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Geheimnis der auralen Empfängnis

Im Dokument Intermedialität in der Komparatistik (Seite 184-189)

Ganze Kunstgenres sind als Kulturerzählung und Mythologie entstanden, als zwingend notwendige Verarbeitung von Traumata oder Leiderfahrungen einer Bevölkerungs-gruppe, als kulturelle Identitätsstiftung. Um zwei populäre zu nennen: der Flamenco der andalusischen Gitanos und der Tango Argentino einer unterprivilegierten Einwan-derer_innengesellschaft am Rio de la Plata. Beide sind als Gesamtes betrachtet sinn- und identitätsstiftende Erzählkomplexe marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Erzählt wird auf allen Ausdrucksebenen (durch Kostüme, Rituale, Soziolekt, Gedichte, Lieder, Mu-sik, Tanz u.a.). Flamenco wie Tango haben sich aus dem Gesang entwickelt, sind also verbunden mit Sprache und Literatur. Beide haben heute einen großen internationalen Resonanzraum entwickelt mit lebendigen Szenen auf allen Kontinenten der Erde. Durch ihren migratorischen, interkulturellen und existenziellen Entstehungshintergrund berüh-ren diese Ausdrucksformen Grundthemen des Menschseins. Deshalb weisen beide viele des Flamenco mit dem orientalischen Tanz oder dem indischen Tanz Kathak. Ganze -essenz mündlich vermittelt. Am Anfang jedes Erzählens, das stummes inneres und äu-ßeres Bewegt-Sein voraussetzt, steht die Wortlosigkeit, ein Erfüllt-Sein, das allmählich übergeht in Körperbewegung und dadurch psychische, emotionale Energie verwandelt.

Erst wenn Körper und Zunge in Bewegung geraten, sich lösen, kann Emotion (E-Moti-on) und damit Schicksal und Erfahrung kreativ gestaltet werden, Veränderung passieren.

-mittel sein kann, hat der aus dem Migrant_innenmilieu stammende belgische

Choreo-graph Sidi Larbi Cherkaoui am eigenen Leib erfahren, als er im Alter von 15 Jahren den Tanz entdeckte und seine gesundheitlichen Probleme verschwanden (cf. Dürr 2010).

Viele klassische Tanzkulturen kennen den erzählenden Tanz oder das Tanzthea-ter (z.B. das indische Yakshagana-TheaTanzthea-ter in Karnataka oder das japanische Nōgaku-religiös eingebettet, etwa im indischen Kathak. Neben Pirouetten, Sprüngen und einer überwiegend vertikalen Haltung werden beim Kathak die erzählenden Teile vor allem mit Händen, Fingern, Armen und einer sparsam eingesetzten Mimik ausgeführt. Er nutzt dabei auch die Improvisation und zeigt erstaunliche Ähnlichkeiten zum Flamenco. Eine ebenfalls spirituell eingebettete Kulturerzählung ist die Musik-Tanz-Kultur des Mevlevi-drehende Derwische bekannten – Ordens geht auf den bedeutenden persischen Mystiker und Schriftsteller Dschalal ad-Din Rumi (1207 - 1273) zurück. Musik im Accelerando mit treibenden Wazn7 der Bendir-Trommel, Drehbewegungen in Endlosschleifen und Be-seeltheit führen zur ekstatischen, mystischen Vereinigung mit Gott. Gerade bei religiösen Gemeinschaften liegen das gesprochene Wort und die Weihe (cf. Einweihung) sehr eng beieinander, schaffen wirksame Bindungen zwischen Menschen und Menschengruppen, sind heilsam8, eben weil sie verbinden. Ähnlich wie im religiösen Bereich hat das gespro-chene Wort bei Gericht bis heute einen gewichtigeren Stellenwert als das geschriebene:

Es wirkt wahrer, authentischer.

Es soll damit das Augenmerk auf die im Wesentlichen orale Tradition von Tanz im Allgemeinen gelenkt werden. Trotz unserer enormen Schriftkultur und animierten Vi-deoanleitungen wird den praktizierenden Tänzer_innen Bewegungs-, Interaktions- und Körperwissen nach wie vor mündlich, face-to-face weitergegeben. Vielleicht sollte man besser sagen, das Wissen wird angeleitet, da Tanzwissen vor allem auf Erfahrung auf-baut. Die Begegnung mit charismatischen Lehrer_innen, das Eintreten in ein zwischen-menschliches Resonanzfeld ist durch kein noch so langes Privatstudium und autodidakti-sches Training ersetzbar. Durch ihr Bewusstsein von Wandelbarkeit und ihren ständigen Umgang damit tappen Tanzkünstler_innen seltener in die Wissensfalle. Intellektuelles

7 Rhythmische Formeln in der arabischen Musik.

8 Weihe geht etymologisch auf eine alte Wurzel zurück und ist mit „heilig“ verwandt.

gen einen essayistischen Zugang zu ihren Inhalten und Themen. Es geht darum, Fragen zu stellen, in den Raum zu werfen.

