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Forschungsgeschichte

Im Dokument Studien zu Hugo van der Goes (Seite 50-53)

2 Das Wiener Diptychon

2.2 Forschungsgeschichte

1887 wurde das Diptychon erstmals von Scheibler Hugo van der Goes zugeschrieben – ein Jahr zuvor war es noch von Waagen für ein Werk Memlings gehalten worden.169 Goldschmidt sah im Diptychon aufgrund der zahlreichen Reminiszenzen an die Werke der Brüder van Eyck, Dirk Bouts' d. Ä. und v. a. Rogier van der Weydens ein Früh-werk.170 Die meisten Forscher, darunter Panofsky, Pächt und Friedländer, schlossen sich dieser Meinung an.171 Oettinger hingegen glaubte, es handle sich um ein verhältnismäßig spätes Werk, welches den Stil von Hugos letzten Werken vorbereitet. Darüber hinaus äußerte er als Erster die Vermutung, der Auftraggeber könnte – aufgrund des schwarzen Adlers auf der Rückseite der Beweinung – Erzherzog Maximilian I. von Habsburg ge-wesen sein.172 Winkler meinte, die Komposition müsse um 1477 schon existiert haben, da sie damals von einem Miniaturmaler im Gebetbuch Karls des Kühnen kopiert wurde.173 Rey wiederum versuchte, das Diptychon aufzulösen und den Sündenfall vor, die Be-weinung hingegen nach dem Portinari-Altar anzusetzen.174 Auch Sander gelangte nach der Untersuchung der Unterzeichnungen zu diesem Schluss.175 Ridderbos hielt es zwar für möglich, dass der Sündenfall vor der Beweinung entstand, jedoch glaubte er nicht, dass der Zeitraum zwischen der Entstehung der beiden Bilder allzu groß sein könnte.176 Eva und Magdalena bzw. Adam und Christus sah er als prinzipiell sehr ähnliche Figuren-typen. Die (vermeintlichen) stilistischen Unterschiede seien v. a. durch die unterschied-liche Ikonografie der beiden grundsätzlich schwer miteinander vergleichbaren Bilder (beim einen Bild ist die Figur nackt bzw. tot, beim anderen bekleidet bzw. lebend) zu erklären.177 Der niederländische Forscher sieht den Grund für die Unterschiede weniger in einem zeitlichen Abstand zwischen den beiden Bildern sondern v. a. in der Funktion: Die unnatürliche, beinahe bildparallele Anordnung des Körpers Christi sei notwendig, damit

169 Waagen 1866, S. 181; Scheibler 1887, S. 279f.

170 Goldschmidt 1903, S. 997-999.

171 Friedländer 1903 a, S. 11; Panofsky 1953, S. 338-340; Pächt 1969, S. 43-58.

172 Oettinger 1938, S. 55 (Anm.).

173 Winkler 1964, S. 43f.

174 Rey 1945, S. 22.

175 Sander 1992, S. 62f.

176 Ridderbos 1991, S. 168.

177 Ridderbos 1991, S. 163.

der andächtige Betrachter sich besser auf das Wesentliche, nämlich die Passion, konzentrieren könne.178 Für den Fall, dass der Sündenfall tatsächlich vor der Beweinung existierte (den er durchaus nicht ausschließt), macht Ridderbos übrigens einen interessanten Vorschlag: Die Tafel könnte eine erotische Funktion gehabt haben. Der Maler hätte sie nicht zum Verkauf, sondern für sich selbst gemalt um sie ins Kloster mitzunehmen.179 Dhanens schließlich wollte im Werk die Mitteltafel und den linken Flügel eines Triptychons sehen. Der rechte Flügel zeigte ihr zufolge die Darstellung eines Stifters in einer Landschaft.180 Diese Hypothese wurde – wenig überraschend – von der späteren Forschung jedoch nicht aufgegriffen.

