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Das Einzelblatt in Los Angeles

Im Dokument Studien zu Hugo van der Goes (Seite 128-132)

3 Die „Werkgruppe Hugo van der Goes“

3.1 Hugo van der Goes und der Meister der Houghton-Miniaturen

3.1.2 Das Einzelblatt in Los Angeles

Auch bei dem Einzelblatt mit der Darstellung der Hirtenverkündigung im Getty Museum (Ms.60;95.ML.53; Abb. 27, 93-96), das wohl Teil des sog. Emerson-White-Stundenbuchs (Cambridge, Mass., Houghton Library, Typ. 443-443.1) ist sich die Forschung über ihre Zugehörigkeit zur Werkgruppe „Meister der Houghton Miniaturen“

einig. Wahrscheinlich befand sich die Miniatur gegenüber von Folio 157, das die An-betung der Hirten auf einer historisierten Bordüre zeigt (Abb. 28).331

Die Handschrift ist 14,5 Zentimeter hoch und 10,2 Zentimeter breit. Die annähernd 260 Folios, aus denen sie besteht, wurden mit 7 Vollbild-Miniaturen, 28 historisierten Initialen, 13 historisierten Bordüren und den üblichen 24 Kalender-Miniaturen aus-geschmückt. Einige Miniaturen dürften jedoch verloren gegangen sein – es muss also ähnlich prachtvoll ausgestattet gewesen sein wie das Londoner Huth-Stundenbuch, mit dem es einige Gemeinsamkeiten besitzt: Es ist ungefähr gleich groß und gleich umfang-reich, es wurde vom gleichen Schreiber geschrieben und auch vom gleichen Illuminatoren-Team ausgestattet – Simon Marmion und seiner Werkstatt, dem Meister des Dresdner Gebetbuchs, den Ghent Associates und dem Meister der Houghton Miniaturen.332 Schließlich gibt es in beiden sehr ähnliche illusionistische Bordüren, bei denen zumeist Blumen auf Goldgrund zu sehen sind. Allerdings spielte unter den Illuminatoren Simon Marmion anscheinend eine weniger prominente Rolle als beim Huth-Stundenbuch. Dafür wurden mehr Seiten vom Meister der Houghton Miniaturen bzw. seinen Mitarbeitern gestaltet. Die Initialen des Auftraggebers der Handschrift – YY – befinden sich auf den Folios 5v, 6, 10v und 196. Möglicherweise stehen die beiden Buchstaben für Hippolyte de Berthoz und Isabeau van Keverwijk.333

330 Hochauflösende digitale Aufnahme kann unter http://www.getty.edu/art/gettyguide/

artObjectDetails?artobj=112303 (4.8.2014) abgerufen werden.

331 Allerdings wurde in der Literatur kaum darauf hingewiesen, dass es im Emerson-White-Stundenbuch keine weiteren Miniaturen gibt, die von derselben Hand ausgeführt wurden. Darin könnte man nämlich einen Hinweis (doch auch nicht mehr als einen einzigen) dafür sehen, dass das Blatt nicht Teil der Handschrift war.

332 Darüber hinaus haben die beiden Gebetbücher auch zahlreiche codicologische Gemeinsamkeiten (Los Angeles 2003, S. 170).

333 Hulin de Loo 1939b, S. 179; Pächt 1948, S. 71-72.

Stilistisch scheint sich die Hirtenverkündigung ein wenig von den beiden anderen Miniaturen, der Heimsuchung und der Disputatio der heiligen Barbara im Londoner Stundenbuch, abzusetzen. Diese Unterschiede relativieren sich aber, wenn man versucht, die Arbeit in Hugos Oeuvre einzuordnen. Dann könnte man nämlich die Unterschiede dadurch erklären, dass die Miniatur ein oder zwei Jahre nach den anderen Miniaturen, also um 1480, entstanden sein dürfte. Zweifellos handelt es sich bei der Hirtenver-kündigung von allen drei Miniaturen um die dramatischste und bewegteste Darstellung.

Tatsächlich zeigt sie auch die ungewöhnlichste Begebenheit – die Erscheinung eines Engels erlebt man nicht alle Tage. Dem entsprechend heftig reagieren die Figuren, alle vollführen sie irgendwelche Bewegungen. Die bewegteste Figur ist jedoch kein Mensch, sondern der rechts unten dargestellte Hund. Bezeichnend ist, dass er sich mit den Hinterbeinen am unteren Bildrand abzustützen scheint während seine Vorderbeine den Rand des Hügels, auf dem das Ereignis stattfindet, nicht überschneiden, sondern eigent-lich genau berühren. Nur seine Nasenspitze durchbricht diese Linie. Im Gegensatz zu ihm nehmen die Schafe, d. h. die anderen Tiere, kaum etwas vom ungewöhnlichen Er-eignis wahr und verhalten sich ruhig. Wie bei den beiden anderen Miniaturen scheint der Raum in mehrere Teile zu zerfallen, zwischen denen es keine Verbindungen gibt. Der Vordergrund ist ähnlich theaterbühnenartig aufgefasst wie bei der Heimsuchung bzw.

der Barbara-Miniatur. Auch hier befinden sich die Figuren in einer Ebene. Diese ist allerdings nicht bildparallel angeordnet, sondern in den Bildraum hinein gekrümmt.

Wenn sie nicht gekrümmt wäre, würde sie mit der Bildfläche zusammenfallen, denn sie beginnt am linken Bildrand und endet bei dem Baum am rechten Bildrand.

