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3. Forschungsdesign

3.1. Fallauswahl

Die Auswahl Russlands und Lateinamerikas geht auf die international zu-nehmende Relevanz dieses außenpolitischen Verhältnisses zurück, die insbe-sondere nach 2010 auf beiden Seiten immer wieder beteuert wird.28 Bemer-kenswert ist auch, dass Russland heute im Gegensatz zu früheren Zeiten, diplomatische Beziehungen zu allen 33 unabhängigen Staaten Lateinamerikas pflegt (Jakowlew 2015). Umgekehrt heißt es, dass noch nie zuvor so viele Staaten in Lateinamerika bilaterale Partnerschaft mit Russland unterhielten.

Diese auffällige Entwicklung in der internationalen Politik ist bis jetzt nicht umfassend in einer wissenschaftlichen Arbeit behandelt worden. Gleichzeitig führt eine Untersuchung von strategischen Partnerschaften zwischen Russ-land und lateinamerikanischen Staaten neue Elemente in die Forschung über strategische Partnerschaften ein und trägt den sich verändernden globalen politischen Verhältnissen Rechnung.

Damit wird zugleich ein Beitrag zur Forschung über die russische geopo-litische Strategie geleistet29, die in der Außenpolitik Russlands eine promi-nente Stellung einnimmt.30 Die Frage, ob und inwieweit das geopolitische Denken in der russischen Politik, das in erster Linie auf die Stärkung einer multipolaren Weltordnung mit Russland als einem der Pole abzielt, auf die

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30 Geopolitik spielt im russischen außenpolitischen Konzept eine prominente Rolle, zumal das Land sich als eine „Großmacht, zwar ohne Sendungsbewusstsein, aber mit handfesten Interessen“ (Schneider-Deters/Schulze/Timmermann 2005: 112) definiert und laut Dmitri Trenin (2014: 38) darauf abzielt „to create a bloc of countries in the center of Eurasia that can enhance its economic weight and geopolitical reach“, damit es sich als ein weltpoliti-scher Pol etabliert. Die russische Geopolitik strebt seit Ende der 1990er Jahre die Verände-rung von weltpolitischen räumlichen Verhältnissen durch den Aufbau und die Stärkung ei-ner multipolaren Welt an.

Beziehungen zu Lateinamerika einwirkt, eröffnet gleichermaßen neue Ein-sichten für die Russland- wie für die Geopolitikforschung.

Die räumliche Dimension spielt aufgrund der Nähe zu den USA und dem dadurch bedingten Streben nach mehr regionaler und internationaler Auto-nomie auch in der lateinamerikanischen Außenpolitik eine Rolle.31 Durch die Analyse seiner strategischen Partnerschaften zu Russland wird Lateinamerika in geopolitische Untersuchungen außerhalb des regionalen Kontextes integ-riert. Die Auswahl der lateinamerikanischen Länder für die Fallbeispiele orientiert sich daran, welche von ihnen als strategische Partner im Gespräch sind und dies in einer entsprechenden bilateralen Erklärung mit Russland vereinbart haben.32 In Annäherung an das most different systems design33 bekommt diese Strategie eine besonders große Erklärungskraft.

Folgende lateinamerikanische Länder gelten somit als potenzielle Unter-suchungsländer: Argentinien, Kuba, Venezuela, Brasilien, Nicaragua, Ecua-dor und Peru. Da jedoch der Begriff ‚strategische Partnerschaft‘ gleichzeitig sehr vage ist und es dafür bis dato keine allgemein gültige Definition gibt, ist es nicht das Anliegen dieses Buches, zu eruieren, ob diese Länder tatsächlich

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Das sind die Länder, die von russischer Seite, sowohl der offiziellen als auch unter den Experten, als strategische Partner bezeichnet werden. Vgl. dazu die Äußerung des russischen Vizeaußenministers Sergej Rjabkow im Rahmen der parlamentarischen Anhörungen zu „Prioritäten für Russlands Beziehungen mit Lateinamerika und der Karibik“ (Vigil Journal 2013) und der analytische Beitrag des Lateinamerikanisten Pjotr Jakowlew (2015). Auf der lateinamerikanischen Seite finden sich Äußerungen über den strategischen Charakter der Beziehungen zu Russland wieder (La Vanguardia 2014; Prensa Latina 2016; El Telégrafo 2016). Ende November 2015 wurde das Abkommen über eine strategische Allianz zwischen Russland und Peru unterzeichnet (El Peruano 2015), weswegen Peru vorerst in die Liste der Untersuchungsländer mit aufgenommen wird.

