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Geopolitische Potenziale: eine Auswahl

3. Forschungsdesign

3.2. Geopolitische Potenziale: eine Auswahl

Die theoretisch-konzeptionelle Grundlage dieses Buches fußt auf Annahmen der Geopolitikforschung und bedient geopolitische Faktoren, die im Folgen-den ‚Potenziale‘35 genannt werden und denen bei der Herausbildung von strategischen Partnerschaften eine zentrale Rolle zugeschrieben wird. Es wird hier weder mit klassischen (realistischen) Ansätzen noch in einer rein post-modernen Tradition gearbeitet. Stattdessen bildet ein auf der Basis der Fran-zösischen Schule (Guyla Csurgai 2009; Patrice Gourdin 2015) und der Meta-geopolitics (Nayef Al-Rodhan 2009) entstandenes multidimensionales geopo-litisches Forschungskonzept36 den Forschungsansatz für diese Studie, ausge-hend davon, dass „the complexity of today’s world requires us to take an all-encompassing approach to geopolitics. A spatial analysis of international relations has to consider a number of unevenly distributed resources, or ‚ca-pacities‘, to demonstrate the highly complex strategic relationships between states“ (Al-Rodhan: 51). Es vereint klassische und postmoderne geopolitische Traditionen in einem faktorenzentrierten Modell, das Globalisierung als Rahmenbedingung hervorhebt, den Staat als zentralen Akteur in der Außen-politik betrachtet und historische Erfahrungen als zusätzlichen Faktor stärker in den Vordergrund rückt. Die von den theoretischen Schulen definierten geopolitischen Faktoren fasst die untenstehende Tabelle zusammen:

35 Die begünstigende Wirkung dieser Faktoren wird zunächst nur angenommen und ist somit lediglich potenziell. Erst durch die Anwendung der analytischen Methode, welche in den nächsten Abschnitten vorgestellt wird, soll der Bedeutungsgrad des jeweiligen Potenzials untersucht werden.

36 Die theoretischen Kontroversen wurden bereits im State of the Art dieser Arbeit dargelegt und haben den Schluss zugelassen, dass die Französische Schule und die Meta-geopolitics mit einigen notwendigen Ergänzungen den am besten geeigneten Ansatz darstellen.

Abbildung 1: Auflistung geopolitischer Potenziale den Faktoren, die in den beiden geopolitischen Forschungsansätzen behandelt werden. Um dem Problem von zu vielen Variablen und wenigen Fallbeispie-len jetzt schon vorzubeugen, ist es sinnvoll, ähnliche Potenziale bereits an dieser Stelle in einem Potenzial zu vereinen, wie Lijphart (1971: 687) das empfiehlt. Sowohl im ersten als auch im zweiten Ansatz kommen geografi-sche und demografigeografi-sche Zusammensetzung, Wirtschaft und natürliche

Res-37 Damit meint Csurgai „a boundary line that forms the limits of the territory of a state”

(Csurgai 2009: 69). Das kann sowohl die politische Grenzlinie zwischen zwei oder mehre-ren Staaten sein als auch auf kulturelle oder religiöse Gmehre-renzgebiete hinweisen. Diese Kate-gorie sei geopolitisch besonders dann wichtig, wenn „borders do not coincide spatially with geographic limits of populations“, was in Grenzkonflikten resultieren könne (ebd.). Im Prinzip ist die Kategorie „Grenzen“ also Teil der allgemeinen geografischen Dimension un-ter stärkerer Berücksichtigung des politisch-ethnischen Bias. Da Csurgai gleichzeitig darauf hinweist, dass die geografische Dimension „should be considered not only in its physical sense, but in terms of demographic, cultural and economic aspects as well“ (ebd.: 60), was auch die Untersuchung von Grenzsituation unter dieser Kategorie erlaubt, kann auf die se-parate Abhandlung der Kategorie „Grenzen“ verzichtet werden.

