• Keine Ergebnisse gefunden

Funktion und Konzepte der Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten Verhaltensauffälligkeiten

Bei einer Verhaltensauffälligkeit handelt es sich dann um eine Disposition der Person für ein auffälliges Verhalten und Erleben, welche es gestattet, das aus der bisher entwickelten Identität der Person resultierende (auffällige) Verhalten und Erleben in bestimmten zukünftigen Situationen reliabel vorherzusagen (vgl.

NETTER 2005, 234), welche aber durch bedeutsame neue Erfahrungen, insbesondere etwa durch pädagogische Maßnahmen, auch veränderbar ist.

1.3 Funktion und Konzepte der Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten

Einteilungen als Resultat beobachteter Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Objekten und Phänomenen sind alltägliche Strategien zur Reduktion von Komplexität und zur Strukturierung des Handlungsraumes. Ihnen kommt in allen Wissenschaftsdisziplinen, die sich ihrer bedienen, eine fundamentale Bedeutung zu.

Einteilungen dienen der gedanklichen Ordnung der Vielfalt von Verhaltensauffälligkeiten und bedürfen einer wissenschaftlichen Objektivierung (vgl. SCHMIDTKE 1980, 62; FRÖHLICH-GILDHOFF 2010a, 157). Wenngleich jede einzelne Verhaltensauffälligkeit eines Kindes oder Jugendlichen ihre individuelle Besonderheit aufweist, so ist es dennoch für die pädagogische Praxis und für die wissenschaftliche Forschung hilfreich, auf der Grundlage dafür geeigneter Kriterien, Gruppen von Verhaltensauffälligkeiten bzw. auch Gruppen von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten voneinander zu unterscheiden. So mahnt beispielsweise für den Vergleich von Forschungsergebnissen Quay schon 1977 an: ,,Comparing the results of studies utilizing samples described for example as simply `emotionally disturbed`, `delinquent`, `hyperactive` is next to impossible because of the tremendous variability subsumed by such descriptions”

(QUAY 1977, 285). Eine systematische Ordnung der Vielfalt ist Voraussetzung für die Erforschung überindividueller Gesetzmäßigkeiten zur Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten und zur Analyse und Begründung von Zielsetzungen und zur Entwicklung von pädagogisch-therapeutischen Maßnahmen. In der pädagogischen Praxis werden zum Verständnis und zur Charakterisierung individueller Personen überindividuell relevante allgemeine Konzepte herangezogen und benötigt (vgl. SCHMIDTKE 1980,64).

Dazu wird auf die von dem Philosophen Wilhelm Windelband 1894 getroffene Unterscheidung zwischen idiographischer und nomothetischer Forschungsrichtung verwiesen. Idiographisch ist eine Forschungsrichtung, deren

Einleitung und Fragestellungen

28

Ziel die umfassende Analyse zeitlich und räumlich einzigartiger Gegenstände ist.

Nach Windelband ist dies die Denkweise der Geisteswissenschaften.

Nomothetisch ist eine Forschungsrichtung, deren Ziel wissenschaftlicher Arbeit allgemeingültige Gesetze sind. Nomothetische Theorien abstrahieren von den konkreten Phänomenen. Dies ist die Denkweise der Naturwissenschaften (vgl.

WEBER 2005,127;LAUX /RENNER 2005, 225; STEMMLER u. a.2011, 46; ASENDORPF 2000, 74ff.;2011,152).

Die Zuordnung von idiographischer Denkweise zu den Geisteswissenschaften und von nomothetischer Denkweise zu den Naturwissenschaften ist nach KAMLAH / LORENZEN (vgl. 1967, 167) nicht aufrecht zu halten, insofern auch Geisteswissenschaften allgemeine Aussagen und auch Naturwissenschaften Partikularaussagen machen. Dies hängt damit zusammen, dass die nomothetischen Abstraktionen auf konkreten Einzelfällen beruhen und dass auch bei der idiographischen Vorgehensweise abstrahiert werden muss, worauf bereits Heinrich Rickert hingewiesen hat: „Deshalb wird man auch Bedenken tragen müssen mit Windelband den Unterschied von Naturwissenschaft und Geschichte so zu bestimmen, daß man sagt, die eine suche Gesetze, die andere Gestalten“

(RICKERT 1926, 76).

