• Keine Ergebnisse gefunden

Die mit der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten und dem darauf abzustimmenden Förderbedarf verbundene Grundfrage (vgl. MYSCHKER /STEIN 2014, 150) lautet, was unter Verhaltensauffälligkeiten zu verstehen ist bzw. bei welchen Charakteristika von Kindern und Jugendlichen ein Förderbedarf im Bereich sozialer und emotionaler Entwicklung besteht.

So sind für den zur Bezeichnung des zentralen Gegenstands der vorliegenden Arbeit und im Titel der Arbeit verwendeten Begriff Verhaltensauffälligkeit die beiden Begriffskomponenten Verhalten und auffällig näher zu bestimmen.

Der Begriff Verhalten ist zunächst ein allgemeiner Begriff höherer Ordnung (vgl.

HILLENBRAND 1996, 201; 2008b, 14;MYSCHKER / STEIN 2014, 51). Als eine nähere Bestimmung dazu, was konkret darunter zu verstehen ist, liegt eine Gleichsetzung mit dem manifesten, d. h. nach außen in Erscheinung tretenden und von einem Beobachter wahrnehmbaren Verhalten nahe.

In der vorliegenden Arbeit wird eine inhaltlich weitere Bedeutung zugrunde gelegt.

Sie umfasst neben dem nach außen in Erscheinung tretenden Verhalten auch das unmittelbar nur der Person selbst zugängliche innere Erleben. Dazu gehören emotionale Erlebnisse (Gefühle) und kognitive Erlebnisse (Gedanken). Diese weite Auslegung des Begriffs Verhalten mit einer behavioralen, einer emotionalen und einer kognitiven Komponente ist üblicherweise auch bei der in der sonderpädagogischen Literatur häufigen Verwendung der Begriffe Verhaltensauffälligkeit oder Verhaltensstörung impliziert (vgl. BACH 1993;

HILLENBRAND 2008a, 2008b; AHRBECK /WILLMANN 2010; MYSCHKER /STEIN 2014).

Dort werden den Verhaltensauffälligkeiten bzw. Verhaltensstörungen jeweils sowohl manifestes Verhalten (z. B. schlagen), als auch Gefühle (z. B. Angst) und Gedanken (z. B. Selbsterleben von Minderwertigkeit) zugeordnet. Die Gefühle und das manifeste Verhalten berücksichtigend, spricht sich OPP (vgl. 2003, 43) für die von dem amerikanischen Fachverband CCBD (Council for Children with Behavior Disorders) vorgeschlagene Bezeichnung „Gefühls- und Verhaltensstörungen“ aus, wobei die kognitiven Erlebnisse nicht ausdrücklich beachtet werden.

Definitorische Bestimmung von Verhaltensauffälligkeit

19 Neuerdings, den Veröffentlichungen der KMK (vgl. 1994; 2000) folgend, tritt in der sonderpädagogischen Literatur und Praxis die Rede von einer Auffälligkeit oder Störung der emotionalen und sozialen Entwicklung (vgl. GASTEIGER-KLICPERA u. a. 2008) bzw. von einem Förderbedarf in diesen Entwicklungsbereichen in den Vordergrund. Die ausdrückliche Betonung von besonderem Förderbedarf im Bereich der emotionalen und der sozialen Entwicklung dient der Absicht, das in den bisher eingebürgerten Begriffen Verhaltensauffälligkeit und Verhaltensstörung mit der Begriffskomponente Verhalten Gemeinte näher zu definieren und von den anderen Förderbedarfen der körperlichen, der sprachlichen und der intellektuellen Entwicklung abzugrenzen (vgl. STEIN 2015, 16).

Der Verweis auf die emotionalen und sozialen Verhaltensaspekte leistet zwar eine nähere inhaltliche Abgrenzung von den anderen Arten der Beeinträchtigung als die Verwendung des allgemeinen Begriffs Verhalten. Jedoch erscheint diese Abgrenzung nicht prägnant und nicht hinreichend. So besteht beispielsweise eine Überlappung zwischen Förderbedarf im Bereich der sprachlichen Entwicklung und Förderbedarf im Bereich der sozialen Entwicklung. Und es werden durch die emotionalen und sozialen Verhaltensaspekte nicht alle Anteile der zuvor aufgezeigten drei Komponenten des Verhaltens (behaviorale, emotionale und kognitive Komponente) hinreichend differenziert zur Sprache gebracht (vgl. STEIN 2015, 16f.).

