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Die Geburt des schöpferischen Menschen

Im Dokument Nietzsches Gesundheitsphilosophie (Seite 156-159)

VII. Kapitel: Der Philosoph und die Philosophie als „Arzt der Kultur“

19. Die Geburt des schöpferischen Menschen

Die Erziehung des Menschen zu einem freien Geist, der in der schöpferisch offenen Möglichkeit seine Tugend und seinen Wert schaffen kann, ist Nietzsches Methode, um die Modernität zu überwinden.803 So soll die Erde nach dem Tod Gottes ein Raum des schöpferischen Spiels des freien Geistes als „lebendiger Geist“804werden, der Raum eines existenzialen Selbstexperiments, in dem in jedem Moment die Veränderung zum freien Geist erfolgen kann. Nun fühlt sich der Mensch in der modernen Zivilisation, die er auf dieser Erde aufbaut, als Gesetzgeber, der durchaus selbst seinen Wert schätzt und schafft. Nietzsche entdeckt, wie eben beschrieben, eine Möglichkeit zum Entstehen eines schöpferischen Menschentyps in der Entfaltung der selbstproduktiven Kraft des grossen Menschen, in der die selbsterfahrungsmässigen Erkenntnis und selbsterfahrungsmässigen Einheit eigener inneren-äusseren Kraft, also in der wertschöpferischen Wirksamkeit des Willens zur Macht. Eine solche Selbstproduktivität des schöpferischen Menschen bedeutet hier die „kulturelle Selbstproduktion schöpferischer Individuen“805

Für Nietzsche ist die Frage nach dem Machtgefühl durch den Willen zur Macht einerseits eine anthropologische Frage der Geburt des schöpferischen Menschen und andererseits eine Frage nach dem Gesundheitszustand und dem Krankheitszustand der Kultur als Resultat der Fülle und des Mangels des Willens zur Macht. Das alles ist für ihn eine medizinische Frage bezüglich des Aufstiegs und des Niedergangs der Kultur. Nach Nietzsche sind die Wahrheit,

803 Nach Nietzsche ist seine eigene Tugend ein Kristall des Werts, die der Selbstbezug durch die Selbsterkenntnis und die Selbstachtung und durch die Selbstgesetzgebung gewinnen kann (Gerhardt, Volker, Die Moral des Immoralismus. Nietzsches Beitrag zu einer Grundlegung der Ethik, in: Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis (Hrsg.), Die Funken des freien Geistes, Berlin∕New York 2011, S. 219-221). „Für den Zusammenhang von Selbstgesetzgebung und Selbstachtung spricht auch Nietzsches Verdikt von der Entwürdigung des Menschen durch das Festhalten an der alten Moral“ (ders., a. a. O., S. 221-222). Nietzsche nennt diesen Menschentyp, der seine eigene Tugend schaffen kann, einen freien Geist. „Der „freigewordne Mensch“, das ist der Geist, der sich selbst befreit, er achtet nur bedingt auf die Handlungsfolgen; Sein Maß liegt im eigenen Anspruch. [∙∙∙] Denn dieser „freie Geist“ hat seinen Grund in sich selbst. [∙∙∙] Sein Ursprung liegt in dem, was er potentiell ist, also in dem, was wirklich in seinen Kräften liegt“ (Gerhardt, Volker, Selbstbegründung. Nietzsches Moral der Individualität, in: Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis (Hrsg.), Die Funken des freien Geistes, BerilnNew York 2011, S. 178).

804 Gerhardt, Volker, Monadologie des Leibes. Leib, Selbst und Ich in Nietzsches Zarathustra, in: Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis (Hrsg.), Die Funken des freien Geistes, Beriln∕New York 2011, S. 8.

805 Vgl. Gerhardt, Volker, Sensation und Existenz. Nietzsche nach hundert Jahren, in: Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis (Hrsg.), Die Funken des freien Geistes, Berlin∕New York 2011, S. 155. s. a. Gerhardt, Volker, Der Sinn der Erde. Zur Kritik von Nietzsches Religionskritik, in: Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis (Hrsg.), Die Funken des freien Geistes, Berlin∕New York 2011, S. 358-359.

