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Biografisches

Im Dokument Studien zu Hugo van der Goes (Seite 38-47)

1 Einleitung

1.3 Biografisches

Bei der Beschäftigung mit dem Werk eines Künstlers ist es unerlässlich, sich auch mit seiner Persönlichkeit auseinanderzusetzen, wenn über diese etwas bekannt ist. Obwohl es manchmal schwer oder unmöglich erscheint, die komplexe Beziehung zwischen Werk und Urheber zu analysieren, ohne in unwissenschaftliche Spekulationen oder in die alte Künstlergeschichte zu verfallen, der es v. a. um die Heroisierung von Genies ging, trägt doch jedes Wissen über den Charakter des Künstlers in irgendeiner Weise zum besseren Verständnis seiner Werke bei. Erst recht gilt dies für Hugo van der Goes, der höchst-wahrscheinlich der erste europäische Maler war, über dessen Person man überhaupt etwas weiß. Aus diesem Grund wäre auch jede Studie über ihn bzw. seine Arbeit, welche den Menschen Hugo ignoriert, unvollständig.

Die Überlieferungen über einige Aspekte dieser Künstlerpersönlichkeit verdanken wir Gaspard Ofhuys, einem Mönch aus dem sog. Roode Klooster bei Brüssel, wohin sich der Maler in den späteren 1470er Jahren zurückgezogen hatte. Jahrzehnte nach dem Tod Hugos, im frühen 16. Jahrhundert, verfasste Ofhuys – dann schon als Abt – die Kloster-chronik, worin er einige Seiten auch seinem berühmten Mitbruder widmete.136 Im Mittelpunkt dieses Textes, der zweifellos zu den faszinierendsten schriftlichen Quellen sowohl zur europäischen Kunst als auch zur Geschichte der Psychiatrie gehört, steht der (temporäre) Seelenzustand des Künstlers, der einen schweren Nervenzusammenbruch oder eine sog. posttraumatische Belastungsreaktion137 erlitt. Vor der genaueren Analyse und Interpretation dieser Quelle sei jedoch auf einige Fakten zur sonst nicht sehr üppigen Quellenlage über diesen Maler hingewiesen.

Zunächst muss betont werden, dass die Nachrichten über Hugos Persönlichkeit zwar einzigartig für die Zeit, aber dennoch sehr fragmentarisch sind. Sie konzentrieren sich fast ausschließlich auf seinen psychischen Zustand und dessen mögliche Ursachen, sind

136 Erste Transkription und französische Übersetzung des Textes siehe Wauters 1872, 12ff; englische Übersetzung siehe McCloy 1958, 16ff (darauf basiert auch Imaginair Museum Doc. XLIII); Neu-transkription und Reproduktionen der Handschrift siehe Dhanens 1998, 46, S. 392f; Neuabdruck der englischen Übersetzung siehe Koster 2008, 13ff; niederländische Übersetzung siehe Ridderbos 1991, S. 219-221. Die originale Handschrift wird in der Bibliothèque Royale in Brüssel aufbe-wahrt (Signatur MS II, 48017, fol. 115v, Zeile 23 bis fol. 118r, Zeile 25).

137 ICD F43.1 (International classification of diseases, http://www.icd-code.de/icd/code/

F43.1.html, 05.02.2014)

also eher eine Art psychiatrisches Gutachten. Sie beziehen sich daher nur auf einen kurzen, vermutlich kaum mehr als ein halbes Jahr andauernden Lebensabschnitt des Künstlers. Außerdem wurden sie von einer Person verfasst, die den Maler zwar persön-lich kannte, doch offensichtpersön-lich nicht mit ihm befreundet war, also nicht zu seinem engeren Freundeskreis, seinen Kollegen oder Verwandten gehörte. Auch gibt es keine Hinweise dafür, dass Gaspard Ofhuys ein Kunstfreund war (sondern eher im Gegenteil).

