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2 Fragestellung und Annahmen

Im Folgenden soll untersucht werden, welche nicht-grammatischen Faktoren Einfluss auf die Kongruenzformen nehmen. Dabei wird angenommen, dass die Sexualisierung innerhalb des Kontexts eine bedeutende Rolle spielt. Ausgangs-punkt für die im weiteren Verlauf näher erläuterten Annahmen sind die beiden folgenden Sätze ausDie Zeitaus den Jahren 2011 und 2012.

(4) Immerhin ist das dänische ModelNbekannt fürseinenNandrogynen Stil.

(Die Zeit, 09.03.2011) (5) Und weil so ein ModelNeben zeigt, was sieFzeigen kann, hat sieFauf dem Foto nicht sehr viel an. (Die Zeit, 27.02.2012) In beiden Sätzen liegt als grammatischer Controller das NeutrumModelvor, wel-chem als Referenzperson in der außersprachlichen Welt jeweils das Merkmal [+weiblich] zugeschrieben werden kann.1 AufModel kann folglich mithilfe von genus- oder sexuskongruenten Pronomina verwiesen werden. Bei der Analyse der Beispielsätze können zunächst die traditionellen, grammatischen Einflussfaktoren

1 Modelkann natürlich sowohl auf Männer als auch auf Frauen referieren. Im weiteren Kon-text dieser Zeitungsartikel wird jedoch deutlich, dass mitModelhier jeweils eine Frau bezeich-net wird.

angeführt werden. Dabei wird deutlich, dass sich bei diesen Beispielen weder das Erscheinungsjahr (2011 bzw. 2012) noch die Distanz (zwei bzw. drei To-kens) zwischen Target und Controller maßgeblich unterscheiden. Lediglich der pronominale Typus variiert, da in (4) ein Possessivpronomen und in (5) ein Personalpronomen vorliegt. Hinsichtlich ihres Kongruenzverhaltens sind diese beiden pronominalen Targets laut Agreement Hierarchy jedoch ver-gleichbar. Für die Erklärung dieses Phänomens kann nur bedingt auf gram-matische Einflussfaktoren zurückgegriffen werden. Eine mögliche Erklärung könnten unter Umständen die unterschiedlichen syntaktischen Domänen der Targets sein. Bei Betrachtung des Kontextes der Kongruenzformen fällt aber auf, dass die Kongruenzformen auch durch ebenjenen motiviert sein könnten.

In (4) wird die Androgynität des weiblichen Models beschrieben. Im Gegen-satz dazu ist das Model in Beispiel (5) sowie in der den Text begleitenden Abbildung fast nackt.

Anhand einer Korpusuntersuchung soll im Folgenden gezeigt werden, dass diese Beobachtung kein Einzelfall ist und dass die Wahl des Kongruenzwertes nicht ausschließlich mithilfe der Einflussfaktoren lineare Distanz und pronomi-naler Typus zu erklären ist, sondern, dass auch der Kontext eine Rolle spielt. Das Genus des Targets wird demnach auch aufgrund der semantischen Verortung des Controllers vergeben. Es soll überprüft werden, ob ein sexueller beziehungs-weise erotischer pragmatischer Kontext die Verwendung sexuskongruenter For-men befördert.

3 Daten

Die aufgestellte Hypothese soll anhand des hybriden NomensMädchenüberprüft werden.2Die Entscheidung fürMädchenfiel in erster Linie aufgrund der neutralen Denotation, die nichtsdestotrotz unterschiedliche Konnotationen zulässt. So kann Mädchensowohl auf eine geschlechtsunreife weibliche Person als auch auf ge-schlechtsreife weibliche Personen referieren und sowohl positiv als auch negativ

2 Es existieren natürlich noch weitere Personenbezeichnungen mit Genus-Sexus-Divergenz.

Das gilt sowohl für weibliche Referenzpersonen wie beispielsweiseMädchenNoderVampMals auch für männliche wieJungchenNoderSchwuchtelF(vgl. Köpcke & Zubin 2005). Darüber hin-aus existieren Nomina, die nicht sexusspezifisch verwendet werden (z. B.Model), aber nichts-destotrotz eine Genus-Sexus-Divergenz aufweisen können. Jedoch werden diese aufgrund ihrer Sexusindifferenz nicht immer zu den hybriden Nomina gezählt.

verwendet werden. Der Duden3nennt in der Bedeutungsübersicht als mögliche Be-deutungen für Mädchen sowohl„Kind weiblichen Geschlechts“als auch„junge, jüngere weibliche Person“sowie„Freundin (eines jungen Mannes)“. Darüber hi-naus handelt es sich bei Mädchen um ein hybrides Nomen mit vergleichs-weise hoher Frequenz. Bei anderen ebenfalls vergleichsvergleichs-weise frequenten hybriden Nomina wieWeiboderFräulein ist der Bedeutungsspielraum sehr viel eingeschränkter.

