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8. Analyse ausgewählter Zaubermärchen

8.8. Frau Holle

8.8.1. Inhaltsangabe

Eine Witwe hatte zwei Töchter, von denen eine schön und fleißig und die andere hässlich und faul war. Die Mutter hatte die faule und hässliche jedoch lieber, da nur sie ihre richtige Tochter war, und ließ die andere alle Arbeiten im Haus verrichten. Das Mädchen musste auch jeden Tag an einer Straße so lange spinnen, bis seine Finger blutig waren. Eines Tages wollte es gerade das Blut von der Spule im Brunnen an der Straße abwaschen, als ihm die Spule aus der Hand fiel und im Brunnen versank. Als es der Mutter erzählte, was passiert war, befahl ihm diese, die Spule wieder heraus zu holen. Es ging erneut zum Brunnen und, weil es sich nicht anders zu helfen wusste, sprang es hinein und verlor das Bewusstsein. Es erwachte auf einer Wiese und als es bei einem großen Backofen vorbeikam und das Brot im Backofen schrie, das Mädchen solle es doch bitte herausnehmen, tat das Mädchen es. Danach kam es an einem Baum vorbei, der voll war mit Äpfeln. Dieser wollte vom Mädchen geschüttelt werden, weil die Last der vielen Äpfel zu groß war. Auch diese Bitte erfüllte das Mädchen. Als es zu einem kleinen Haus kam, schaute eine Frau mit großen Zähnen heraus und das Mädchen fürchtete sich vor ihr. Diese Frau war die Frau Holle und sagte ihm, dass es keine Angst haben müsse. Das Mädchen sollte jegliche Arbeiten im Haus erledigen und unter anderem das Bett der Frau Holle täglich aufschütteln, damit es auf der ganzen Welt schneie. Es folgte den Anweisungen und erfüllte fleißig die Aufgaben.

Doch nach einiger Zeit bekam das Mädchen Heimweh und Frau Holle ließ es gehen. Sie begleitete es zu einem großen Tor, wo es zum Dank mit Gold überschüttet wurde, was an ihm haften blieb. Außerdem erhielt es seine Spule zurück. Als das Mädchen voller Gold nach Hause kam, wurde es dort mit Freuden aufgenommen. Die Mutter schickte jedoch ihre andere Tochter ebenfalls zum Brunnen und sie sollte das Gleiche erleben, wie die schöne Schwester. Also sprang die hässliche Schwester in den Brunnen. Sie nahm jedoch das Brot nicht aus dem Backofen, schüttelte den Baum nicht und erfüllte auch die Aufgaben, die ihm Frau Holle auftrug, nur einen Tag lang. Als das faule

Mädchen wieder nach Hause wollte, begleitete es Frau Holle zum Tor, wo es mit Pech überschüttet wurde, was ebenfalls an ihr haften blieb.207

8.8.2. Analyse

Auch in diesem Märchen wird der Weggang mehrfach kodiert, durch den täglichen Gang des Mädchens zum Brunnen. „Das arme Mädchen mußte sich täglich auf die große Straße bei einem Brunnen setzen und mußte so viel spinnen, daß ihm das Blut aus den Fingern sprang.“208

Vor dem entscheidenden Weggang, leistet das Mädchen Widerstand, indem es weint.

„Es weinte, lief zur Stiefmutter und erzählte ihr das Unglück.“209 Danach folgt der entscheidende Weggang, als das Mädchen erneut zum Brunnen geht, um die Spule wieder heraus zu holen.

Der Gang zum und Aufenthalt im Initiationsbezirk erfolgt, als das Mädchen in den Brunnen springt, der als Grenze zwischen den beiden Welten betrachtet werden kann.

Auf diese Weise stellen sich auch die Tranceversetzung und der symbolische Tod dar.

Das Mädchen verliert beim Sprung in den Brunnen das Bewusstsein, ist gewissermaßen in Trance bzw. weiß auch nicht, wie es an den Ort gekommen ist. „Es verlor die Besinnung, und als es erwachte und wieder zu sich selbst kam, war es auf einer schönen Wiese,[…].“210

Die Metamorphose tritt ein, indem das Mädchen besondere Speisen zu essen bekommt.

„[…]; dafür hatte es auch ein gut Leben bei ihr, kein böses Wort und alle Tage Gesottenes und Gebratenes.“211 Durch den Goldregen findet die Metamorphose ihre Vollendung, indem das Mädchen gewissermaßen markiert wird. „Das Tor ward aufgetan, und wie das Mädchen gerade darunterstand, fiel ein gewaltiger Goldregen, und alles Gold blieb an ihm hängen, so daß es über und über davon bedeckt war.“212 Frau Holle erweist sich als gute Initiatorin, da sie dem Mädchen Aufgaben erteilt, aber das Mädchen nicht leiden muss. Im Gegensatz dazu nimmt die Stiefmutter die Position

einer bösen Initiatorin ein, die das Mädchen Arbeiten verrichtet lässt, bei denen es Schmerzen ertragen muss.

Indem das Mädchen das Brot aus dem Ofen holt und den Baum schüttelt, bis alle Äpfel herunterfallen, und diese dann auch sammelt, wird die Belehrung dargestellt. „Da schüttelte es den Baum, daß die Äpfel fielen, als regneten sie, und schüttelte, bis keiner mehr oben war; und als es alle in einen Haufen zusammengelegt hatte, ging es wieder weiter.“213

Das Mädchen muss sich bereits zu Hause, aber später auch im Hause der Frau Holle um den Haushalt kümmern, was als Abschnitt der Übung gelten kann. „Es besorgte auch alles nach ihrer Zufriedenheit und schüttelte ihr das Bett immer gewaltig, auf das die Federn wie Schneeflocken umherflogen.“214

Bei der Rückkehr aus dem Initiationsbezirk wird das Mädchen freudig von ihrer Stiefmutter und Stiefschwester aufgenommen, obwohl die Freude der Familie auf seinen neu erworbenen Reichtum des Mädchens zurückzuführen ist. „Da ging es hinein zu seiner Mutter, und weil es so mit Gold bedeckt ankam, ward es von ihr und der Schwester gut aufgenommen.“215

Es gibt keine Familiengründung, da in diesem Märchen auch kein männlicher Charakter vorkommt.

Bei dieser Initiation eines Mädchens werden der Weggang mehrfach kodiert und Abschnitte wie der symbolische Tod nur vage angedeutet. Hier werden gewissermaßen zwei Initiationsgeschichten behandelt, wobei die der faulen Schwester kein gutes Ende nimmt. Die Schwester durchläuft die gleichen Abschnitte wie die Protagonistin, jedoch erfüllt sie die ihr aufgetragenen Aufgaben nicht. Es gibt auch keinen männlichen Part, wodurch die Familiengründung nicht behandelt wird.

213 Grimm 2010: S.151

214 Ebd.

215 Grimm 2010: S.152