Charakteristisch ist, dass die Rückenfigur des knienden linken Hirten schräg in den Raum hineingedreht ist, wobei ihre Füße ziemlich genau in die linke Bildecke eingepasst sind. Der für Hugo van der Goes bzw. den Meister dieser drei Miniaturen sehr typische Baum liegt übrigens in einer anderen Ebene, die sich sehr nahe zur Bildfläche befindet und bildparallel verläuft. Ebenso wie bei der Heimsuchungs-Miniatur steht der Baum am rechten Bildrand und füllt die gesamte Bildhöhe aus. Beide Bäume besitzen einen langen dünnen Stamm und kaum Plastizität. Der einzige Unterschied ist, dass er in der Hirtenverkündigung kahl ist, während er in der Heimsuchung von Laub bedeckt wird.

Einen wesentlichen Unterschied gibt es zur Raumauffassung der Miniaturen des Huth-Stundenbuchs, v. a. der der Heimsuchung, die ebenfalls ein Ereignis in einer Landschaft, in der Natur, unter freiem Himmel zeigt: Bei der Hirtenverkündigung kann der Blick zwar nicht ganz unendlich weit in die Ferne schweifen, aber die Stadt Betlehem, deren Gebäude im linken Hintergrund zu sehen sind, ist doch sehr viel weiter vom Geschehen entfernt als das Haus des Zacharias in der Heimsuchung. Der Blick springt hier also relativ abrupt von Nahsicht zu Fernsicht, denn die Stadt befindet sich eigentlich unmittelbar über den Köpfen der Figuren. Erwähnenswert ist in diesem Zu-sammenhang auch die Gebäudegruppe, die im Mittelgrund links neben den Hirten zu sehen ist: Diese verläuft nicht bildparallel, sondern führt ebenfalls schräg in die Tiefe, wobei sie dem Umriss des Hügels, der den bühnenartigen Vordergrund bildet, folgt.

Wenn man nun versucht, die Hirtenverkündigung mit den Tafelgemälden und Zeichnungen Hugos zu vergleichen, so ist als eines der ersten Motive der in einer Gloriole schwebende Engel in der linken oberen Bildecke zu nennen. Dieser ist v. a. mit Christus vergleichbar, der auf dem Marientod ebenfalls in einer Gloriole zu Maria herabschwebt.

Allerdings gibt es in der Gloriole auf dem Marientod weniger Platz, obwohl sie eigentlich größer ist als die auf der Hirtenverkündigung, weil sie von drei Figuren – Christus und zwei Engeln – gefüllt wird. Darüber hinaus ist sie auf dem Marientod fragmentiert, ihr oberer Teil wird vom Bildrand abgeschnitten. Ähnlicher ist die Gewandbehandlung:

Charakteristisch sind in beiden Fällen die üppigen, weiten, bunten Stoffe, die nicht viel vom Körper der Figuren erahnen lassen. Sehr ähnlich ist z. B. auch die Anordnung der Falten beim Ärmel des rechten Hirten und beim Ärmel von Jakob auf der großen Ox-forder Zeichnung (Abb. 20); ebenso der geometrisch-ornamentale Schwung, von dem die Arme erfasst sind. Überhaupt sind Haltung und Position des linken Hirten sehr gut mit Jakob vergleichbar. Die Hirtenfigur ist jedoch stärker in den Raum hineingedreht, während es sich bei Jakob eigentlich um eine Profilfigur handelt. Außerdem hat der Hirte die Arme höher erhoben und er kniet ruhig auf dem Boden, während bei Jakob auch die Beine in Bewegung sind. Typisch wäre ferner die Betonung der Umrisse der Figuren, die auf Werke wie den Wiener Sündenfall verweist. V. a. die Gewänder sind mit einer dunklen Linie umrissen, neben der sich stellenweise sogar eine helle befindet.

Abschließend muss ein weiterer höchst interessanter Unterschied zwischen der Miniatur

und den Tafelgemälden Hugos erwähnt werden: Obwohl die Miniatur sehr viel kleiner ist als z. B. der Brügger Marientod, haben die Figuren in ihr wesentlich mehr Bewegungs-freiheit. Der Grund dafür ist offensichtlich: Sie sind (im Verhältnis zur Größe des Bildes) kleiner und weniger zahlreich. Beim Brügger Marientod hingegen herrscht eine geradezu beklemmende Enge. Es sind nicht nur wesentlich mehr Figuren im kleinen Raum an-wesend, sondern sie sind auch größer und monumentaler.

Im Hinblick auf die Zuschreibung der Miniatur bleibt zusammenfassend festzuhalten:

Es gibt viele stilistische Parallelen zwischen der Miniatur und den akzeptierten Werken Hugos, aber auch einige Unterschiede. Letztere könnten als das Resultat der Unter-schiedlichkeit der Bildmedien bzw. Maltechniken interpretiert werden, derer sich der Künstler mit zunehmender Erfahrung als Buchmaler bewusst wurde. Dass die Miniatur nichts mit Hugo van der Goes zu tun hat, dürfte unwahrscheinlich sein. Doch man kann die Möglichkeit, dass sie das Werk eines Nachfolgers ist, ebenso wenig ausschließen, wie diejenige, dass der Maler nichts mit den Malern der anderen beiden Miniaturen zu tun hat. Diese Möglichkeiten sind allerdings als eher theoretisch anzusehen, da eine so starke Zersplitterung dieser sonst relativ homogenen Werkgruppe ungewöhnlich wäre.

Im Dokument Studien zu Hugo van der Goes (Seite 128-132)