist insofern in-teressant, als dass sie die grundsätzliche Möglichkeit zu Typisierung und Funktio-nalisierung von historischem Wissen anzeigt. Solche moralisch stark befrachteten Bezüge wurden vor allem dann gemacht, wenn die politische Legitimität illegaler Handlungen (insbesondere Gewaltanwendung gegen Dinge und Personen) evi-dent gemacht werden sollte.20Intern – sofern man von einem Innen der Bewegig sprechen kann – wirkte dieser Diskurs von »Gut« und »Böse« stabilisierend auf die Gruppe, schuf ein Außen und Innen auf ethischer Ebene. Inwiefern derart schweres rhetorisches Geschütz vor allem im Nachgang zu physischen Gewalt-exzessen bei Räumungen und Demonstrationen aufgefahren wurde, ist eine Frage, die noch zu untersuchen wäre.21Verständnis oder Differenzierung hinsichtlich des Verhaltens und Vorgehens der Polizei ist in den Bewegungsmedien kaum

auszu-18 Flugblatt »grossDemonstration Aller unzufriedenen, 21. Juni 80« (Ar 201.209.6). Das »Vergasen« der Jugend durch die Stadtregierung ist auch zu finden im bereits erwähnten Flugblatt »AJZ JETZT! (BEVOR’S SOWIESO ZSPAAT ISCH![)]«, Mai 1980 (Ar 201.89.7). Der genaue Wortsinn von »holohössl« (eher eine Spontanbildung denn ein Slangbegriff) hat sich mir nicht erschlossen, die Anspielung auf den Holocaust liegt aber m. E. auf der Hand; zudem könnte es eine Anspielung auf den Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, darstellen, um die metaphorische Drastik noch zu verstärken.

19 Flugblatt »Gutschein für 1.Mal Nachdenken [...]«, 1980 oder 1981 (Ar 201.209.6). Die angeführten Beispiele spielen auf eine Reihe von Skandalen an, die ab Mitte der 1960er Jahre wesentlich zur Politisierung der Stu-dentenschaft beitrug, siehe: Paul Bösch: Meier 19 – Eine unbewältigte Polizei- und Justizaffäre, Zürich 1997.

20 Das Problem der zulässigen Mittel des Protestes und des Widerstandes ist alles andere als eine Besonderheit (post)moderner Protestbewegungen; historisch stellte sich die Frage nach der Legitimität von Gewalt gegen eine Herrschaft immer wieder, angefangen beim antiken Tyrannenmord.

21 Diese Tendenz zeichnete sich bspw. in Basler Quellen ab, nach den Räumungen der Kulturraumbesetzungen Alte Stadtgärtnerei 1988 bzw. Union 1989 (Ar 201.112.2).

machen. Vielmehr wurde die Polizei nach dem Zürcher Opernhauskrawall 1980, durch Skandale vorbelastet seit den 1960er Jahren, zur eigentlichen Figur des Bö-sen. Dem diskursiven Muster entsprechend wurde der Kommandant der Zürcher Stadtpolizei (Stapo) als »Chef der (Ge-)Stapo« betitelt, wodurch auch ein direkter Bezug zum mehrdeutigen Titel des entsprechenden Flugblattes, nämlich »Liqui-dationsposten«, hergestellt war.22Holocaust und Nationalsozialismus dienten in erster Linie als drastische Parabeln für Gewalterfahrungen und Feindbildmarkie-rungen, allerdings nicht aufgrund historischer Analysen, sondern eher als Sym-ptome dessen, was James Young als diskursive Archetypisierung des Holocaust beschrieb.231968 kam der Bezugnahme auf den Nationalsozialismus und den Fa-schismus eine etwas anders gelagerte Funktion zu. Auch wenn jene historische Epoche in der Schweiz nicht dieselbe Brisanz besaß wie in Deutschland, war sie jedoch auch hier eine wichtige Referenz in Zusammenhang mit antifaschistischen Gesellschaftstheorien und -kritiken.24