Ein Gesichtspunkt, der einen sachlichen Unterschied zwischen anderen Arten der Beeinträchtigung einerseits und Verhaltensauffälligkeiten andererseits erlaubt, liegt in der Unterscheidung zwischen dem so genannten Leistungsbereich und dem so genannten Persönlichkeitsbereich (vgl. STEMMLER u. a. 2011, 137 und 237).

Zum Leistungsbereich gehören Fertigkeiten, Wissen, Können. Die dem Leistungsbereich zuzuordnenden Verhaltensweisen werden danach beurteilt, ob und inwieweit sie bestimmten normativen Erwartungen und damit verbundenen Anforderungen an Tüchtigkeit und Können entsprechen. Von den auf Tüchtigkeit und Können bezogenen Leistungen werden diejenigen Aspekte des Verhaltens unterschieden, welche den Charakter oder das Wesen der Person ausmachen (vgl. SEITZ /RAUSCHE 2004, 12). In der deutschsprachigen Psychologie wird dafür der Begriff „Persönlichkeit >>im engeren Sinne<<“ (STEMMLER u. a. 2011, 238;

Hervorhebung im Original) verwendet. Demgemäß wird in der Diagnostik zwischen Leistungsdiagnostik und Persönlichkeitsdiagnostik unterschieden (vgl.

BORCHERT 2000, 249).

Einleitung und Fragestellungen

20

Die bereits erwähnten Aspekte des Emotionalen und Sozialen gehören dann zum Bereich der Persönlichkeit, decken jedoch nicht deren gesamtes Spektrum ab.

Dazu gehören insgesamt die folgenden, durch die verschiedenen theoretischen Positionen der Psychologie (behaviorale, psychodynamische, kognitive Positionen) herausgestellten Verhaltens- und Erlebensphänomene (vgl. SEITZ 1977, 11f.). Sie bilden das Gesamtspektrum des in der vorliegenden Arbeit in die Bezeichnung Verhaltensauffälligkeit implizierten Verhaltens. Jeweils wird dazu in Klammern ein Beispiel für eine Verhaltens- oder Erlebensweise angegeben, welche sich gemäß noch näher zu bestimmender normativer Kriterien gegebenenfalls als auffällig beurteilen lässt:

- Stil-Eigenarten des manifesten (motorischen, sprachlichen und mimischen) Verhaltens und der manifesten emotionalen Reaktionen (z. B. hyperaktives Verhalten, emotionale Erregbarkeit),

- Gefühle als verhaltensbegleitende innere Erlebnisse (z. B. Unlust beim Erledigen von Aufgaben) und als Grundstimmungen (z. B. depressive Haltung),

- Motive als (emotional oder kognitiv fundierte) Beweggründe des Verhaltens, wie Bedürfnisse, Bereitschaften, Einstellungen, Werthaltungen (z. B.

Bedürfnis nach Aggressionen gegen andere),

- Gedanken der Reflexion über sich selbst (Selbstbild, z. B.

Minderwertigkeitserleben) und über die Umwelt und die Mitmenschen (Fremdbild, z. B. hoher Zukunftspessimismus, Argwohn gegenüber Mitmenschen).

Für die definitorische Bestimmung des Verhaltens bzw. der verschiedenen Verhaltens- und Erlebensphänomene als auffällig werden in der sonderpädagogischen Literatur (vgl. SPECK 1979, 6; SEITZ 1982, 16f.; BACH 1993, 1; HILLENBRAND 2008a, 29; SEITZ /STEIN 2010, 920; STEIN 2015, 23ff.; MYSCHKER /STEIN 2014, 50f.) vor allem folgende normative Kriterien herangezogen.

Soziokulturelle Normen verkörpern die Umgangsregelungen, Werthaltungen, Sollenserwartungen, Gesetze, an denen sich das Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft oder Gemeinschaft orientieren sollte und nach denen es von den übrigen Mitgliedern beurteilt wird. Dabei lässt sich zwischen so genannten impliziten, d. h. durch die alltäglichen zwischenmenschlichen Interaktionen informell tradierten, und so genannten expliziten soziokulturellen Normen, d. h.

formell ausformulierten und verbindlich vorgegebenen Gesetzen, unterscheiden.