Die Zeit sitzt im Herzen. Wer in der Mündlichkeit lebt, lebt in der Gegenwart. Die Weitergabe von lebendiger Tanztradition ist nicht vorstellbar ohne die Mündlichkeit, ohne die Anwesenheit der Meister_in. Unterricht hat etwas mit Sich-Spiegeln zu tun. Die Übertragungs- und Anregungseffekte zwischen Menschen sind enorm. Das gilt für beide Richtungen: Lehrer_in – Schüler_in – Lehrer_in. Die Neurowissenschaften sind diesem Phänomen mit den Spiegelneuronen auf der Spur. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Spiegelneuronen nicht nur ein Resonanzsystem im Gehirn sind, das Gefühle und Stimmungen anderer Menschen bei den Empfänger_innen zum Mitschwingen bringt.

Die Nervenzellen reagieren auf eine beobachtete Handlung genauso, als ob man das Gesehene selbst ausgeführt hätte, d.h. in den entsprechenden Gehirnbereichen entste-hen ähnliche Aktivitätsmuster wie beim beobachteten Gegenüber. Jüngste Forschungen zeigen den Effekt von besuchten Tanzaufführungen auf die Zuschauer_innen (cf. PLOS ONE 2012, „Forschungsbericht“). Diese trainieren das menschliche Gehirn und die Muskeln aufs Tanzen. Obgleich die Zuschauer_innen bewegungslos sitzen, spielt sich in ihren Muskeln das Gleiche ab wie bei den Tänzer_innen selbst. Die Gehirnregionen, wel-che die tanztypiswel-chen Armbewegungen steuern, sind bei regelmäßigen Besuwel-cher_innen von Tanzaufführungen leichter erregbar und aktiver als bei Unerfahrenen. Den Wechsel zwischen Stillstand und Bewegung nehmen die Zuschauer_innen also ganz real wahr, -sen auf den Atem des Tanzes auf, den eigenen Wechsel zwischen Vita activa und Vita contemplativa immer von Neuem zu prüfen und zu justieren. Die Spiegelneuronen sind zwar erst in den letzten Jahren beim Menschen nachgewiesen worden, viele Effekte sind dennoch lange schon bekannt. Hugo von Hofmannsthal schreibt in seinem Essay Über die Pantomime:

Wenn jeder Einzelne von den Zusehern eins wird mit dem, was sich auf der Szene bewegt, wenn jeder Einzelne in den Tänzen gleichsam wie in einem Spiegel das Bild seiner wahrsten Regungen erkennt, dann – aber nicht früher als dann – ist der Erfolg errungen. Solch ein stummes Schauspiel ist aber auch nicht weniger als eine Erfüllung jenes delphischen Gebotes: ‚Erkenne dich

selbst‘, und die aus dem Theater nach Hause gehen, haben etwas erlebt, das erlebenswert war. (Hofmannsthal 1979, 504f.)9

Wenn es jetzt, und diese These steht in der Wissenschaft zur Diskussion, ein besonde-res Körperwissen und -bewusstsein der Tänzer_innen gibt, dann passiert in den anwe-senden Zuschauer_innen während einer Tanzaufführung vielleicht viel mehr, als ihnen zugänglich ist. Sie treten in einen Feedbackprozess ein, der nur spürend erfahren oder erahnt wird. Vor allem dann, wenn auf der Bühne Wesentliches des Menschen, der Welt verhandelt wird. Innenräume und Außenräume können in Resonanz geraten, das System Akteur_in – Zuschauer_in tritt in eine Eigenzeit. In einem ähnlichen Austauschprozess -graph_in ist gleichzeitig Lernende, Schöpfende aus dem Erfahrungsschatz der Tänzer_

innen. In keiner Kunstform arbeiten die Akteur_innen so intensiv zusammen wie im Tanz. Beim Theater gibt es in der Regel bereits einen Text, der durch Schauspieler_innen aufgeführt, in der Musik die geschriebene Komposition, die von Musiker_innen interpre-tiert wird. Im zeitgenössischen Tanz exisinterpre-tiert selten eine fertige Choreographie, die bloß eingeübt bzw. interpretiert werden muss. Das hat zur Folge, dass bei der aufwendigen Entstehung eines Tanzwerkes in wochen- und monatelanger Probenarbeit die Fähigkei-wobei die Mündlichkeit, auch in Form von hinterfragender, klärender Diskussion, eine große Rolle spielt. Die auftretende Tänzer_in ist nicht bloß Bedeutungsmittler_in oder -träger_in, sondern Bedeutung selbst (cf. Klein/Zipprich 2002, 1ff.).