So geht der idiographische Erkenntniszugang von der unteilbaren und geschichtlich einzigartig gewordenen Individualität des Menschen aus, kann diese Einzigartigkeit jedoch nicht an sich darstellen, sondern nur unter Bezug auf existentiell-allgemeine Beschreibungsgesichtspunkte. Der nomothetische Erkenntniszugang erkennt die Einzigartigkeit des Individuums an, sucht aber nach überindividuellen Beschreibungsgesichtspunkten. Die Besonderheit der einzelnen Person findet dann Berücksichtigung durch ihre Platzierung innerhalb der überindividuellen Merkmale (vgl. SADER /WEBER 1996, 103; LAUX /RENNER 2005, 225; WEBER 2005, 127; ASENDORPF 2011, 152; STEMMLER u. a. 2011, 46).

Das Spannungsverhältnis zwischen idiographischer und nomothetischer Betrachtung und die Funktion nomothetischer Erkenntnisse für die nähere Charakterisierung von Individuen werden an folgender Kontroverse über das diagnostische Vorgehen deutlich.

MEEHL hat unter der Formulierung „clinical versus statistical prediction“ (1954) zwei unterschiedliche Konzepte der diagnostisch begründeten Vorhersage zukünftigen Verhaltens und Erlebens betrachtet (vgl. KROHNE /HOCK 2007, 155;

BEAUDUCEL /LEUE 2014, 51ff.).

Die klinische Urteilsbildung ist darauf ausgerichtet, unter ausschließlicher diagnostischer Betrachtung des Individuums dessen Einzigartigkeit

Funktion und Konzepte der Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten

29 herauszustellen. Es handelt sich um eine intraindividuelle Betrachtung der eigenartigen besonderen Qualität der Merkmale einer Person, der einzigartigen Weise ihrer Verbundenheit zueinander, ihrer „Geschichte“ (ASENDORPF 2011, 152). Die diagnostische Untersuchung ist nicht darauf angelegt, vorgegebene Merkmale und Beschreibungskategorien auf das Vorhandensein oder die Ausgestaltung im Einzelfall zu überprüfen, sondern soll offen sein für aus dem Einzelfall sich ergebende diagnostische Informationen. Dazu bedient sie sich diagnostischer Untersuchungsverfahren, die offen sind für die individuelle Einzigartigkeit der untersuchten Person (wie diagnostisches Gespräch, offene anekdotische Verhaltensbeobachtung, so genannte projektive Verfahren). Die Gewichtung und Verknüpfung der gewonnenen diagnostischen Informationen erfolgt nach Überlegungen des Diagnostikers (vgl. KROHNE /HOCK 2007, 155).

Die statistische Urteilsbildung stützt sich auf empirisch ermittelte Regeln und Gesetzmäßigkeiten, welche durch die Untersuchung vieler Personen mittels bestimmter diagnostischer Methoden gewonnen wurden. Diese diagnostischen Methoden werden dann auch bei der Diagnostik des Einzelfalls angewendet. Das Individuum wird hinsichtlich bestimmter vorher festgelegter diagnostischer Variablen und im Vergleich mit anderen Individuen beurteilt. Dazu werden überindividuell festgelegte Untersuchungsverfahren eingesetzt, insbesondere solche, bei denen die Ausprägung von Persönlichkeitszügen interindividuell verglichen werden kann (z. B. inhaltlich festgelegtes diagnostisches Gespräch und Fragebogen, inhaltlich festgelegte Verhaltensbeobachtung in festgelegten Beobachtungssituationen, Testverfahren mit festgelegten Items). Die Gewichtung und Verknüpfung der ermittelten diagnostischen Informationen erfolgt nach vorgegebenen Regeln (vgl. KROHNE /HOCK 2007, 156). Der einzelne Diagnostiker hat darauf keinen Einfluss.

Von den Anhängern der beiden diagnostischen Konzeptionen werden jeweils deren besondere Grenzen und Möglichkeiten herausgestellt (vgl. SCHMIDT -ATZERT / AMELANG 2012, 390ff.). Die klinische Urteilsbildung ist dem Ziel oder Anspruch der Erfassung der individuellen Einzigartigkeit verpflichtet. Ihre Grenzen liegen in der Abhängigkeit von subjektiven Sichtweisen des Diagnostikers (vgl.