In Anlehnung an Jahn (2013: 239) bedeutet dies, dass „die Länder wichtige Einsichten für die Untersuchungsfragen geben und möglichst unterschiedlich sein sollen.“ Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Kontext der an dieser Stelle vordefinierten Fallbeispiele nicht komplett unterschiedlich ist. Alle lateinamerikanischen Länder befinden sich geografisch in derselben Region, sind ehemalige Kolonien mit ähnlichem kulturell-sprachlichen Kontext und hatten zum Zeitpunkt ihrer strategischen Annäherung an Russland linke oder Mitte-links-Regierungen an der Macht. Diese Prämissen sind grundsätzlich unveränderbar, wenn in dieser Arbeit das Verhältnis zwischen Russland und Lateinamerika untersucht werden soll. Doch die Ähnlichkeit des regionalspezifischen Kontextes hat keinen Einfluss auf die Auswahl der Analysestrategie. Denn trotz dieser Ähnlichkeiten lassen sich bemerkenswerte und für die Analysestrategie entscheidende Unterschiede unter diesen Ländern finden. La-teinamerika ist der Sammelbegriff, geografisch kann aber zwischen den Ländern des Süd-kegels oder des Cono Sur (Brasilien, Argentinien), den Andenländern, die zugleich die pa-zifische Seite des Subkontinents vertreten (Peru, Ecuador, Venezuela), Zentralamerika (Ni-caragua, Honduras, El Salvador, Guatemala, Costa Rica) und der Karibik (Kuba) differen-ziert werden. Erhebliche Verschiedenheiten ergeben sich auch auf der Ebene der territoria-len Größe, der politischen Regime und Bündnisse sowie der wirtschaftlichen Leistung. In-sofern ist davon auszugehen, dass ein different systems with similar outcome-Design in die-ser Studie möglich ist.

den Anforderungen an eine strategische Partnerschaft entsprechen. Vielmehr geht es hier darum herauszufinden, warum verschiedenen Staaten mit mögli-cherweise verschiedenen Interessen eine bilaterale strategische Partnerschaft anstreben. Aus diesem Grund werden die Länder Lateinamerikas in die enge Auswahl kommen, die bereits offiziell eine strategische Partnerschaft mit Russland geschlossen haben, was in einer entsprechenden Deklaration be-kräftigt wird. Aus diesem Grund scheiden Venezuela und Nicaragua auf-grund des Fehlens eines solchen Abkommens an dieser Stelle aus.

Von den fünf übrig gebliebenen Ländern erscheint es sinnvoll, Brasilien aufgrund seiner Größe, der internationalen Bedeutung als BRICS-Mitglied und der längsten Dauer der diplomatischen Beziehungen mit Russland als erstes Land für die Untersuchung heranzuziehen. Diese Merkmale statten Brasilien mit einem Sonderstatus im Rahmen der strategischen Partnerschaf-ten mit Lateinamerika aus, denn es ist nicht nur bilateral, sondern auch multi-lateral ein wichtiger Partner.

Vom großen historischen und kulturellen Erbe Russlands auf Kuba spricht Boris Martynow (persönliche Kommunikation, 20.06.2017), und auch der russische Kuba-Forscher Zbigniew Iwanowski (persönliches Interview, 27.06.2017) sagt, dass Kuba trotz seiner geringen Größe und Handelsbilanz mit Russland eine geopolitische Bedeutung habe. Da in dieser Arbeit geopo-litische Überlegungen und geopogeopo-litische Relevanz nicht nur als Prärogative von großen und einflussreichen Staaten betrachtet werden, sondern auch für kleinere Länder gelten34, bietet es sich an, Kuba als eines der Fallbeispiele zu analysieren. Neben anderen Faktoren kann aufgrund der besonderen histori-schen Bedeutung Kubas in seiner actio in distans die Relevanz des geopoliti-schen Faktors historische Erfahrungen für die Etablierung von strategigeopoliti-schen Partnerschaften eruiert werden.

Da mit Brasilien bereits ein Land des südamerikanischen Südkegels, ein G20-Mitglied und Mitglied des Gemeinsamen Markt Südamerikas (Mercado Común del Sur, MERCOSUR) vertreten ist, erscheint die Untersuchung Ar-gentiniens, das die gleichen Parameter besitzt, wenig sinnvoll, da in Annähe-rung an das most different systems design möglichst unterschiedliche strategi-sche Partner untersucht werden sollen. Im Gegensatz dazu würden Ecuador und Peru dieser Prämisse entsprechen. Ecuador hat im Gegensatz zu den intensiven russisch-kubanischen und langen russisch-brasilianischen Bezie-hungen eine kurze und weniger intensive Beziehung zu Russland, während Argentinien und Peru in derselben Tradition der ersten beiden Länder stehen.

Die strategische Partnerschaft zwischen Peru und Russland wurde außerdem erst Ende 2015 offiziell etabliert, als die konzeptionellen Grundlagen für diese Untersuchung bereits gelegt worden waren. Aus diesem Grund wurde Peru nicht als Fallbeispiel ausgewählt. Das dritte Untersuchungsland ist somit

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Ecuador, das trotz der vergleichsweise kurzen Geschichte der bilateralen Beziehungen eine offiziell etablierte strategische Partnerschaft mit Russland hat und aufgrund dieser Besonderheit sich sowohl in das most different sys-tems design am besten einfügt als auch einen vielversprechenden Untersu-chungsgegenstand darstellt.

Mit Ecuador an der Pazifikküste, Brasilien an der Atlantikküste und Kuba als Karibikland wird die gesamte geografische und strategische Breite La-teinamerikas erfasst, was mit dem geopolitischen Ansatz dieses Buches kon-gruiert.