Aus diesem Grund kannte der Autor scheinbar auch nicht viele Fakten über Hugo und seinen Kreis. Sein Alter dürfte ihm ebenfalls unbekannt gewesen sein, denn er macht nicht einmal ungefähre Angaben darüber. Allerdings nennt er uns sein Todesjahr (1482) und den Ort seines Grabes im Klosterhof – obwohl der Künstler spätestens wenige Jahre nach seiner psychischen Krise starb, dürfte dies ein eindeutiger Hinweis für eine natür-liche Todesursache sein (Selbstmördern stand kein christnatür-liches Begräbnis zu). Da der Text trotz der umfangreichen Kenntnisse des Autors auf dem Gebiet der Psychiatrie begrifflich ziemlich inkonsistent ist, lässt sich andererseits der Eindruck nicht vermeiden, dass Ofhuys doch mehr über Hugo wusste, als er niederschrieb – so ist etwa irritierend, dass in der Chronik der Begriff der „Phrenitis“138 in den Vordergrund geschoben wird,

138 „Phrenitis“ ist eine medizinische Diagnose aus der Antike und dem Mittelalter; man nahm an, dass bei psychischen Störungen eine Gehirnentzündung vorliege (Villarino Herreria 1997).

obwohl doch sehr viel auf eine schwere Depression (im Mittelalter wurde diese als Melancholia bzw. Acedia139 bezeichnet) mit z. T. deliranten Zügen hinweist.140

Diesem Bericht in der Klosterchronik steht eine sogar für das spätere 15. Jahrhundert ungewöhnlich spärliche Anzahl von Dokumenten gegenüber, die handfeste Tatsachen zum Leben des Künstlers nennen: Wir wissen nicht wann und wo Hugo geboren ist, wer sein(e) Lehrer war(en), warum er sich ins Kloster zurückzog, wir besitzen keine Angaben über seinen Familienstand und er signierte auch keines seiner erhaltenen Werke.

Im Genter Stadtarchiv befinden sich einige Dokumente aus den Jahren 1467 bis 1477, in denen der Name Hugo (van der Goes) – meist zusammen mit der Berufsbezeichnung

„schildere“ – erwähnt wird. Das Erste bezeugt die Aufnahme des Malers in die Genter Malergilde als selbstständiger Meister und ist auf den 5. Mai 1467 datiert. Sein Bürge war der einige Jahre ältere Antwerpener Maler Joos van Wassenhove.141 Aus diesem

139 Die wörtliche Übersetzung des Begriffs „Acedia“ wäre „Faulheit“, jedoch ist im historischen Kontext wohl eher eine Störung des sog. psychomotorischen Antriebes, d. h. eine Antriebs-hemmung gemeint, die oft mit depressiven Erkrankungen einhergeht. Tatsächlich wurde „Acedia“

auch im Mittelalter eng mit traurigen oder melancholischen Gemütszuständen in Verbindung gebracht (Post 2011; Paris, Berlin 2005; Theunissen 1996; Klibansky, Panofsky, Saxl 1964);

„Die Visionäre bewegten sich auf heiklem Gebiet. Zudem ist der Glaubenszweifel, der manche von ihnen ergriff, unter dem Namen 'acedia' in die theologische Diskussion eingegangen. Diese 'Mönchskrankheit' äußerte sich in Fluchttendenzen oder Abschottung und Mißachtung der Ordenspflichten; sie wurde seit dem vierten Jahrhundert aus den Erschöpfungszuständen syrischer und ägyptischer Asketen hergeleitet und Anfang des fünften Jahrhunderts von Johannes Cassianus im zehnten Buch seiner Schrift 'De institutis coenobiorum' (Über die Einrichtungen der Klöster) in den Katalog der Hauptsünden aufgenommen. Dante (1265-1321) erwähnt das Leiden in seiner Göttlichen Komödie. Für die hier behandelte Epoche sind die Ausführungen in Thomas von Aquins (1225/26-1274) 'Summa theologica' (Summe der Theologie) maßgeblich. Im Teil über die menschlichen Leidenschaften heißt es, daß Schmerz und Traurigkeit aus einer Störung der Lebensführung resultierten und die geistliche Tätigkeit behindern könnten. Diese Gefühle hätten deshalb im sittlichen Leben nur eine eng begrenzte Funktion als Anreiz zur Selbsteinkehr und würden in Ausnahmefällen bis zum Wahnsinn führen. Die 'acedia' (Überdruß oder Unlust) sei die vierte und schwerste Art von Traurigkeit neben dem Mitleid, dem Neid, und der Angst. Sie wird als eine 'geistige Lähmung' definiert, die sogar das Sprechen und die körper-liche Bewegung einschränken könne. In dem Abschnitt der Summa theologica, in dem die Liebe besprochen wird, diskutiert Thomas die 'acedia' als ein der Liebe zu Gott entgegensetztes Phänomen und definiert sie als einen Widerwillen ('taedium') gegen alle Tätigkeiten und als eine 'Erschlaffung des Geistes'. Er hält sie für ein Hauptlaster und für eine Sünde, die nur dann zu verzeihen sei, wenn der Wunsch nach Rückzug nicht in die Tat umgesetzt werde – andernfalls handele es sich um eine Todsünde. Zur Abhilfe empfahl er die weitere Versenkung in die 'geistigen Güter', um 'Wohlgefallen' an ihnen zu finden. Thomas beschäftigt sich insbesondere mit dem Phänomen, daß man sich gegen das höchste theologische Gut, gegen die Freude an der Liebe zu Gott, sträuben könne” (Brückner 2007, S. 125f).

