• Keine Ergebnisse gefunden

Funktion des Danieltraumes

Kapitel II: Darstellung

1. CAESAR

1.3. Aufbau von Geltungsansprüchen

1.3.4. Funktion des Danieltraumes

Übereinstimmend geht die Forschung von einer gewollten Eingliederung des Danieltraums in die Caesargeschichte aus. Die im Annolied in der Geschichte der Weltreiche angesiedelte Textpassage wurde absichtlich zwischen die bereits abgeschlossenen Eroberungszüge Caesars und die die Episode beschließenden Siegesfeierlichkeiten geschoben und nicht, - hier äußere ich mich ein wenig spekulativ - , weil er an anderer Stelle vergessen wurde oder der Dichter besagten Textabschnitt noch unbedingt irgendwo unterbringen wollte.

In der Tat deutet alles darauf hin, dass die Danielspassage als aussagekräftiges Element einer ausgewogenen Textkomposition, der Caesarepisode, gesehen werden muss. Die Funktion verändert sich dementsprechend im Vergleich zum Annolied. Jedoch sollen auch in der Kaiserchronik die vier aus dem alttestamentlichen Buch Daniel entliehenen Tiere der Vision vier Reiche oder vielmehr deren Herrscher repräsentieren. Ernst Friedrich Ohly befaßt sich als erster näher mit den einzelnen Tieren und hebt das eine, den Eber, vor den anderen drei hervor. Dies sei dasjenige Tier, das auf Grund seiner dargestellten Schrecklichkeit am wenigsten geeignet erscheine, Rom beziehungsweise Caesar zu verkörpern. Die Korrelation Eber und Rom ist jedoch durch das Annolied vorgegeben, paßt aber nicht in die

201 Fiebig, 43ff.

202 vgl. Fiebig, 43 ff.

romzentrierte Konzeption der Chronik. Die Folge ist eine Umstellung, die der Dichter der Kaiserchronik vornehmen mußte. Die negativen Eigenschaften des Antichristen, die sonst dem Eber anhaften würden, beziehen sich nun auf die an vierter Stelle auftretende Löwin. Der Eber erhält Platz drei. Ohly glaubt demnach fest an eine zeitliche Rangfolge der

Erscheinungen. Der vierte Rang ist der schlechte; darauf folgt der Antichrist.

Eine andere Interpretation schlägt Gellinek vor. Die unrühmliche Ermordung Caesars müsse dem mittelalterlichen Publikum als Zeichen des nahenden Antichristen vorgekommen sein. 203 Die Danielsvision hat hier die Aufgabe, von diesem Sachverhalt abzulenken und die

Weltmacht Rom und ihren ersten Beherrscher erstrahlen zu lassen. An Stelle einer zeitlichen Reihung der verschiedenen Tiere bietet Gellinek ein schwebendes Nebeneinander der Tiere und Reiche an.

Annegret Fiebig will ebenfalls eine zeitliche Dimension bei der Existenz der Tiere und Reiche nicht zum Thema der Vision machen. Weniger habe die Vision die Funktion, die Geschichte in vier Abschnitte einzuteilen, als den epochalen Einschnitt in die Geschichte durch Caesar zu betonen.

Diesem Gedanken kann ich mich uneingeschränkt anschließen; es erscheint mir doch bezeichnend, dass die Vision gerade der Caesargeschichte angegliedert wurde. Die

Gegenwärtigkeit der Eroberungen und das Ausgerichtetsein auf die römischen Belange stehen doch unbezweifelt im Vordergrund und müssen auch so von den mittelalterlichen Rezipienten aufgenommen worden sein. An einer ausführlichen Darstellung der verschiedenen

geschichtlichen Perioden dürfte niemand zum gegebenen Zeitpunkt ein besonderes Interesse gehabt haben. Das Augenmerk richtet sich eher auf den, bezogen auf die Erzählung,

gegenwärtigen Caesar, mit dessen Geschichte der Beginn des Berichtszeitraumes der gesamten Kaiserchronik markiert wird, wie es bei Fiebig heißt.

Was verändert der Chronist eigentlich mit seiner schon viel besprochenen 204

Individualisierung beziehungsweise Personalisierung von geschichtlichen Räumen und Ereignissen?

203 hierzu ausführlich Ohly, Sage und Legende, 19 f. und mehr allgemein Haas. Todesbilder im Mittelalter, 127-130.

204 vgl. z.B. Ohly, Gellinek, Fiebig, die, wie ich auf den vorherigen Seiten vermerkt habe, die Vision Daniels, entgegen der Auffassung des Annolied-Dichters, auf vier Könige, also vier Individuen, bezogen hatten.

Die Personalisierung oder Individualisierung von historischen Räumen und Ereignissen ist als eine im Vergleich zum Annolied auffallende Neuerung der Kaiserchronik zu betrachten.

