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GEFAHR DER KULTURALISIERUNG VON LEBENSLAGEN

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MIGRATIONSSENSIBLER KINDERSCHUTZ

GEFAHR DER KULTURALISIERUNG VON LEBENSLAGEN

Wie bereits mehrfach erwähnt, gilt es, sich von verall-gemeinernden Vorstellungen von »der Migrantenfami-lie« zu distanzieren. So steht z.B. erwiesenermaßen fest, dass die Variation und die Heterogenität innerhalb der Migranten, aber auch innerhalb einer einzelnen Mig-rantengruppe – wie etwa der türkischstämmigen Be-völkerung – größer ist als in der deutschen Population.

Die naive Annahme einer Konzidenz von kultureller und ethnischer Identität erweist sich oft als problematisch

(Merkens 1997). Es kann bspw. nicht einfach von »den Türken« und der »türkischen Kultur« geredet werden.

Fremdzuschreibungen und Selbstzuschreibungen de-cken sich vielfach nicht. So etwa, wenn Migranten von Deutschen als Türken wahrgenommen werden, sie selber sich jedoch aus einer Innenperspektive als Kurden ver-stehen. Gleichfalls gilt es, das methodische Problem der Vermischung von ethnischer Zugehörigkeit und sozialer Schicht stärker zu beachten: häufi g überschneiden sich Schichtzugehörigkeit (z.B. Unterschicht) und ethnische Zugehörigkeit; Phänomene, die eventuell nur vor dem Hintergrund unterschiedlicher sozialer Zugehörigkeiten zu verstehen sind, werden unrefl ektiert ethnisiert oder kulturalisiert.

Deshalb gilt es für die sozialpädagogische und therapeu-tische Arbeit genauer hinzuschauen und im Anschluss an die Intersektionalitätsanalyse (Leiprecht & Lutz 2006) die stets je subjektiv einzigartige Ausgangslage des Han-delns zu berücksichtigen. Im Konkreten heißt das: Es gilt, den gleichzeitigen Einfl uss von Geschlecht, Ethnie, Schicht, Nationalität und sexuelle Orientierung etc. zu untersuchen, um keiner falschen Homogenisierung zu erliegen. Unangemessen sind also Deutungen, die etwa alle Handlungen eines Menschen nur aus der Klasse, dem Geschlecht, der Kultur, der Religion etc. ableiten.

Denn die mediale Popularität der Begründung von All-tagshandlungen des Anderen, bzw. des »Fremden« – mit Berufung auf seine bzw. ihre Kultur – ist ein äußerst konservatives Argument, weil sie gerade das Faktum der Prozesshaftigkeit, des Gewordenseins und der Veränder-barkeit von Kultur in Abrede stellt. Sie unterstellt aber auch, dass Menschen in ihren Haltungen und Handlun-gen stets kulturkonform agieren. Damit unterschlägt sie die subjektive Widerstandsfähigkeit von Individuen und zuletzt missdeutet sie Persönlichkeitsmerkmale (z.B. den aggressiven Partner) schlichtweg als Kulturmerkmale (als die Gewaltkultur der Türken oder der Muslime oder der Araber etc.).

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