Die Kombination von Sündenfall und Beweinung gilt zurecht als in der ganzen christ-lichen Kunst einzigartig, die z. T. wie eine willkürliche Zusammenstellung wirkt. Für Lassaigne jedoch enthielt die Thematik des Diptychons eine Konzentration auf die beiden wichtigsten Glaubensgeheimnisse des Christentums, nämlich die Erbsünde und deren Aufhebung durch den Tod Jesu.181 Außerdem verstand er die Verbindung der beiden Szenen als einen Rückgriff auf die mittelalterliche Typologie, welche in Adam eine Präfiguration Christi sah. Kermer, der das Diptychon als einen „Höhepunkt in der Geschichte der Diptychonmalerei“ und eines der „interessantesten Schöpfungen im Be-reich der altniederländischen Malerei“ sah, führte Lassaignes Gedanken weiter, indem er auf die seit den Tagen der Kirchenväter dichten Verknüpfungen zwischen Eva als Sünderin und Maria als Wiederherstellerin des Menschengeschlechtes verwies. Außerdem versuchte er, „eine bildnerische Tradition für die im Tafelpaar gegebene Bezugsetzung“

zu finden: Sein Ausgangspunkt war dabei die Gegenüberstellung von Sündenfall und Grablegung auf dem Klosterneuburger Ambo, die mit den Zeilen „invit hoc factvm xpm de stipite tractvm: Dieses Gescheidnis deutet Christum an, der vom Holze abgenommen wird“ und „hii corpvs dvcis tollvnt ab arbore crvcis: Sie nehmen den Leib des Führers vom Baum des Kreuzes“ kommentiert wird. Eva, welche die Frucht vom Baum pflückt, sei demnach der Jungfrau, die den Körper ihres Sohnes als Frucht des wahren Lebens-baumes in die Arme nimmt, gegenübergestellt.182

178 Ridderbos 1991, S. 164.

179 Ridderbos 1991, S. 167.

180 Dhanens 1998, S. 225-226.

181 Lassaigne 1957, S. 112f.

182 Kermer 1967, S. 151ff.

Was die ungewöhnliche Komposition des Sündenfalls angeht – Adam und Eva stehen nicht, wie bei traditionellen Sündenfall-Darstellungen, links und rechts neben dem in der Bildmitte angeordneten Baum der Erkenntnis –, verwies Sander auf eine historisierte I-Initiale in der sog. „Haarlemer Bibel“: Diese entspricht nicht nur in der (seitenver-kehrten) Figurenanordnung dem Wiener Bild, sondern auch in der Darstellung des Ver-suchers als aufrecht stehende, grünlich schillernde Eidechse mit Frauenkopf.183 Marrow gruppierte um diese „Haarlemer Bibel“ das 26 Werke umfassende Oeuvre eines von ihm

„Master of the Haarlem Bible“ benannten Buchmalers, der 1445-1474 in Haarlem tätig gewesen sein dürfte. Sein Hauptwerk, die drei Bände umfassende „Haarlemer Bibel“, datierte Marrow aus stilistischen Erwägungen in die 60er Jahre des 15. Jahrhunderts.184 Aufgrund der interessanten Gestaltung des Verführers glaubte Sander jedoch eher daran, dass beide Darstellungen sich auf ein gemeinsames, verlorenes Vorbild zurückführen lassen, als an die direkte Abhängigkeit des Wiener Sündenfalls von der historisierten Initiale in der „Haarlemer Bibel“ (oder umgekehrt).

Schließlich darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass bei der Sündenfall-Darstellung für einige Details der Tier- und Pflanzenwelt symbolische Bedeutungen vermutet wurden:

Koch meinte, die Koralle symbolisiere das vergossene Blut Christi, und Kessler glaubte, der Phönix im Gebüsch stehe für die Auferstehung und Errettung.185

183 Sander 1992, S. 82.

184 Marrow 1991, S. 251ff.

185 Koch 1965; Kessler 1965.

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