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die Moral nichts anderes als kulturelle Mittel für „die allgemeine Schwächung [∙∙∙] statt der Entwicklung zum Individuellen“806 und die stellen ein allgemeine Nivellierung der Kultur dar.807

Der Mönch, der sich entweltlicht, durch Armut Keuschheit Gehorsam, der namentlich mit der letzteren Tugend, aber im Grunde mit allen dreien auf den Willen zur Macht verzicht leistet: er tritt nicht sowohl aus der „Welt“ als vielmehr aus einer bestimmten Cultur heraus, welche im Gefühl der Macht ihr Glück hat. Er tritt in eine ältere Stufe der Cultur zurück, welche mit geistigen Berauschungen und Hoffnungen den Entbehrenden Ohnmächtigen Vereinsamten Unbeweibten Kinderlosen schadlos zu halten suchten.808

Nietzsche setzt seine Kritik an der Zivilisation fort mit einer anthropologischen Frage nach dem Aufstieg und dem Niedergang, also mit Ablehnung und Kritik gegen die Nivellierung des Menschen als Zivilisationskrankheit der Moderne. „Nach der Civilisation verlangen die, welche sehr in Angst sind. In der Civilisation zufrieden sind die Schwachen, die Feigen, die Faulen, die Geachteten, die Gewöhnlichen: Gleichheit als Ziel, endlich als Zustand“.809 Aber für Nietzsche bedeutet die Geburt des schöpferischen Menschen genau die Geburt des großen Menschen und ein derartiger Mensch verdient den Begriff des ‚Genies‘. Die

‚Geburt‘ begleitet hier im gleichbedeutenden Sinn mit ‚Schwangerschaft‘, ‚Gebären‘, die Bejahung des Schmerzes („die Wehen der Gebärerin“810) und zugleich die Freude der Schöpfung. Nietzsche erklärt dies als Prozess der Selbstüberwindung, durch den Werte des Lebens geschaffen werden und gibt dies als Dionoysos wieder.811

Das Leben selbst, seine (Dionysos – S.B.L.) ewige Fruchtbarkeit und Wiederkehr bedingt die Qual, die Zerstörung, den Willen zur Vernichtung… [∙∙∙] „der Gott am Kreuz“ ist ein Fluch auf Leben, ein Fingerzeig, sich von ihm zu erlösen. der in Stücke geschnittene Dionysos ist eine Verheißung ins Leben: es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung heimkommen.812 Nach Nietzsche ist das Genie ein Wesen, das seinen eigenen Wert zeugen und gebären kann.813 Dem gegenüber stellt er den „wissenschaftlichen Durchschnittsmensch“814, also den

806 N 6[163], in: KSA, Bd. 9, S. 238.

807 Vgl. Bayerle, Georg, Wissen oder Kunst. Nietzsches Poetik des Sinns und die Erkenntnisformen der Moderne, Köln 1998, S. 109-111.

808 N 9[14], in: KSA, Bd. 9, S. 412-413.

809 N 8[47], in: KSA, Bd. 9, S. 392-393.

810 GD, Was ich den Alten verdanke, 4, in: KSA, Bd. 6, S. 159.

811 N 24[1], 9, in: KSA, Bd. 13, S. 628. dazu vgl. N 14[24], S. 229 ∙ N 17[3], 3, S. 522. in: KSA, Bd. 13.

812 N 14[89], in: KSA, Bd. 13, S. 266-267.

813 JGB VI, 206, in: KSA, Bd. 5, S. 133.

814 JGB VI, 206, in: KSA, Bd. 5, S. 133.

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wissenschaftlichen Menschen: „Was ist der wissenschaftliche Mensch? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch“.815 Hier ist die Differenz zwischen dem Genie und dem wissenschaftlichen Menschen gleichbedeutend mit der Differenz zwischen seinen Menschentypen „ungewöhnlicher Mensch“ und