Persönliche normative Wertvorstellungen einzelner Beurteiler (z. B. von Eltern, von Lehrkräften) über angemessenes, aus persönlicher Sicht als normal

Definitorische Bestimmung von Verhaltensauffälligkeit

21 betrachtetes Verhalten eines Kindes sind von den allgemeinen soziokulturellen Normen tangiert, richten sich aber auch nach den individuellen Sozialisationserfahrungen des Beurteilers.

Nach eigenen subjektiven normativen Maßstäben für die Bewertung ihres Verhaltens kann sich die Person selbst als auffällig, andersartig, unausgeglichen oder gestört beurteilen.

Statistische Normen beruhen auf empirischen Bestandsaufnahmen über die Realität (Ist-Normen) bei bestimmten Personengruppen. Danach ist dasjenige Verhalten oder Erleben als normal zu bezeichnen, welches einer empirisch ermittelten zentralen Tendenz entspricht.

Die zentrale Tendenz liegt bei der Betrachtung von Verhaltens- oder Erlebensweisen mit einer interindividuell unterschiedlichen numerischen Ausprägung in der mittleren numerischen Ausprägung (im Median oder im Arithmetischen Mittel), bei der vergleichenden Betrachtung von qualitativ unterschiedenen Verhaltens- oder Erlebensweisen in der bei der betreffenden Personengruppe in der Realität am häufigsten vorkommenden Variante (so genannter Modalwert oder Dichtemittel).

Statistisch auffällig und auf einen Förderbedarf hinweisend wären demgemäß Verhaltens- und Erlebensweisen, die in ihrer numerischen Ausprägung signifikant von der durchschnittlichen Ausprägung bzw. von der häufigsten Variante abweichen.

Nach psychologisch-fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten kann das Verhalten danach beurteilt werden, ob es dem Wohl der Person und ihrer sozialen Kontakte entspricht. Dafür sind zwei normative Aspekte bedeutsam:

Der psychohygienische Aspekt betrifft die Frage, ob ein Verhalten oder Erleben einer Person (z. B. eines Kindes oder Jugendlichen) im Interesse der jetzigen und zukünftigen psychischen Gesundheit dieser Person liegt (vgl. SEITZ /STEIN 2010, 920). Hierbei wird auch von personaler Integration im Sinne von innerpsychischer Ausgeglichenheit gesprochen.

Der soziohygienische Aspekt betrifft die Frage, ob ein Verhalten oder Erleben einer Person im Interesse der Gemeinschaft liegt, welcher die Person angehört (vgl. SEITZ / STEIN 2010, 920). Hierbei wird auch von sozialer Integration gesprochen.

Beide Aspekte lassen sich voneinander abgrenzen, sind andererseits aber auch aufeinander bezogen. So kann eine personale Integration nur unter sozialer

Einleitung und Fragestellungen

22

Integration gelingen und eine gelungene soziale Integration braucht personale Integration (vgl. SPECK 2008, 363f.).

Sofern sich das Verhältnis bzw. die Gewichtung zwischen Psychohygiene und Soziohygiene einseitig erstarrt zeigt, leidet darunter entweder die Person selbst oder es leidet die Gemeinschaft oder es leiden beide. Dabei kann dieser Leidensdruck bei der Person selbst bewusst als solcher erlebbar werden, kann aber auch durch einen mit der Auffälligkeit verbundenen, subjektiv erlebten Gewinn dem Bewusstsein ferngehalten werden.

Zur psychologisch-fachwissenschaftlichen Beurteilung solcher psychopathologischer Entwicklungsfolgen bedarf es fachspezifischen Expertenwissens (vgl. KROHNE /HOCK 2007, 217).

Eine Verhaltens- oder Erlebensweise, welche der personalen oder der sozialen Integration oder einem ausgewogenen Verhältnis beider entgegensteht, gilt aus Sicht der psychologisch-fachwissenschaftlichen Norm als auffällig und weist auf einen Förderbedarf hin.

Zu den verschiedenen dargelegten normativen Kriterien und zu darauf bezogenen Beurteilungen eines Verhaltens oder Erlebens als auffällig, stellt sich auch die Frage nach der Objektivität, d. h. nach der Einheitlichkeit der Anwendung, insbesondere bei der Beurteilung des Verhaltens oder Erlebens verschiedener Personen.