sourcen sowie identitätsbedingte Faktoren, wie Perzeptionen und messiani-sche Tendenzen, vor. Der Sozial- und Gesundheitsfaktor bei Al-Rodhan ist vergleichbar mit dem sozioökonomischen Faktor bei Csurgai38. Davon abge-leitet, können zunächst vier Potenziale definiert werden: Geografie, Wirt-schaft und Ressourcen, sozioökonomische Situation, Identitäten und Perzep-tionen der zu untersuchenden Länder. Dazu kommen die übrigen, für die Untersuchung relevanten Faktoren historische Erfahrungen, innenpolitische Situation, Wissenschafts- und Humanpotenzial, Militär- und Sicherheitspoli-tik und internationale Diplomatie. Diese Faktorenauswahl korrespondiert mit den von John Stoessinger (1973: 28-34) formulierten „sources of power“

(Geografie, Bevölkerung, Regierung, Perzeptionen) eines Staates sowie mit den bei Legg/Morrison (1971: 140-150) genannten „sources of foreign policy objectives“ (Sicherheit, ökonomische Bedürfnisse, Innenpolitik, Kultur, Psy-chologie und Ideologie). Diese Überschneidung erscheint plausibel, denn Geopolitik als räumliche Dimension von internationalen Dynamiken (Al-Rodhan 2009: 31) ähnelt in unserem Fall „foreign policy objectives“ und

„sources of power“– mit dem Unterschied, dass Geopolitik die außenpoliti-schen Interessen räumlich definiert und gleichzeitig als außenpolitisches Werkzeug eines Staates verstanden wird, mit dem dieser seine Interessen verfolgt und seine Präsenz in einem Land oder einer Region ausbaut. Wäh-rend die „sources of foreign policy objectives“ auf Faktoren verweisen, die außenpolitische Ziele bedingen, suggerieren die geopolitischen Potenziale eine Verbindung zwischen diesen Zielen und der Auswahl der für ihre Um-setzung wichtigen Länder und Regionen.

Nachdem die Auswahl der Potenziale gemacht wurde, empfiehlt es sich zwecks Plausibilität und Strukturierbarkeit der Analyse eine systematische Verknüpfung zwischen den gewählten Faktoren und dem theoretischen Kon-zept herzustellen. Die Auswahl muss nicht nur den geopolitischen KonKon-zepten der Französischen Schule und der Meta-geopolitics folgen, sondern auch an die drei vordefinierten Rahmenbedingungen anknüpfen, nämlich Globalisie-rung, Staat als außenpolitischer Hauptakteur und die Rolle historischer Erfah-rungen. Sie stellen drei geopolitische Einflussebenen dar – globale, nationale und bilaterale – die zusammen die geopolitische Bedeutung und das

geopoli-38 Der Sozial- und Gesundheitsfaktor bei Al-Rodhan bezieht sich auf die demografische Situation in der Bevölkerung, den Grad der sozialen Kohärenz oder Ungleichheit in der Ge-sellschaft sowie ihren Gesundheitszustand (ebd.: 56-61). Csurgai betont in diesem Zusam-menhang die Analyse von sozialen und ökonomischen Disparitäten zwischen verschiedenen Regionen eines Staates und den daraus folgenden sozialen Spannungen und Konflikten so-wie der demografischen Situation (ebd.: 75-77). Da jedoch der Gesundheitszustand der Be-völkerung die demografische Situation und somit das Humanpotenzial beeinflusst, werden diese drei Aspekte unter dem Faktor ‚Wissenschafts- und Humanpotenzial‘ zusammenge-fasst. Der sozioökonomische Faktor umfasst die ökonomischen Disparitäten und die Verän-derungen von sozialen Strukturen.

tische Interesse eines Staates bedingen. Ausgehend von diesen Prämissen werden folgende Gruppen von Potenzialen auf drei Einflussebenen gebildet:

Globale Potenziale:

Geografie39: Lage, Größe, Bevölkerung, Entfernung von wichtigen geografi-schen Zonen, maritime Kommunikationswege

Wirtschaft und Ressourcen40: Wirtschaftliches Potenzial, Platz in der Weltwirtschaft, wesentliche Produktionsbranchen, natürliche Ressourcen, ökonomische Bedürfnisse

Internationale Diplomatie41: regionale und internationale politische Positi-on, Allianzpolitik, Mitgliedschaft und Einflussnahme in internationalen Insti-tutionen, diplomatische Erfolge

Militär- und Sicherheitspolitik42: sicherheitspolitische Herausforderungen und Probleme, Vorstellungen von ‚Freunden‘ und ‚Feinden‘ im internationa-len System, sicherheitspolitische Bedürfnisse

Nationale Potenziale:

Innenpolitische Situation: Regierungsform und ihre Besonderheiten, Grad der politischen Stabilität und des Konsensus, innenpolitische Bedürfnisse Sozioökonomische Situation: Veränderungen von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnissen, soziale Probleme, Konflikte Wissenschafts- und Humanpotenzial: Konkurrenzfähigkeit durch das

intel-39 Csurgai spricht zwar vom Faktor der physischen Geografie, sagt aber an einer anderen Stelle, dass „geographical dimension (…) should be considered not only in its physical sense, but in terms of demographic, cultural and economic aspects as well” (ebd.: 50). Aus diesem Grund und um sich auch empirisch vom geografischen Determinismus zu entfernen, wird hier statt ‚physische Geografie‘ einfach die Kategorie ‚Geografie‘ verwendet, die die kulturellen Aspekte miteinschließt. Diese Kategorie gehört der globalen Einflussebene an, weil in dieser Arbeit, wie bereits in Abschnitt 4 des State of the Art gezeigt wurde, davon ausgegangen wird, dass die geografische Entfernung mit dem Fortschreiten der Globalisie-rungsprozesse ihre Bedeutung verloren hat und somit das geopolitische Interesse sich auch auf weit entfernte Regionen erstrecken kann.

40 Die Platzierung dieses Faktors auf der globale Ebene beruht auf der Annahme, dass die nationalen wirtschaftlichen Prozesse nicht von globalen Dynamiken losgelöst werden kön-nen, und dass spätestens seit Mitte der 1980er Jahre neue Wachstumszentren in Asien und Lateinamerika entstanden sind, die zunehmende weltökonomische- und politische Bedeu-tung erlangt haben (Vgl. Koch 2014: 17).

41 Genauso wie die Wirtschaftspolitik an globale Prozesse gebunden ist, finden internationale Politik und Diplomatie in all ihren Ausprägungen (Allianzen, Bündnismitgliedschaften usw.) im globalisierten Kontext statt und werden als geopolitischer Faktor der Einflussebe-ne ‚Globalisierung‘ zugeteilt.

42 Hierbei handelt es sich um den globalen (sicherheits-)politischen Kontext, der die Heraus-bildung von bestimmten geopolitischen Interessen beeinflusst. Deswegen wird dieses geo-politische Potenzial auch der Ebene ‚Globalisierung‘ zugeordnet.

lektuelle und technologische Kapital, menschliche Entwicklung

Identitäten und Perzeptionen: Selbstwahrnehmung, Sicht auf den realen und gebührenden eigenen Platz im internationalen System

Bilaterale Potenziale:

Historische Erfahrungen43: Vorgeschichte der bilateralen Beziehungen zwischen zwei oder mehreren territorialen Einheiten, d.h. Staaten

