Zur Auflockerung des eher apodiktischen Stils der bisherigen Kapitel dieser Expertise wenden wir uns unserem Thema in diesem Kapitel sokratisch zu.
3.9.1 Strategische Fragen an eine LZA-Policy
Als Grundfragen f ¨ur eine nationale LZA-Policy stellen sich:
• F ¨urwie langesollen welche Dokumentmengen archiviert und verf ¨ugbar gehalten werden?
• Wer archiviert?
• Wie wird dieQualit¨atder Langzeit-Archivierung gesichert?
• Wie werden die rechtlichen, finanziellen, organisatorischenStrukturen stabil ge-halten?
3.9.2 Planungs-Checkliste
Enth¨alt die Checkliste f ¨ur eine nationale LZA-Policy
1. Definitionen zur Archivierung, Langzeit, Objekt, Information;
2. Beauftragung eines nationalen Archiv-Netzwerkes;
3. Grunds¨atze der nationalen LZA-Policy;
4. Gesellschaftsform und Organisationsstruktur;
5. Sicherungs- und Migrations-Strategie;
6. National einheitliche Anforderungen an Zugriffs- und Nutzungsregelung und den Umgang mit DRM;
7. Einheitliche Sammelkriterien unter Beteiligung der Autoren/Erzeuger;
8. Datenschutzregelungen;
9. Sicherheit;
10. Finanzierung und Budgetierung;
11. Aufsicht und Monitoring des nationalen LZA-Netzwerkes;
12. Regelung der Zust¨andigkeit zur Weiterentwicklung der nationalen LZA-Policy?
Sind als weitere Aspekte geregelt:
1. Bundesweite Rahmenbedingungen f ¨ur die Ausbildung des Personals;
2. Die Einbindung in die aktuelle Forschung;
3. Das nationale Risikomanagement und die Risikokontrolle;
4. Ein nationaler Katastrophenplan;
5. Einrichtung eines nationalenRegistrymitFall-Back-Strategie;
6. Ein Plan, wie das Langzeit-Archiv bei Totalverlust wiederhergestellt werden kann (Recovery-Plan)?
Viele dieser Punkte gelten nicht nur spezifisch f ¨ur die Langzeit-Archivierung digita-lerObjekte.
3.9.3 Vorbereitende Schritte zu einer LZA-Policy
Die folgende Zusammenstellung soll es zuk ¨unftig erleichtern, durch die zu beteiligen-den Institutionen die notwendigen Arbeitspapiere zur Vorbereitung politischer Ent-scheidungen f ¨ur eine nationale Langzeit-Archivierung digitaler Objekte zu erstellen.
Ziel dieser Liste ist es, hierf ¨ur zu regelnde oder vorzugebende Aspekte zusammen-zustellen, um sp¨ateren Nachregelbedarf zu minimieren.
Werden mit der nationalen Policy folgende Standardfragen256 beantwortet:
• Wie wird national die Sicherheit gegen Verlust von an verteilten Institutionen archivierten Materialien gew¨ahrleistet? Gibt es Vertr¨age zwischen inl¨andischen bzw. ausl¨andischen LZA-Institutionen dazu?
• Haben die an einer nationalen konzertierten Langzeit-Archivierung digitaler Do-kumente beteiligten Institutionen Zugriffsregelungen getroffen, die den maxima-len Zugriff aus Wissenschaft und Kultur frei oder staatlich finanziert erlauben?
Wird der jeweils g ¨ultigen Fassung des UrhG durch geeignete Regelungen Rech-nung getragen?
• Haben sich die beteiligten Institutionen auf die Speicherung langfristig lesbarer oder rekonstruierbarer, offener Formate geeinigt?
256Entsprechendes findet sich zur Papier-Archivierung z. B. bei: Mirijam M. Foot;Building Blocks for a Preservation Policy; National Preservation Office; 2001;http://www.bl.uk/services/npo/npo8.pdf
• Verlangen die Institutionen von den Erzeugern/Autoren von digitalen LZA-Werken die volle wissenschaftliche Information zur Speicherung (Quelltexte)?
• Werden die bundesweit gemeinsam vereinbarten internationalen Standards lokal auch eingesetzt?
• Sind geregelte intensive Kooperationen mit den jeweils f ¨ur das Material fachlich einschl¨agigen Instituten vereinbart und installiert, welche die Auswahl von f ¨ur lange Zeit zu archivierenden Dokumenten regeln, die Integrit¨at der Speicherun-gen ¨uberpr ¨ufen, Quellen bewerten und Quellen jeweils aktuell verstehbar halten (Transfer in die aktuellen Sprachen)?
• Ist die institutionelle LZA-Policy der beteiligten Institutionen beim Bund hinter-legt und mit den Partnern f ¨ur eine sinnvolle Arbeitsteilung abgestimmt?
Die Checkliste f ¨ur den Bund selbst ist einfacher:
• Wurde eine stabile, verteilte aber integrative Organisationsstruktur geschaffen?
• Wurde ein Gesetz zur Ausf ¨ullung der nationalen LZA-Policy erlassen?
• Sind Vereinbarungen mit den L¨andern zu Arbeitsverteilung, Arbeitsteilung und Finanzierung getroffen?
• Wurde die Einf ¨uhrung geeigneter bundesweiter Studieninhalte zur digitalen Lang-zeit-Archivierung unterst ¨utzt?