Mit Ausnahme der statistischen Normen und daran orientierten Beurteilungen und weitgehend auch mit Ausnahme der expliziten gesetzlichen Rechtsnormen ist bei den anderen normativen Kriterien die betreffende Objektivität mehr oder weniger eingeschränkt. Dies betrifft beide Schritte des Beurteilungsvorgangs, sowohl die Auswahl der als Grundlage der Beurteilung herangezogenen konkreten Verhaltens- oder Erlebensweisen als auch die anschließende Handhabung der jeweiligen Beurteilungskriterien.

Statistische Normen beziehen sich bei allen Angehörigen der Normierungsgruppe auf die gleichen Verhaltens- oder Erlebensweisen. Deren Beurteilung als auffällig beruht auf statistisch ermittelten Regeln und Indikatoren, welche im Falle aller zu beurteilenden Angehörigen der Normierungsgruppe zur Anwendung kommen.

Der sich an statistischen Normen orientierende Beurteiler kann weder auf die der Beurteilung zugrunde liegenden Verhaltens- oder Erlebensweisen noch auf die Umsetzung der Beurteilungsregeln Einfluss nehmen. Die strafrechtlichen Normen und ihre Anwendung sind hiermit vergleichbar.

Definitorische Bestimmung von Verhaltensauffälligkeit

23 Bei Beurteilungen nach den anderen dargelegten normativen Kriterien können dagegen subjektive Einflüsse des Beurteilers zum Tragen kommen, welche insbesondere die Einheitlichkeit der Beurteilung des Verhaltens verschiedener Personen einschränken. Insofern ist hier der normativ Betrachtende, der beobachtende Beurteiler, in den Begriff Verhaltensauffälligkeit eingeschlossen (vgl. BUNDSCHUH 2007, 197).

Die Einschränkung der Einheitlichkeit gilt sowohl dann, wenn verschiedene Personen selbst ihr Verhalten als auffällig beurteilen als auch dann, wenn verschiedene Beobachter (z. B. Eltern, Lehrkräfte) das Verhalten der gleichen Person oder das Verhalten verschiedener Personen beurteilen. Dabei kann sich das Augenmerk jeweils auf andere konkrete Verhaltens- oder Erlebensweisen richten und es können die bei der Personbeurteilung vorkommenden Beurteilungsfehler, wie Strenge oder Milde, Sympathie oder Antipathie, Tendenz zu mittleren oder zu extremen Beurteilungen (vgl. HASEMANN 1971, 825;

BODENMANN 2006,157) unterschiedlich zum Tragen kommen.

Auch die psychohygienische und soziohygienische Beurteilung durch psychologisch- fachwissenschaftliche Experten ist davon nicht ganz frei.

Bei dieser Sachlage sind die an verschiedenen normativen Kriterien orientierten Beurteilungen des gleichen Verhaltens als auffällig oder als nicht auffällig nicht völlig deckungsgleich. Wenngleich im Allgemeinen von einer hohen diesbezüglichen Übereinstimmung auszugehen ist, kann doch in Einzelfällen die Bewertung nach verschiedenen normativen Kriterien unterschiedlich ausfallen.

So kann beispielsweise ein nervös-unruhiges, impulsives Verhalten eines Kindes von einem auf die Psychohygiene achtenden Beurteiler als auffällig gesehen werden, sich aber bei Zugrundelegung einer statistischen Norm (so etwa bei allgemein durchschnittlich hoher Impulsivität von Kindern) als unauffällig erweisen.

Abschließend lässt sich in Anlehnung an SEITZ / STEIN (vgl. 2010, 920) zur Relevanz der verschiedenen normativen Kriterien für die pädagogische Praxis Folgendes feststellen. Die qualitative Begründung für einen sonderpädagogischen Förderbedarf ergibt sich insbesondere daraus, dass ein bestimmtes Verhalten oder Erleben der Psychohygiene der Person und / oder der Soziohygiene ihrer sozialen Kontakte entgegensteht. Ein weiteres, nämlich ein quantitatives Kriterium für einen Förderbedarf liegt darin, dass das betreffende Verhalten und / oder Erleben deutlich von einer statistischen Norm abweicht.

Einleitung und Fragestellungen

24

Zur definitorischen Bestimmung der in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegten Bedeutung von Verhaltensauffälligkeit gehört auch eine Festlegung bezüglich der Nachhaltigkeit.

Bei BACH (vgl. 1978, 21; 1993, 8) findet sich folgende Unterscheidung verschiedener Entwicklungsstufen und Ausprägungsgrade von ihm so genannter Verhaltensbeeinträchtigungen.

