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Die Geburt der „zukünftigen Menschlichkeit“

Im Dokument Nietzsches Gesundheitsphilosophie (Seite 152-156)

VI. Kapitel: „Die Ärzte der modernen Menschheit“

18. Die Geburt der „zukünftigen Menschlichkeit“

Nietzsche sieht als die „Wurzel aller wahren Cultur“, also höherer Kultur, die er sich erhofft, die Geburt eines Genies.779 Er meint: „Also nur der, welcher sein Herz an irgend einen grossen Menschen gehängt hat, empfängt damit die erste Weihe der Kultur“.780 Obwohl Nietzsche auch den Schaden und den Irrtum der Erziehung der Moderne sowie des Bildungssystems der Moderne bemerkt hat781, sagt er über den Menschen, der nicht die innere Macht für den Kampf dagegen hat782: „Höchstes Urtheil über das Leben“ ist ermöglicht „nur aus der höchsten Energie des Lebens“ und man muss einen „Genius als den Einzigen, der das Leben wahrhaft schätzen und verneinen kann“, erzeugen.783 Deshalb sagt er ausdrücklich:

„Die Matten, geistig Armen dürfen über das Leben nicht urtheilen“.784 In diesem Kontext bestimmt er seine philosophische Aufgabe folgendermaßen:

Eine Verbindung eines grossen Centrums von Menschen zur Erzeugung von besseren Menschen ist die Aufgabe der Zukunft. Der Einzelne muss an solche Ansprüche gewöhnt werden, dass, indem er sich selbst bejaht, er den Willen jenes Centrums bejaht.785

Nietzsches Gegenentwurf zur modernen Menschlichkeit beinhaltet, die freie Menschlichkeit, die von der durchschnittlichen populären Kultur befreit wird, sowie einen kämpfenden Mensch, der sich durch eine unzeitgemäße unmoderne Weise des Lebens gegen die populäre Modernität wendet, die die Verallgemeinerung des schwachen modernen

777 SE, 5, in: KSA, Bd. 1, S. 377.

778 HL, 10, in: KSA, Bd. 1, S. 334.

779 SE, 3, in: KSA, Bd. 1, S. 358.

780 SE, 6, in: KSA, Bd. 1, S. 385.

781 Die Ansicht Nietzsches über die Erziehung und die Bildung ist folgende: „Erziehung: ein System von Mitteln, um die Ausnahmen zu Gunsten der Regel zu ruiniren. Bildung: ein System von Mitteln, um den Geschmack gegen die Ausnahme zu richten, zu Gunsten der Durchschnittlichen. So ist es hart“ (N 16[6], in: KSA, Bd. 13, S.

484).

782 ZB, Vortrag I, in: KSA, Bd. 1, S. 666.

783 N 5[180], in: KSA, Bd. 8, S. 91.

784 N 5[183], in: KSA, Bd. 8, S. 92.

785 N 3[75], in: KSA, Bd. 8, S. 36.

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Menschen unterstützt. Ferner ist ein derartiger Mensch ein praktischer Mensch, der sich von der Beschaulichkeit des Lebens befreit hat und in vielfältigen Gebieten des Lebens für die Selbstreifung sowie für die ästhetische Gestaltung des „großen Lebens“786 aktiv werden kann.

Für Nietzsche ist ein solcher Mensch ein „Genie“787, ein Mensch, der einen „heroischer Lebenslauf“ hat788 und zugleich ein „schöpferischer Mensch“.789 Also ist der Begriff des Genius beim frühen Nietzsche, nämlich der großer Mensch als Menschentyp des „Über-menschlichen“, der sein Leben bejaht und überwindet sowie den Wert seines Lebens schafft, eine „Vorform des Übermenschen“.790 In diesem Kontext sieht Nietzsche die „neue Pflicht“ des praktischen Menschen nicht mehr als Pflicht eines Isolationisten und dem Menschen als grundlegende Aufgabe, seine innere Natur erkennen und vollenden zu wollen.791

Wenn jeder grosse Mensch auch am liebsten gerade als das ächte Kind seiner Zeit angesehn wird und jedenfalls an allen ihren Gebresten stärker und empfindlicher leidet als alle kleineren Menschen, so ist der Kampf eines solchen Grossen gegen seine Zeit scheinbar nur ein unsinniger und zerstörender Kampf gegen sich selbst. Aber eben nur scheinbar; denn in ihr bekämpft er das, was ihn hindert, gross zu sein, das bedeutet bei ihm nur: frei und ganz er selbst zu sein. Daraus folgt, dass seine Feindschaft im Grunde gerade gegen das gerichtet ist, nämlich gegen das unreine Durch- und Nebeneinander von Unmischbarem und ewig Unvereinbarem, gegen die falsche Anlöthung des Zeitgemässen an sein Unzeitgemässes.792

Aber Nietzsche denkt daran, dass die Menschen sich selbst als Individuen nicht erkennen, die Möglichkeiten der vielfältige Veränderung haben. Grund dafür ist, dass sie sich selbst nur als „Bürger dieser Zeit“793 fühlen, nicht für ihr eigenes Ego, sondern nur für ein „Phantom von Ego“ leben.794 Ihm zufolge ist ein grundlegender Bestandteil der Kultur wie Religion und

786 Vgl. Nicodemo, Nicola, Das große Leben als Verklärungsprozess, in: Nietzsche-Macht-Grösse, Volker Caysa, Konstanze Schwarzwald (Hrsg.), Berlin∕Boston 2012, S. 201-211.