‚gewöhnlicher‘ Mensch.816 Nach Nietzsche wird die Entwicklung der Kultur durch den Unterschied solcher Menschentypen, also durch die Distanz der Differenz, ermöglicht.817 Und diese Distanz der Differenz ist auch die Distanz der Spannung aus Größe und Kleinheit.818 Der Unterschied solcher zwei Menschentypen enthüllt sich ebenfalls durch die Beziehung zwischen dem „objektiven Mensch“819 und dem ‚subjektiven Mensch‘. Nietzsche nennt hier den objektiven Mensch ein „geisterhaftes Wesen“, das das Leben wie im Spiegel lebt, also ohne Selbstzweck, das „ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt“ ist und zugleich ein „Selbstloser Mensch“.820

Im Gegensatz dazu verkörpert ‚der subjektive Mensch‘, den von Nietzsche vorgestellten Begriff ‚Größe‘821, den Menschen von Morgen und von Übermorgen, der in der alten Kultur des Herdentiers durch den starken Willen einen eigenen Wert schaffen kann.822 Nach Nietzsche ist ein solcher Mensch derjenige, der „grosse Politik“823 für die Kultur der Erde, die Gesundheit des Lebens sowie die Gesundheit der Menschlichkeit und des Willens machen kann auf die Erde der alten Kultur, die durch die kleine Vernunft beherrscht wird. Die große Politik bedeutet einen Krieg der Werte für den Aufbau einer gesunden Kultur, also einen

815 JGB VI, 206, in: KSA, Bd. 5, S. 133.

816 JGB VI, 206, in: KSA, Bd. 5, S. 134. Über den Begriff Nietzsches „Pathos und Distanz“, vgl. Gerhardt, Volker, Artikel „Pathos und Distanz“, in: Joachim Ritter und Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 7, Basel 1989, S. 199-201.

817Simmel, Georg, Zum Verständnis Nietzsches, in: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908 Band 1, Gesamtausgabe Band 7, Frankfurt am Main 1995, S. 61.

818 Vgl. Brusotti, Marco, Spannung. Ein Begriff für Groß und Klein, in: Nietzsche-Macht-Grösse, Volker Caysa, Konstanze Schwarzwald (Hrsg.), BerlinBoston 2012, S. 51-73; Despot Branko, Die Zeit als Wille zur Macht, in:

Mihailo Djurić und Josef Simon (Hrsg.), Zur Aktualität Nietzsches, Bd. 2, S. 57-59.

819 JGB VI, 207, in: KSA, Bd. 5, S. 135.

820 JGB VI, 207, in: KSA, Bd. 5, S. 134-137.

821 „Heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-sein-können, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff „Grösse“; und der Philosoph wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt: „der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willes;

dies eben soll Grösse heissen: ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können““ (JGB VI, 212, in:

KSA, Bd. 5, S. 147). In diesem Kontext wird die „Größe“ als Charakter des „autonom schaffenden Subjekt“ in doppelter Hinsicht gesehen. „Es ist überhaupt erst zu Schaffendes, und es kann allein durch das kreative Subjekt hervorgebracht werde“ (Meyer, Theo, Nietzsche und die Kunst, S. 43-44).

822 JGB VI, 212, in: KSA, Bd. 5, S. 145-147.

823 JGB VI, 208, in: KSA, Bd. 5, S. 140; N 25[1], in: KSA, Bd. 13, S. 637-638.

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„Krieg wie zwischen Aufgang und Niedergang, zwischen Willen zum Leben und Rachsucht gegen das Leben, zwischen Rechtschaffenheit und tückischer Verlogenheit“824. Auf diese Weise bietet Nietzsche den Philosophen die „unzeitgemäße Idee“ als philosophisches Ideal gegen die moderne Idee an, die Idee einer neuen, zukünftigen Kultur und einer anthropologischen Aufgabe für die Geburt der neuen zukünftigen Menschlichkeit.

Angesichts einer Welt der „modernen Ideen“, welche Jedermann in eine Ecke und

„Spezialität“ bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Grösse des Menschen, den Begriff „Grösse“ gerade in seine Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen. [∙∙∙] Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr zeitgemäss als Willensschwäche: also muss, im Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff „Grösse“ hineingehören.825

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