• Wurden Regelungen zur Verpflichtung der Langzeit-Aufbewahrung, der Zug¨ang-lichkeit bzw. VertrauZug¨ang-lichkeit sensibler Daten erlassen?
• Wie wird die Einhaltung des nationalen LZA-Gesetzes erreicht?
3.9.4 Themen und Beschr¨ankung einer nationalen LZA-Policy
Dokumente sollten nicht durch kommerzielle Verlage langzeit-archiviert werden257.
257Hierzu zwei Beispiele:
Die von der DPG (Deutsche Physikalische Gesellschaft)http://www.dpg-physik.deherausgegebene Zeit-schriftPhysikalische Bl¨atter enthielt neben ihren gedruckten Artikeln auch bereits seit 1995 einige Arti-kel, deren Quelle als E-Dokument nachgewiesen wurde. Vor einigen Jahren hat nun der VerlagVCH Wileydieses Journal ¨ubernommen und gibt es alsPhysik Journalheraus. Die Archive wurden ebenfalls
¨ubernommen und werden auf den Verlagsseiten nachgewiesen. Dies gilt jedoch nicht f ¨ur das E-Archiv der fr ¨uhen Jahre, das also f ¨ur die Nachwelt verloren ist.
Die Verlage Springer und Kluwer haben fusioniert. Die neue Konzernstrategie soll in etwa auf das Ein-stellen eines gr ¨oßeren Teils der wissenschaftlichen Zeitschriften des entstandenen gemeinsamen Pools, die Zusammenlegung von verwandten Zeitschriften beider H¨auser, ¨Ubernahme des Markennamens Springer aber der rigideren Urheberrechtsregeln von Kluwer f ¨ur alle wissenschaftlichen Zeitschriften hinauslaufen. Bei der Langzeit-Archivierung hofft man dann aufDie Deutsche Bibliothek und die KB ...
Die Langzeit-Verf ¨ugbarkeit von Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften ist zu-nehmend de facto nicht mehr gegeben, auch wenn
”im Prinzip“ durch Vertr¨age mit nationalen Bibliotheken, oder Institutionen wie OCLC versucht wird, sie abzudecken.
Verf ¨ugbar meint ja in der Wissenschaft, dass aktive Forscher eine Arbeit, auf der ihre Forschung aufbauen k ¨onnte, finden, einsehen und lesen k ¨onnen. Dies ist in der eigenen (Universit¨ats-)Bibliothek immer h¨aufiger nicht mehr der Fall. Zus¨atzlich droht ja, dass die bew¨ahrte Online-Bestellung digitaler Files bei einschl¨agigen Bibliotheken verboten werden258soll.
Die Interessen des individuellen einzelnen Autors durch das Urheberrecht sind dem
¨ubergeordneten Ziel der Bewahrung von Erkenntnissen und des kulturellen Erbes f ¨ur die Wissenschaft unterzuordnen. Es gibt zahlreiche denkbare Zwecke der Langzeit-Archivierung, die sehr von der involvierten Institution abh¨angen. So sammelt die aus-tralische Nationalbibliothek prim¨ar alle digitalen Materialien, die mit dem Land Aus-tralien zusammenh¨angen, unabh¨angig von Format, Sprache, Nationalit¨at des Autors oder Verlagsart (Auswahl nach dem Themenkreis). Die DDB sammelt nur E-Dissertatio-nen aus deutschen Universit¨aten (Auswahl nach dem Dokumententyp und Erstellungs-land). Viele Bibliotheken sammeln nur pdf-Files aus der eigenen Universit¨at (Auswahl nach dem File-Typ und Erstellungsort).
Die logische und regulierende Reichweite einer nationalen LZA-Policy sollte sich daher beschr¨anken auf :
• Die Vernetzungsregeln der beteiligten verteilten LZA-Institutionen;
• Die Standards der Dokumentenbeschreibung;
• Die Mindest-Anforderungen an Sicherheit, Qualit¨atssicherung, Redundanz, Les-barkeit, Migrierung;
• Grunds¨atze zur Ausbildung;
• Gesetzliche Absicherung der Archivierungs- und Leserechte;
• Organisation konzeptioneller Vorgaben;
• F ¨orderung der einschl¨agigen Forschung und ihre Vernetzung mit den Aktivit¨aten der LZA-Institutionen.
Der Zweck der Archivierung ist diezuk ¨unftigeNutzung, die sich aber in Abh¨angig-keit vom Archivgut stark unterscheiden kann. Sie kann von der Nutzung ausschließlich durch Archivare und Historiker, ¨uber Wissenschaftler der Disziplinen, aus denen das Archivgut urspr ¨unglich stammt, bis hin zur breiten ¨Offentlichkeit reichen.
258Referenten-Entwurf des Bundesministeriums f ¨ur Justiz; November 2004; http://www.
urheberrechtsbuendnis.de/links.html
Die Realisierung der Vorgaben einer gegebenen nationalen LZA-Policy geschieht durch individuelle LZA-Institutionen ¨uber ihreinstitutionelle Policy. Sie m ¨ussen Fragen beantworten wie: Soll ein Archiv von einer einzelnen Institution oder als Verbund be-trieben werden? Wer soll die Sammelkriterien bestimmen? Welche existierenden Diens-te sollen eingebunden werden? Welche sind neu zu schaffen? Welches Archivgut soll mit Institutionen im Ausland ausgetauscht und gespiegelt werden?