Gerade der Danieltraum bezieht sich hier auf vier mächtige Könige und nicht mehr nur auf unpersönliche Königreiche. Die Bedeutung liegt darin, dass damit zeitliche Abläufe ein Gesicht bekommen, nämlich das eines sie zu verantwortenden Herrschers. Die

Zuordnung von Ereignissen fällt bedeutend leichter, wenn diese an einem mit einer bestimmten Biografie versehenen König oder Kaiser festgemacht werden können, wohingegen eine Aussage wie: “Die Perser besiegten die Griechen.” einen historischen Sachverhalt nur sehr ungenau und mißverständlich widerspiegeln kann. Wenn auch in den volkssprachigen Laienkreisen des frühhöfischen Mittelalters vermutlich die Verknüpfung einer historischen Situation mit der ihr entsprechenden Jahreszahl im Allgemeinen nicht vorausgesetzt werden kann, dann wahrscheinlich doch die Zuordnung zu einer historischen Person, die somit eine wichtige Markierungseigenschaft in der Gliederung von zeitlichen Abläufen einnimmt.

Wir hatten bereits an anderer Stelle, nämlich bei den Kämpfen Caesars gegen die deutschen Stämme, die Einführung individualisierter Gegner beobachten können. 205 Massenschlachten hat es im Laufe der Jahrhunderte viele gegeben; möglicherweise bleibt ein damit verbundener Name einer handelnden Person haften, und eventuell vorhandenes biografisches Material einer zumindest lokalen Berühmtheit kann als Zeitangabe für die Rekonstruktion von

historischen Ereignissen dienen. Diese Hoffnung bewahrheitet sich natürlich nicht immer, läßt aber die Bemühung des Kaiserchronisten erkennen, seinen Handlungen ein Gesicht zu geben.

Ebenso ist, wenn bewußt so genannte Allerweltsnamen oder in irgendeiner Weise erfundene und sonst nirgendwo bekannte Namen, die schwerlich der Identifikation einer real existenten Person dienen können, gewählt werden, 206 eine Pseudo-Konstruktion von Abläufen

vorstellbar. Diese voranzutreiben und scheinbar zu verifizieren, da Mitwirkende, die gleichzeitig auch Zeugen sind, namentlich genannt werden können, scheint das dahinterstehende Kalkül gewesen zu sein.

205 Man denke hierbei besonders an den mit Assoziationen zur volkssprachigen Sage behafteten Namen Dietrich, der in der Kaiserchronik gleich dreimal an Herrschende vergeben wird (Müller-Römheld, 93). Zu den

Implikationen siehe Ernst Hellgardt. Dietrich von Bern in der deutschen Kaiserchronik. Zur Begegnung

mündlicher und schriftlicher Traditionen. In: Deutsche Literatur und Sprache von 1050 – 1200. FS für U. Hennig zum 65. Geb. . Hg. von A. Fiebig und H.J. Schiewer. Berlin 1995, 93-110.

206 Vgl. hierzu Müller-Römheld: “Im Annolied findet sich also eine andere Form genealogischen Interesses; die Genealogie begründet den Anspruch eines Stammes, nicht den eines Menschen. Im Annolied wird die Bedeutung von Genealogie und Erbe für den Einzelmenschen nicht geklärt.” (Müller-Römheld, 62) Die Kaiserchronik verändert das Annolied, indem fiktive Genealogien (die Burgherren und Franken-Brüder Signator, Labian und Dulzmar) und personifizierte Kämpfe (Caesar gegen Prenne, Boimunt und Ingram) die Aktualität der ständischen Gliederung einer höfischen Gesellschaft mit einzelnen Repräsentanten wiedergeben.

Das Annolied, das ein paar Generationen vor der Kaiserchronik entstanden ist, steht auf diesem Gebiet offenbar weniger unter Beweiszwang. Es bevorzugt die Schilderung vergleichsweise anonymer Schlachten und erwähnt nicht personifizierte Reiche. Meiner Ansicht nach steckt hier der Gedanke von Kontinuität dahinter. Die Schlachten sind keine einmaligen Erscheinungen; sie wiederholen sich (zugegebenermaßen steigernd). Nur die Tatsache, dass Caesar aktiv kämpft und siegt, scheint wesentlich. Caesar selbst bekleidet im Annolied nur eine Beispielposition in einem Jahrhunderte andauernden Kontinuum von römischen Kaisern, das er allerdings begründet. Die nicht personifizierten Reiche der Meder, Perser oder Griechen wirken eher wie ein langwährendes Phänomen, als dass es auf eine bestimmte Aera in ihrer Existenz ankäme. Alles scheint sich innerhalb einer gottgewollten Ordnung zu befinden und sich geradlinig auf den Auftritt Annos zuzubewegen.

Somit müssen der Danieltraum und die Funktion der Namensnennungen in Annolied und Kaiserchronik unterschiedliche Bewertungen erfahren.