Um die Prozesse aufzudecken, die der Auswahl der Kongruenzformen hybrider Nomina zugrunde liegen, muss eine geeignete Datengrundlage aus-gewählt werden. Für diese Untersuchung fiel die Wahl auf Texte aus unter-schiedlichen Korpora geschriebener Sprache. Dabei ist es von Bedeutung, dass Texte des gleichen Texttyps, jedoch von unterschiedlichen Autoren zu-grunde gelegt werden, um eventuelle individuelle Entscheidungen einzelner Autoren auszuschließen.

Das ausgewählte Korpus setzt sich aus zwei Subkorpora zusammen: litera-rische Texte des Neuhochdeutschen (Subkorpus A) und journalistische Texte (Subkorpus B).

Ausgewählt wurde zunächst ein Korpus mit literarischen Texten. Dabei wurde in Anlehnung an die von Birkenes, Chroni & Fleischer (2014) durchge-führte Studie zu der Entwicklung der Kongruenzformen hybrider Nomina auf die digitale Bibliothek„Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky“ zurück-gegriffen.4Dieses literarische Korpus des 17. bis 19. Jahrhunderts (Subkorpus A, N = 1600 Kongruenzformen) besteht aus Texten neun verschiedener Au-toren: Abraham a Sancta Clara, Theodor Fontane, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Philipp Harsdörffer, E.T.A. Hoffmann, Sophie von La Roche, Daniel Casper Lohenstein, Johann Karl August Musäus und Johann Gottfried Schnabel.

Bei der Erweiterung des Korpus fiel die Entscheidung für das Subkorpus B (N = 409 Kongruenzformen) auf journalistische Texte, da diese deutlich mehr Variation der Kongruenzformen aufweisen. Ausgewählt wurden Texte aus Die Zeit(DeReKo, Zugriff via Cosmas)5 im Zeitraum von 1950 bis 2000. Die Untersuchung ausschließlich literarischer Texte erlaubt zwar interessante

3 Dudenredaktion (o. J.):Mädchenauf Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschrei bung/Maedchen (3. August 2018).

4 Über die Plattform des Texgrid-Korpus (https://textgrid.de/digitale-bibliothek) kann auf diese Daten zugegriffen werden.

5 Das Deutsche Referenzkorpus DeReKo, http://www.ids-mannheim.de/kl/projekte/korpora/, am Institut für Deutsche Sprache, Mannheim.

Schlussfolgerungen über das Kongruenzverhalten hybrider Nomina, bietet je-doch für eine umfassende Analyse der Einflussfaktoren eine zu geringe Variation der Kongruenzformen.

4 Annotation

Da die Kategorie Genus im Deutschen nur im Singular abgebildet wird, kom-men als mögliche Controller alle Vorkomkom-men von Mädchen– sowohl als Sim-plex als auch als Kopf eines Kompositums–im Singular in Frage. Als mögliche Referenzausdrücke annotiert werden Targets in einem Kontext von fünf Zeilen vor und fünf Zeilen nach dem Controller, welche sich außerhalb der NP befin-den. Die Einschränkung auf Targets außerhalb der NP begründet sich durch Re-sultate anderer Untersuchungen (vgl. z. B. Birkenes, Chroni & Fleischer 2014) und einer eigenen Pilotierung, die zeigen, dass Sexuskongruenz ein Phäno-men ist, welches in der Regel bei nicht-attributiven Targets auftritt (s. auch Abschnitt 2). Folglich können Personal-, Demonstrativ-, Possessiv-, Relativ-Interrogativ- und Indefinitpronomina sowie auch Ordinalzahlen mögliche Kongruenzziele darstellen. Der Kontext vor dem Controller wird miteinbezo-gen, da in seltenen Fällen Pronomina in kataphorischer Verwendung auftau-chen und zudem hierdurch eine bessere Kontextualisierung von Controller und Target möglich ist.

Annotiert wurde die grammatische Struktur mit den Faktorenlineare Dis-tanz zwischen Controller und Target(Anzahl der Tokens) sowieWortart des Tar-gets. Eine erste Pilotierung der Daten ließ darüber hinaus vermuten, dass der grammatische Faktor Definitheit Einfluss auf die Kongruenzform der Targets nimmt – also ob ein definiter oder indefiniter Controller zugrunde liegt. Aus diesem Grund wurde dieser Faktor hinzugefügt. Ausgewertet wurden nur Tar-gets mit einer eindeutigen Referenz. Die ambigen Fälle wurden als solche mar-kiert und bei der Auswertung nicht weiter berücksichtigt. Das in Beispiel (6) auf Mädchen referierende Personalpronomenihrem wurde als ambig gekenn-zeichnet, weil sowohlMädchenNals auchNatalieFals Controller fungieren kön-nen. Dies traf für 86 Pronomina des Korpus zu.