HELLER /NICKEL 1978b, 22ff.). Die statistische Urteilsbildung intendiert ebenfalls eine nähere Charakterisierung des Einzelfalls, geht jedoch nicht von dem Ziel oder Anspruch aus, die jeweilige Einzigartigkeit völlig zu erfassen. Die auf empirisch ermittelten Regeln basierenden diagnostischen Urteile werden nur als Annäherung an die Einzigartigkeit des Individuums gesehen. Der Vorteil der statistischen Urteilsbildung liegt in der Unabhängigkeit von den Sichtweisen des Diagnostikers, in der durch die festgelegten diagnostischen Vorgehensweisen

Einleitung und Fragestellungen

30

und die vorgegebenen Regeln der Urteilsbildung ermöglichten Objektivität und damit in der interindividuellen Fairness der Beurteilung verschiedener Personen.

In den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts war in der Sonderpädagogik ein Plädoyer für eine einzelfallbezogene Diagnostik mit Ablehnung einer auf empirisch ermittelten Regeln basierenden Diagnostik verbreitet (vgl. EGGERT 2003, 2007; MAND 2003, 32ff.). Nach PETERMANN / PETERMANN (vgl. 2006, Vorwort) besteht diese ablehnende Haltung in bestimmten Bereichen der Sonderpädagogik auch weiterhin. Eine Erklärung hierfür wird - auch von Vertretern der Sonderpädagogik - in einem unzureichenden diagnostischen Kenntnisstand gesehen (vgl. RÓSZA / LANGFELDT 1998, 202; NUSSBECK 2001, 160f.). Insgesamt gilt die Kontroverse zwischen den beiden Konzepten und die Ablehnung statistisch fundierter diagnostischer Urteilsbildung allerdings als überwunden (vgl. ASENDORPF 2000; 2011; WEBER 2005), auch gemäß sonderpädagogischer Literatur (SCHUCK 2000, 234; BUNDSCHUH 2008, 160). Dies beruht auf der zur Beachtung gekommenen Erkenntnis, dass die Einzigartigkeit eines Individuums durch dessen isolierte Betrachtung „nicht erfassbar […], letztlich nicht einmal […] erkennbar“ (STEMMLER u. a. 2011, 46) wird. Die Möglichkeit, die Einzigartigkeit eines Gegenübers im Bewusstsein eines Diagnostikers authentisch abzubilden, bedürfte einer ontologischen Vorläufigkeit, wie sie nicht gegeben ist. Dies wird bei dem Plädoyer für eine ausschließlich auf den Einzelfall bezogenen Diagnostik übersehen. Der Diagnostiker kann sich der Einzigartigkeit des Gegenübers nur im Sinne einer „Asymptote“ (Stern 1911, zit.

in: ASENDORPF 2011, 154) annähern. Dies erfolgt durch die vergleichende Erfassung von Gemeinsamkeiten und von Unterschieden zu anderen Individuen.

Auch wenn der einzelfallorientierte Diagnostiker sich von der empirisch ermittelten Regelmäßigkeit distanziert, so bedient er sich jedoch einer auf bisherigen eigenen früheren Beobachtungen anderer Einzelfälle basierenden persönlichen Statistik, er stellt Vergleiche mit ihm bekannten anderen „Fällen“ (KROHNE /HOCK 2007, 115) an. So wird die „Unavoidability of Statistics“ (MEEHL 1954, 136) offensichtlich.

„Diagnostische Einschätzungen auf der Basis statistischer Urteilsbildung sind genauso gut und zumeist besser als diagnostische Einschätzungen auf der Basis klinischer Urteilsbildung“ (BEAUDUCEL /LEUE 2014, 54).

Das Erfordernis, zum näheren Verständnis des Einzelfalls diesen mit anderen Fällen hinsichtlich Ähnlichkeiten und Unterschieden zu vergleichen, führt zur Frage nach der Einteilung.

Beim Vorliegen von Einteilungen kann dann der zur Begründung von Fördermaßnahmen tätige Diagnostiker seine Beobachtungen über einen Einzelfall mit Arten von Verhaltensauffälligkeiten vergleichen, welche in einem