• Keine Ergebnisse gefunden

Resümierend kann festgehalten werden, dass sich in jedem der einzelnen Märchen eine Initiationsgeschichte eines Mädchens erkennen lässt. Dennoch ist es möglich, bestimmte Unterschiede festzustellen, was die Struktur und den Aufbau der Erzählungen betrifft.

Die Phase des Weggangs ist in allen Märchen vorhanden. Bei vielen wiederholt sich diese Phase mehrmals wie beispielsweise bei La ahijada de San Pedro, wo der Weggang nicht nur dadurch kodiert wird, dass die Protagonistin das Elternhaus verlässt, sondern auch durch den Tod des Vaters. Auf der Seite der deutschen Märchen lassen sich diese Eigenheiten jedoch auch nachweisen, beispielsweise bei der Betrachtung von Rapunzel. Wieder ist es der Vater der das Haus verlässt, bevor die Initiandin von der Initiatorin geholt wird.

Der Widerstand kann bei den meisten Märchen beider Sprachräume nur vermutet werden. Wobei bei den Märchen Espinosas nur einmal ein wirklicher Widerstand angedeutet wird, indem sich das Mädchen in La niña sin brazos versucht zu bekreuzigen, als es vom Teufel entführt wird. Im Vergleich dazu, wird der Widerstand in zwei Märchen der Brüder Grimm eindeutig dargestellt. Das Mädchen in Frau Holle bricht in Tränen aus, bevor es das Haus verlassen muss und die Braut des Räuberbräutigams markiert den Weg mit Erbsen und Linsen, um den Rückweg zu finden.

Der Gang zum und Aufenthalt im Initiationsbezirk muss aufgespalten betrachtet werden.

Während es in jedem der ausgewählten Märchen einen Initiationsbezirk gibt, weisen alle deutschen Märchen auch die Beschreibung einer Grenze auf, wie beispielsweise der Wald in Rapunzel und in Der Räuberbräutigam oder auch der Brunnen in Frau Holle.

Im Gegensatz dazu erscheint bei den spanischen Märchen nur bei zwei der fünf gewählten eine wirkliche Grenze. Bei El diablo maestro handelt es sich um das Meer und bei La madre Envidiosa sind es die Berge, hinter denen sich das Haus der Diebe befindet.

Die Tranceversetzung ist bei Espinosas Erzählungen stets doppelt kodiert und kommt zu Beginn sowie im zweiten Drittel der Narration vor, wobei sie oft nur vermutet und nicht eindeutig festgestellt werden kann. Stets handelt es sich um die Protagonistin, die der Tranceversetzung ausgesetzt ist. In den deutschen Märchen hingegen, wird die

Tranceversetzung auch auf andere Personen übertragen bzw. geteilt. In Rapunzel ist es symbolische Tod beispielsweise im Marienkind oder im Räuberbräutigam durch den Verlust der Stimme bzw. durch ein erteiltes Sprechverbot.

In den meisten der ausgewählten Märchen findet die Metamorphose durch den Erhalt von magischen Hilfsmitteln statt. Bei den Erzählungen Espinosas wird die Metamorphose auch durch das Liegen in einem Kristallsarg kodiert, was mit den Kristallspitzen gleichzusetzen ist, wodurch die Verleihung besonderer Kräfte dargestellt wird. Auch die Markierung spielt in bestimmten Märchen eine Rolle, wobei dies auf unterschiedliche Weise geschieht. In La niña sin brazos wird die Initiandin durch das Abschneiden ihrer Hände markiert. In der deutschen Erzählung Der Räuberbräutigam hingegen, wird eine Jungfrau an Stelle der eigentlichen Initiandin markiert, indem ihr ein Finger abgeschnitten wird.

Bei der Phase der Belehrung ist es bei den spanischen Märchen mehrfach der Fall, dass die Protagonisten eine Art Probeehe eingeht bzw. die Initiandin mit Sexualität konfrontiert wird. In den deutschen Narrationen dient die Belehrung jedoch vordergründig zur Nahrungsbeschaffung, wobei in König Drosselbart zusätzlich eine Probeehe eingegangen wird.

In der Übung müssen die Initianden stets ihre neu erlernten Fähigkeiten unter Beweis stellen, wobei auch diese Phase in den meisten Märchen beider Sprachen nur vermutet werden kann.

Die Rückkehr aus dem Initiationsbezirk gestaltet sich in den meisten Märchen auf unterschiedliche Weise und wird jedoch meist nicht genau beschrieben. Grimms Der Räuberbräutigam bildet in diesem Zusammenhang eine Ausnahme, da die Initiierte entgegen der eigentlichen Regel, von der Initiation erzählt.

Es lässt sich feststellen, dass die Familiengründung, wenn sie Teil der Handlung ist, bei den Märchen des spanischen Sprachraumes stets zu einem verfrühten Zeitpunkt stattfindet, wodurch die Ehemänner anfänglich als Probeehemänner fungieren.

Außerdem enden diese Märchen auch immer mit einer Familiengründung bzw. einer

Wiedervereinigung des Paares, was bei den deutschen Märchen nicht immer der Fall ist.

Diese Tatsache erscheint mir als die interessanteste Differenz zwischen den spanischen und deutschen Märchen. Bei den fünf ausgewählten Märchen Espinosas spielt stets eine männliche Figur eine Rolle bzw. wird die Initiation mit der Vereinigung oder Wiedervereinigung des Paares besiegelt. Bei den Geschichten der Brüder Grimm treten beispielsweise bei Frau Holle überhaupt keine männlichen Figuren auftreten. Des Weiteren entpuppt sich der Bräutigam im Märchen Der Räuberbräutigam als Mörder, was zur Folge hat, dass keine Hochzeit stattfindet, sondern der Verlobte der Initiandin hingerichtet wird.

Insgesamt lassen sich durch die Analyse geringe Abweichungen bzw. Veränderungen in der Struktur feststellen. Jedoch treffen diese strukturellen Unterschiede auf jedes einzelne der ausgewählten Märchen zu. Es handelt sich hierbei um ein stetig auftretendes Phänomen. Diese Tatsache bestätigen auch Margit Thir und Michael Metzeltin.

„Die Amplifizierung der Narrateme […], ihre genaue semantische Ausgestaltung […], ihre Ausschmückung […] und ihre Anordnung können stark variieren, ihr Semantismus mit dem Übergang zu neuen Epochen immer wieder umgedeutet werden […]. Die ursprüngliche Narration der Initiation kann durch andere Erzählschichten überdeckt werden, sodass die ursprüngliche Schicht nur durch ‚Entschichtung„ erkennbar wird. In anderen Fällen sind nur Fragmente einer initiatischen Narration vorhanden.“230

Abschließend kann demnach festgehalten werden, dass sich im Eigentlichen keine augenscheinlich gravierenden Unterschiede zwischen deutsch- und spanischsprachigen Märchen feststellen lassen, die wirklich allgemeine Gültigkeit aufweisen.

230 Metzeltin, Michael /Thir, Margit 2012: S.79