Bei der ersten Entwicklungsstufe handelt es sich um kurzfristige und situationsabhängige Auffälligkeiten. Als Vorstufe der nächsten Stufe können sie auch als Pseudo-Verhaltensstörungen gesehen werden. Damit ist gemeint, dass ihre Entwicklung zwar noch nicht so weit fortgeschritten ist wie bei einer Verhaltensstörung, dass sie jedoch für einen Beobachter so wie Letztere in Erscheinung treten. Es können dabei auch korrekturbedürftige Sichtweisen bzw.

situationsbedingte Fehleinschätzungen maßgeblicher Bezugspersonen vorliegen (vgl. BACH 1978, 21f.; 1993, 30).

Bei der zweiten als Verhaltensstörung bezeichneten Entwicklungsstufe handelt es sich um relativ überdauernde, aber beeinflussbare Irregularitäten. Sie beruhen nicht auf der für Fehleinschätzungen anfälligen Sichtweise eines Beobachters, sondern sind diagnostisch „objektivierbar“ (BACH 1978,22).

Bei der dritten Entwicklungsstufe, den Verhaltensbehinderungen, handelt es sich um extrem schwere, andauernde und umfängliche, um generalisierte und relativ fixierte Störungen, die nur schwer oder nur teilweise modifizierbar sind (vgl.BACH 1993, 32), wie z. B. „extrem autistisches, psychotisches oder aufgrund von Hirnschädigungen auftretendes Verhalten“ (BACH 1993, 8).

Die in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegte Bedeutung von Verhaltensauffälligkeit korrespondiert mit den bei BACH (vgl. 1993) als Verhaltensstörung und als Verhaltensbehinderung bezeichneten Varianten.

So steht in der vorliegenden Arbeit Verhaltensauffälligkeit für eine relativ stabil über verschiedene Zeitpunkte, relativ generell über verschiedene Situationen und relativ konsistent über einzelne konkrete Verhaltens- und / oder Erlebensweisen hinweg auftretende Handlungs- und Reaktionstendenz. Die Stabilität, Generalität und Konsistenz beruhen auf zu verschiedenen Zeitpunkten, in verschiedenen Situationen und als Reaktion auf verschiedene Verhaltens- und Erlebensweisen sich wiederholenden (gleichen oder weitgehend ähnlichen) sozialen Erfahrungen in der zurückliegenden Biografie. Das Additiv ´relativ´ verweist auf eine - bei einer Verhaltensbehinderung im Sinne von Bach allerdings nicht gegebene - Offenheit für Veränderungen durch pädagogische Maßnahmen.

Definitorische Bestimmung von Verhaltensauffälligkeit

25 In Abgrenzung von stabilen, generellen und konsistenten Handlungs- und Reaktionstendenzen sind konkrete Verhaltens- und Erlebensweisen zu erwähnen, welche speziell (nur) zu bestimmten Zeitpunkten in bestimmten Situationen auftreten. Ihr Auftreten ist nicht allein durch Handlungs- und Reaktionstendenzen der Person zu erklären, vielmehr kommt es zu einer aktuellen Wechselwirkung zwischen Dispositionen der Person und aktuellen situativen äußeren Bedingungen. Resultieren daraus Verhaltens- oder Erlebensweisen, welche, gemäß der zuvor genannten normativen Kriterien, als auffällig einzuordnen sind, wird dann dies als Verhaltensstörung bezeichnet (vgl.

SEITZ /STEIN 2010,920). Dies geschieht in Anlehnung an die Verwendung des Begriffs Störung für Unregelmäßigkeiten in Funktions-Regelkreis-Systemen.

Verhaltensstörung steht dann für eine Dysfunktionalität im Regelkreis aus Person und aktueller Umwelt.

Zur weiteren Erläuterung von Verhaltensauffälligkeit als einer überdauernden Handlungs- und Reaktionstendenz werden hier kurz ein in der Persönlichkeitspsychologie und der daran orientierten diagnostischen Psychologie verwendeter Begriff und die Diskussion zu dem durch diesen Begriff bezeichneten Konzept angesprochen.