Letztendlich greift der Tanz ähnliche Themen wie Literatur und Bildende Kunst auf, verhandelt sie jedoch auf anderen Ebenen, vor allem auf der emotionalen. Von der Ord-nung durch eine Fabel hat der moderne Tanz sehr früh im 20. Jahrhundert Abschied genommen (freilich gibt es daneben noch das klassische Handlungsballett). Ein wichtiges narratives Mittel des zeitgenössischen Tanzes ist die Montage. Wenn sie frei assoziativ eingesetzt wird, beispielsweise bei Pina Bausch, führt sie oft dazu, dass Tanzarbeiten rätselhaft und irritierend wirken. Die Gleichzeitigkeit von Aktionen und die gerne ein-gesetzte Multimedialität führen dazu, dass sich Bühnengeschehen nicht einfach nach-erzählen lässt. Selbst die Choreograph_innen schaffen das nicht (und es interessiert sie

9 Hofmannsthal lässt dabei den griechischen Schriftsteller und Sophisten Lukian von Samosata (um 120 – 180 n.Chr.) mit seinen Betrachtungen aus De Saltatione (Von der Tanzkunst) zu Wort kommen.

auch nicht). Es stellt sich für die Tanzkünstler_innen jedoch die Frage, wie die gewählten Elemente Bewegung, Kostüm, Musik, Text, Projektion usw. „richtig“ zusammenzufü-gen sind. Da gäbe es kein System, kein Rezept berichten viele Künstler_innen. Laut Pina Bausch ist es „Bauch und viel Arbeit“, schwere Arbeit: „Da fügt sich erst einmal gar nichts zusammen. Das ist ein ständiges Weitersuchen und Materialsammeln“. Und:

-sam sein; da gibt es kein System.“ (Hier v.a. auf Musik bezogen; Interview 1995, Servos 2008, 256f.) Bausch spricht von Stimmigkeit, die man spüren könne. „Es langweilt mich, wenn ich nichts fühlen kann.“ (Interview 1998, Servos 2008, 261)

Dem Tanztheater, aber auch vielen Spielformen des zeitgenössischen Tanzes geht es -children to breathe, to vibrate, to feel, and to become one with the general harmony and movement of nature.“ (Duncan 1993, 63) Hier kann eine Verbindung hergestellt werden zwischen der emotional unmittelbaren und unverbildeten Erlebniswelt des Kindes mit dem beschriebenen Tanztheater-Ansatz. Ein Kind achtet in ähnlicher Weise und intuitiv auf ihm bedeutsam scheinende Dinge, vergisst dafür andere. Die Reihenfolge von erzähl-ten Ereignissen stimmt dann oft nicht, Einzelheierzähl-ten werden durch Kinder fantasievoll ausgeschmückt. Die Erinnerungen werden nach eigenen Wünschen und Fantasien abge-ändert. Die wirklichen Ereignisse haben vielleicht ganz anders ausgesehen. Erwachsene neigen in solchen Fällen sogar dazu, Kindern Lügen zu unterstellen. Einem Kind ist nicht bewusst, dass die Wahrheit anders ausgesehen hat, es ist einfach seine Wahrheit, das, was sich ihm eingeprägt, bei ihm gewirkt hat. Dieses Bewusstsein haben hingegen die Tanzkünstler_innen, die diese Methode kreativ einsetzen. In der Fantasie jeder ein-zelnen Tänzer_in einer Tanzkompanie entsteht in einer langen Probenphase im Idealfall ein klares inneres Bild, ein Gefühl, die richtige Intuition, wohin der Weg der Umsetzung gehen muss. Die kollektive Arbeit, die jede Bühnenkunst ist (auch bei den Solisten_innen in Interaktion mit dem Publikum, ihrem Umfeld etc.), führt an die Anfänge aller Kunst-äußerung zurück, wo Literatur Erzählung war, Musizieren gemeinsames Aus-Probieren und Tanz Einstimmen mit dem ganzen Körper. Im Unterschied zu den anderen Künsten Tiefe gehen, nicht selten Barrieren, Habitus überwinden, riskieren. Wenn die Suche wirkt, Intuition und Sensibilität genügend groß sind, führt das zu mehr Selbstverwirklichung,

letztendlich zu mehr Wirklichkeit und Wirkung. Diese äußerst intensive Arbeit steuert über Körper, Sinne und mentale Fähigkeiten hinaus, um stets neu die Mitte des Seins zu gelotet.

Am Anfang der narrativen, doch in ähnlicher Weise der nicht-narrativen Bühnenkunst steht die Erzählung. Schaut und hört man Choreograph_innen bei der Arbeit zu, erkennt man, wie wichtig deren erzählende Anleitung ist. Es bleibt festzuhalten, dass es keine lineare Anweisung und Beschreibung sein kann, es kein System gibt, sondern in der Regel eine assoziative Vorgangsweise bevorzugt wird, ständig neue Wege ausprobierend, offen -lichkeit und Gefühlen, die Fähigkeit der kreativen Köpfe und Herzen, die Akteur_innen an innere Orte zu führen, Emotionalität und Verborgenes zu wecken, Visionen vor dem inneren Augen entstehen zu lassen. Insofern ist die Entstehung eines Tanzwerkes an eine Wortkunst geknüpft. Damit sich die Wirkung stark entfaltet, muss der Mensch in unmit-telbarem Austausch stehen.

Im Dokument Intermedialität in der Komparatistik (Seite 184-189)