(6) Der große Schlag in Richard Bauschs Roman kommt in dem Augenblick, in dem das schöne deutsche MädchenNNatalieFihremF„Verlobten“Walter sagt[. . .]

(Die Zeit, 05.03.1998)

Darüber hinaus wurden Faktoren für die Annotation von Sexualität/Erotik benö-tigt. Da es hierfür keine Standards gibt, wurden diese sukzessive anhand des Ma-terials entwickelt. Um den Faktor der Sexualität operationalisierbar zu machen, wurden mithilfe des von Zinsmeister und Lemnitzer (20153: 103) vorgeschlagenen iterativen Annotationszyklus unterschiedliche Indikatoren zur Operationalisie-rung von Sexualität ermittelt. In einem ersten Schritt erfolgt die Exploration der Daten. Es folgt ein Wechsel von Annotation mit anschließender Analyse, um das Annotationsschema zu evaluieren und anzupassen. Die anschließende Auswer-tung der Daten erfolgt textorientiert. Mithilfe des Annotationszyklus wurden suk-zessive vier Faktoren entwickelt, die versuchen, den Sexualisierungsgrad des Kontexts zu fassen:semantische Rolle, Alter der Referenzfigur, Antagonistund se-xuelle Aufladung des Kontexts. Der Faktorsemantische Rollebeschreibt mithilfe der AusprägungenAgens, Patiens, Experiencer, Thema, Locus, Instrument, Stimu-lusundRezipientdie semantische Rolle des Targets. Es wird angenommen, dass auch das Alter der Referenzfigur einen Einfluss auf die Kongruenzform hat (vgl. Braun & Haig 2010; Robinson 2010). Aus diesem Grund wurde als weiterer FaktorAlter der Referenzfigurgewählt. Das Alter der Referenzfigur wird oftmals nicht explizit genannt und muss daher aufgrund unterschiedlicher Indikatoren ermittelt werden. Mit dem Wertreifist in diesem Kontext Geschlechtsreife ge-meint. Da das Alter der Referenzfigur in der Regel ein im Abschnitt invariabler Faktor ist, können diese Indikatoren auch Attribute sein, die dem Controller zugeschrieben werden. Darüber hinaus kann das Alter auch aufgrund von Refe-renzidentitäten rekonstruiert werden. Solange es keine abweichenden Informa-tionen gibt, wird in einem Kontext folglich immer das gleiche Merkmal für das Alter einer Referenzfigur gewählt. Wenn das Alter der Referenzperson anhand des vorliegenden Auszuges nicht eindeutig festgestellt werden kann, wird der Wertmehrdeutigvergeben.

Das deutsche Genussystem kann in Bezug auf Personenbezeichnungen als sexusbasiert beschrieben werden. Um dem Zusammenhang von Genus und Sexus nachzugehen, wurde der Faktor Antagonist mit den Merkmalen männlich,weiblich, nicht vorhandenannotiert, die nach Interaktionspartnern innerhalb des annotierten Kontexts fragt. Schließlich wurde der gesamte Kontext bewertet und einer der drei Werte neutral, Liebe/Erotik, sexuell/pornographisch vergeben. Ein Kontext mit dem WertLiebe/Erotikzeichnet sich dadurch aus, dass eine romantische oder erotische Handlung stattfindet. Die als sexuell/pornogra-phischannotierten Kontexte sind dadurch gekennzeichnet, dass eine explizit sexuelle Handlung zwischen dem Mädchen und einem Interaktionspartner stattfindet. Die neutralen Kontexte sind der Default für alle Kontexte, die nicht

durch die anderen beiden Faktoren abgedeckt sind. Daraus ergibt sich folgendes Annotationsschema (Abb. 1):

Faktor Merkmale

lineare Distanz zwischen Controller und Target in Anzahl der Tokens

0, 1, 2, 3, 4, 5, >5, >10, >20

PoS PDS, PPER, PPOSAT, PPOSS, PRELAT, PRELS6

Kongruenz genuskongruent, sexuskongruent, ambig

Referenz mehrdeutig

Antagonist männlich, weiblich, nicht vorhanden

semantische Rolle Agens, Patiens, Experiencer, Thema, Locus, Instrument, Stimulus, Rezipient

Alter der Referenzfigur kindlich, pubertär, reif, ambig Definitheit definit, indefinit

Sexualisierung des Kontexts

neutral, Liebe/Erotik, sexuell/pornographisch

Abb. 1:Annotationsschema.

Da die Operationalisierung von Sexualität auf einigen interpretativen Entschei-dungen beruht, wird die Stringenz der Annotation durch„intrarater reliability“ (vgl. Diekmann 2009) abgesichert. Die erste Annotation wurde ergänzt durch eine weitere Stichprobenannotation nach drei Monaten. Da diese lediglich eine Abwei-chung von 3 % ergeben hat, wurde die erste Annotation als reliabel eingeschätzt.