Verhaltens- und Erlebenstendenzen, die mehr oder weniger konsistent über verschiedene ähnliche konkrete Verhaltensweisen und Erlebnisse hinweg, mehr oder weniger generell über verschiedene Situationen hinweg und mehr oder weniger konstant über längere Zeit hinweg auftreten, werden als Persönlichkeitseigenschaften oder Persönlichkeitszüge (engl. traits) bezeichnet, so etwa der Persönlichkeitszug Ängstlichkeit. Davon werden die so genannten states (aktuelle Zustände) unterschieden: Spezielle Verhaltensweisen oder Erlebnisse, die nur aktuell zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Situation auftreten, wie etwa ein durch eine bestimmte Situation ausgelöstes aktuelles Erleben von Angst. Die Unterscheidung zwischen trait und state ist insbesondere durch die Unterscheidung von Spielberger (1966, 1972, 1980; vgl.

SCHWARZER 2000, 91; HANNOVER u. a. 2005, 547) zwischen dem trait Ängstlichkeit und dem state Angst bekannt geworden.

Kritik am trait-Konzept geht dahin, dass dabei die aktuellen situativen Umstände, welche zum Verhalten und Erleben beitragen, in den Hintergrund treten. Es wird dann auch gefragt, ob und inwieweit das Konzept der traits für die Diagnostik als Grundlage von Fördermaßnahmen brauchbar ist.

Einleitung und Fragestellungen

26

Die Berechtigung und Brauchbarkeit des trait-Konzepts wird aus verschiedenen theoretischen Richtungen der Psychologie (verhaltenstheoretisch-behavioristisch, kognitionspsychologisch, psychodynamisch) untermauert.

So lässt sich aus behavioristischer Sicht die Entwicklung von überdauernden Persönlichkeitszügen „sowohl durch Prozesse der Reiz- und Reaktionsgeneralisierung aufgrund von Verstärkungslernen (vgl. dazu PAWLIK, 1976, S. 20ff.), aus kognitionspsychologischer Sicht durch kognitive Prozesse der Generalisierung von Einsichten und Annahmen über die Funktion und die Folgen eines bestimmten Verhaltens („purposive cognitive concepts“ nach ALSTON, 1970, 1975; „generalisierte Erwartungen“ nach ROTTER, 1972, vgl. dazu auch KRAMPEN, 1987) erklären“ (SEITZ /RAUTENBERG 2010, 10; Hervorhebungen im Original). Aus psychodynamischer Sicht lässt sich die Entwicklung von überdauernden Persönlichkeitszügen als Strukturbildung des Erlebens und Verhaltens verstehen (vgl. POUGET-SCHORS 2008, 574f.), die sich zum Beispiel in bestimmten Übertragungsmustern zeigen kann.

Es besteht Einigkeit, dass sowohl bei Erwachsenen (vgl. ASENDORPF 2005a, 15;

LAUX 2008, 16; HÄCKER /STAPF 2009, 739; STEMMLER u. a. 2011, 44) als auch bei Kindern und Jugendlichen (vgl. KRISCHER u. a. 2006, 91) von relativ mittel- bis langfristig stabilen Eigenschaften ausgegangen werden kann. Nach ANGLEITNER ist die Entwicklung von Persönlichkeitszügen „das Ergebnis der Interaktionsprozesse mit signifikanten Bezugspersonen“ (1980, 282), beispielsweise der Eltern. In der Regel werden Persönlichkeitszüge über die Lebensspanne hinweg stabiler (vgl. ASENDORPF 2005a, 19), können sich aber durch bedeutsame neue Erfahrungen auch verändern (vgl. RIEMANN 2006, 470), was insbesondere für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensauffälligkeiten bedeutsam wird.

Durch die zeitliche Stabilität und durch die Generalisierung über verschiedene Situationen und verschiedene konkrete Verhaltensweisen und Erlebnisse hinweg, bilden traits auch das Fundament für die Identität der Person. Identität beruht auf Beständigkeit (vgl. HÄCKER /STAPF 2009, 455). Die auf beständigen Erfahrungen basierenden Persönlichkeitszüge des Kindes tragen zur kindlichen Identität bzw.

zum kindlichen Selbstkonzept bei.

Für die Diagnostik wird das Konzept der Persönlichkeitszüge (traits) dann relevant, wenn auf der Grundlage diagnostischer Informationen auf das zukünftige Verhalten und Erleben in ähnlichen oder vergleichbaren Situationen außerhalb der diagnostischen Situation Schlussfolgerungen zu ziehen sind (vgl.

RIEMANN 2006, 469; SEITZ /RAUTENBERG 2010, 10).

Funktion und Konzepte der Klassifikation von Verhaltensauffälligkeiten

27 Das in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegte Verständnis von