787 „Worin besteht das Auszeichnende eines Genius? Nietzsches Antwort lautet: ein Genius in der Philosophie ist ein Denker, der den Wert des Daseins neu festsetzt, er ist ein Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge (Safranski, Rüdiger, Nietzsche. Biographie seines Denkens, Frankfurt am Main 2002, S. 43).

788 SE, 4, in: KSA, Bd. 1, S. 373.

789 „der Genius selbst wird jetzt aufgerufen, um zu hören, ob dieser, die höchste Frucht des Lebens, vielleicht das Leben überhaupt rechtfertigen könne; der herrliche schöpferische Menschen soll auf die Frage antworten:

„bejahst denn du im tiefsten Herzen dieses Dasein? Genügt es dir? Willst du sein Fürsprecher, sein Erlöser sein?

Denn nur ein einziges wahrhaftiges Ja! aus deinem Munde – und das so schwer verklagte Leben soll frei sein““ (SE, 3, in: KSA, Bd. 1, S. 363).

790 Fink, Eugen, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 35.

791 SE, 5, in: KSA, Bd. 1, S. 381-382.

792 SE, 3, in: KSA, Bd. 1, S. 362.

793 SE, 1, in: KSA, Bd. 1, S. 339.

794 M II, 105, in: KSA, Bd. 3, S. 92.

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Moral im wesentlichen feindlich gegen das Leben, in dieser Kultur ist der Mensch nicht mehr als ein „blutlose(s) Abstraktum“795. Deshalb drängt er: „Die neue Generation soll ihre neue Kultur finden: Der Mensch ist nur der Kunst werth, die er selbst schafft. [∙∙∙] Es ist möglich, die Bildung zu vernichten“.796 Auf diese Weise ist Nietzsches Kritik an der Modernität gerade eine Kritik an der schwachen Menschlichkeit des modernen Menschen und zugleich Erziehung für die Veränderung zur starken Menschlichkeit.

wie erhält dein, des Einzelnen Leben den höchsten Werth, die tiefste Bedeutung? Wie ist es am wenigsten verschwendet? Gewiss nur dadurch, dass du zum Vortheile der seltensten und werthvollsten Exemplare lebst, nicht aber zum Vortheile der Meisten, das heisst, der, einzeln genommen, werthlosesten Exemplare. Und gerade diese Gesinnung sollte in einem jungen Menschen gepflanzt und angebaut werden, dass er sich selbst gleichsam als ein misslungenes Werk der Natur versteht, aber zugleich als ein Zeugniss der grössten und wunderbarsten Absichten dieser Künstlerin.797

Nietzsche vertritt die Auffassung, dass der Mensch als gesundes Individuum nur in drei Existenzformen: als Philosoph, Heiliger und Künstler existieren kann.798 Und er bestimmt sein Ziel für die Geburt dieses gesunden Individuums folgendermaßen: „Künstler (Schaffender), Heiliger (Liebender) und Philosoph (Erkennender) in Einer Person zu werden:

– mein praktisches Ziel!“.799 Er fügt an: „Alles Schaffen ist Mittheilen. Der Erkennende(,) der Schaffende(,) der Liebende sind Eins“.800 Auf diese Weise erkennt es Nietzsche als seine philosophische Aufgabe, solche Menschentypen, die diese neue Aufgabe der Schöpfung und Veränderung für eine gesunde Zukunft der Menschheit übernehmen können, zu zeigen.801 Ein solcher Menschentyp bedeutet, dass er sein eigenes Leben als eine Kunstwerk schafft, gestalt (Künstler), nach der Befreiung von der Unterdückung der alten Ideale bejaht er durch die „wirkliche Liebe“802 zum Leben sein eigenes Leben (Heiliger) und gewinnt als

795 M II, 105, in: KSA, Bd. 3, S. 93.

796 N 26[14], in: KSA, Bd. 7, S. 580.

797 SE, 6, in: KSA, Bd. 1, S. 384-385.

798 N 3[63], in: KSA, Bd. 8, S. 31-32.

799 N 16[11], in: KSA, Bd. 10, S. 501.

800 N 4[23], in: KSA, Bd. 10, S. 115.

801 Vgl. „Meine Aufgabe: die Menschheit zu Entschlüssen zu drängen, die über all Zukunft entscheiden! Höchste Geduld – Vorsicht – den Typus solcher Menschen zeigen, welche sich diese Aufgabe stellen dürfen!“ (N 25[405], in: KSA, Bd. 11, S. 118).

802 Über die Auffassung Nietzsches über die wirkliche Liebe und die philosophische Weisheit des Lebens, vgl.

„Philosophie als Liebe zur Weisheit. Hinauf zu dem Weisen als dem Beglücktesten, Mächtigsten, der alles Werden rechtfertigt und wieder will. - nicht Liebe zu den Menschen oder zu Göttern, oder zur Wahrheit, sondern Liebe zu einem Zustand, einem geistigen und sinnlichen Vollendungs-Gefühl: ein Bejahen und Gutheißen aus

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Übermensch, als Mensch des freien Geistes (Philosoph) einen Zustand, der vom Ressentiment über das Leben befreit ist, also im Jenseits von Gut und Böse geistige Erhöhung und Freiheit, sein eigenes Leben wieder zu schätzen.

einem überströmenden Gefühl von gestaltender Macht. Die große Auszeichnung. wirliche Liebe“ (N 25[451], in:

KSA, Bd. 11, S. 133).

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