Anhand dieser geopolitischen Potenziale wird in diesem Buch eine Analyse von Faktoren durchgeführt, die die Etablierung von strategischen Partner-schaften zwischen Russland und Lateinamerika im 21. Jahrhundert begüns-tigt haben. Die zentrale Annahme lautet, dass für das Entstehen von soge-nannten strategischen Partnerschaften als Ausdruck von privilegierten zwi-schenstaatlichen Beziehungen strategische Interessen entscheidend sind, die sich aus geopolitischen Potenzialen ergeben. Sie entspringt dem Wesen einer strategischen Partnerschaft, die als eine privilegierte und besonders intensive Form der bilateralen Beziehung nicht auf einem Faktor basieren kann, son-dern ihre Entstehung eine breite Interessenbasis erfordert, die auf mehrere Faktoren zurückgeht. Zugleich wird angenommen, dass nicht alle geopoliti-schen Potenziale im gleichen Maße dafür verantwortlich sind, dass eine stra-tegische Partnerschaft entsteht, sondern, dass es Faktoren mit größerer und geringer Bedeutung gibt.

Wenn z.B. Globalisierung als Rahmenbedingung für internationale Ent-wicklungen postuliert wird44, führt das zu der Annahme, dass die auf dieser Einflussebene platzierten Faktoren in ihrer Bedeutung alle anderen Ebenen übertreffen.45 Doch wird zugleich der Staat in dieser Studie zur wesentlichen Einheit im räumlichen internationalen System erklärt46, was in einem Wider-spruch zur ersten These zu stehen scheint, zumal nahelegt wird, dass der Staat derjenige ist, der die internationalen Ereignisse bestimmt. Dies führt zu der Annahme, dass nationale Potenziale bei der Entstehung von strategischen Partnerschaften zwar eine Bedeutung haben, die jedoch im Gegensatz zur globalen Ebene nicht ausschlaggebend ist. Denkbar wäre auch eine

entschei-43 Da die hier thematisierten historischen Erfahrungen sich weder auf die nationale Geschichte noch die internationale Dimension, sondern auf die Geschichte der zwischenstaatlichen Be-ziehungen beziehen, werden sie als die separate Einflussebene ‚bilaterale Potenziale‘ the-matisiert. Darin werden die sich aus der historischen Interaktion zwischen den Untersu-chungsländern ergebenden potenzierenden Elemente für die strategische Partnerschaft un-tersucht.

44 S. Kapitel 2.3.4.

45 Basierend auf Hinweisen aus dem Archivmaterial sowie den Aussagen der interviewten Personen zur Rolle der Geografie, Wirtschaft, internationaler Diplomatie sowie Militär- und Sicherheitspolitik.

46 S. Kapitel 2.3.4.

dende Einflussnahme von je einem Faktor auf globaler und nationaler Ebene, beispielweise der wirtschaftlichen Potenziale, welche ein zentrales Element der globalen Interdependenzen darstellen, sowie ideeller außenpolitischer Kompatibilität, die sich aus den Identitäten und Perzeptionen des jeweiligen Staates auf nationaler Ebene ergibt.

Wie im zweiten Kapitel dargelegt wurde, bleiben Staaten im Globalisie-rungsprozess als handelnde Instanz zentral, was nicht heißen muss, dass sie von äußeren Bedingungen unabhängig sind. Der Staat ist ein Handlungssub-jekt, dessen Aktionen von globalen und nationalen Bedingungen gesteuert werden. Im Hinblick auf die historischen Erfahrungen würde das bedeuten, dass diese allein nicht relevant sind, sondern je nach globalen Bedingungen und der nationalen Strategie bedient werden.

Ob sich diese Annahmen im Falle der russisch-lateinamerikanischen stra-tegischen Partnerschaften bestätigen, wird sich erst nach der Durchführung einer qualitativen empirischen Untersuchung sagen lassen. Die qualitative Vorgehensweise wurde bewusst gewählt, um so eine deduktive, auf umfas-sender inhaltlicher Analyse und bewusster Fallauswahl basierende Untersu-chung der Zusammenhänge zwischen geopolitischen Potenzialen und strate-gischen Partnerschaften zwischen Russland und ausgewählten Ländern La-teinamerikas gewährleisten zu können.