1968 und Neue Soziale Bewegungen

Achtundsechzig und die Folgejahre dürfen als die konkretesten »historischen«

Bezüge der AJZ-Bewegung gelten. Der Kontext des Globuskrawalls 1968 war, wie der Opernhauskrawall zwölf Jahre später, ebenfalls die Forderung nach einem autonomen Jugendzentrum, einzurichten in einem leerstehenden Provisorium des Globus-Kaufhauses.25Es besteht also ein anschaulicher Bezug zwischen den bei-den Gewaltausbrüchen, worin sich andeutet, dass es sich nicht um bloße Ausnah-mefälle handelte, sondern um eruptive Momente eines anhaltenden Unbehagens des links-alternativen Milieus in einer seit den 1950er Jahren bürgerlich dominier-ten Stadt.26Die Wahrnehmung einer kontinuierlichen »Leidensgeschichte« bezüg-lich des autonomen Jugendzentrums war eng an diese Chiffre geknüpft: »Die Idee

22 »Liquidieren« war ein nationalsozialistischer Euphemismus für töten/hinrichten, vgl. Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2000, S. 389. Das Flugblatt bestand aus einem Namens-verzeichnis von Polizeibeamten inklusive Adressen und Telefonnummern (Ar 201.209.6).

23 Vgl. James Young: Beschreiben des Holocaust, Frankfurt/Main 1997, S. 164-178.

24 Die Historikerin Christina Späti macht für 1968 vor allem das Militär, Bildungseinrichtungen sowie »Konti-nuitäten bei Personen« als konkrete Zielscheiben des Faschismusvorwurfes aus, vgl. Christina Späti: »1968 in der Schweiz: Zwischen Revolte und Reform«, in: Damir Skenderovic/dies. (Hg.): 1968 – Revolution und Ge-genrevolution: Neue Linke und Neue Rechte in Frankreich, der BRD und der Schweiz, Basel 2008, S. 51-66;

vgl. insbesondere S. 60 f. zur Funktion der Faschismuskritik in der Schweiz. Zwölf Jahre später standen Ar-mee, Universitäten und Schulen nicht mehr so zentral in der Kritik. Wie sich dieser antifaschistische Diskurs in den 1970er Jahren weiter entwickelte und ob er gegen Ende des Jahrzehnts mit einer zunehmenden Auf-merksamkeit für den Holocaust ergänzt wurde, ist eine offene Forschungsfrage.

25 Zur einführenden Lektüre empfiehlt sich, nebst dem oben erwähnten Artikel von Späti, die Publikation mit Quellenedition von Angelika Linke und Joachim Scharloth (Hg.): Der Zürcher Sommer 1968 – Zwischen Krawall, Utopie und Bürgersinn, Zürich 2008.

26 Zürich galt 1928 bis 1949 als »rote« Stadt mit einer sozialdemokratischen Mehrheit bis 1938 im Gemeinderat und bis 1949 im Stadtrat. Mit dem Wirtschaftsboom und der Verschärfung des Ost-West-Konfliktes verscho-ben sich die Gewichte hin zu bürgerlichen Parteien, insbesondere der FDP (Freisinnig-Demokratische Partei der Schweiz).

war ursprünglich, die Aktivitäten von der Strasse her zu entwickeln und die be-rechtigten Forderungen nach einem autonomen Jugendzentrum durchzusetzen.

Am Anfang hatten die Leute auch die Power [...]. Der Widerstand aus dem Bür-gertum war gross: Viele haben sich wieder abgewandt und sind bürgerlich gewor-den, andere flüchteten aufs Land. Trotzdem sind aber noch welche geblieben, die den Kampf mit sich selber und der Gesellschaft fortführen. Was jetzt wichtig ist,

Am Anfang hatten die Leute auch die Power [...]. Der Widerstand aus dem Bür-gertum war gross: Viele haben sich wieder abgewandt und sind bürgerlich gewor-den, andere flüchteten aufs Land. Trotzdem sind aber noch welche geblieben, die den Kampf mit sich selber und der Gesellschaft fortführen. Was jetzt wichtig ist,

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