140 Brückner 2012; Ähnliches vermutete übrigens auch schon McCloy (McCloy 1958, S. 29-34).

141 Gent, Oudergem 1982, Doc. II.

Dokument lassen sich natürlich Schlüsse auf Hugos ungefähres Geburtsjahr ziehen: Da ein Maler in den Niederlanden des 15. Jahrhunderts die Freimeisterschaft meist nicht vor seinem 25. Lebensjahr erlangte, dürfte Hugo um 1440 geboren sein. Im Zusammenhang mit der Malergilde wird er in den folgenden beiden Jahren zweimal als Geschworener erwähnt und in den Jahren 1469, 1471, 1473 und 1474 bürgte er als Meister bei der Aufnahme anderer Maler in die Gilde. 1474 und 1475 war er sogar Dekan der Genter Malergilde.142 Zwischen 1468 und 1474 wird Hugos Name auch regelmäßig im Zu-sammenhang mit städtischen Aufträgen genannt, darunter Papstwappen, Wappen-schilden für die Aufbahrung Herzog Philipps des Guten, Werken anlässlich der Hochzeit Karls des Kühnen mit Margarete von York oder Leinwandbildern für den Festeinzug Karls des Kühnen.143 Von diesen Malereien ist scheinbar nichts erhalten. Nach 1475 wird sein Name in den Genter Stadtarchivalien nicht mehr erwähnt, jedoch bezahlte er bis 1477 noch die Miete für ein Haus in der St. Pietersniuwstraat.144 In das Kloster dürfte der Maler allerdings schon früher, vielleicht um 1475, eingetreten sein – es ist anzu-nehmen, dass er die Miete v. a. für die noch unvollendeten, schwer transportierbaren großen Aufträge wie den Portinari-Altar zahlen musste. Schließlich lassen sich zwei Ein-tragungen in den Löwener Stadtrechnungen des Jahres 1480 auf Hugo van der Goes be-ziehen: Diese nennen einen Maler-Mönch aus Roodendaele, der im Auftrag des Rates u. a. die teilweise unvollendeten Gerechtigkeitsbilder des 1475 verstorbenen Dirk Bouts schätzte.145 In dieser Eintragung wird kein Name genannt, aber es wird hinzugefügt, dass dieser Mönch einer der besten Maler des Landes und in Gent geboren sei.146

An dieser Stelle erscheint ein kurzer Exkurs über die „Künstlerfamilie van der Goes“

angebracht. In der jüngeren Forschung wurde das Thema mehr oder weniger aus-geblendet, obwohl wir uns hier auf nicht allzu schwankendem Grund bewegen, da man eigentlich überdurchschnittlich viel über den familiären Hintergrund des Künstlers weiß.

Am sichersten zu fassen sind v. a. zwei Personen: ein gewisser Nicolas oder Niclaes, der in der Ofhuys-Chronik als Hugos Halbbruder bezeichnet wird. Er dürfte zumindest

142 Gent, Oudergem 1982, Doc. V, VI, VII, IX, XII, XVII, XIX, XX-XXI.

143 Gent, Oudergem 1982, Doc. III, IV, VIII, X, XI, XIII, XIV, XVI, XVIII.

144 Gent, Oudergem 1982, Doc. XLIII.

145 Gent, Oudergem 1982, Doc. XXVIII, XXIX.

146 Es wäre allerdings nicht ungewöhnlich, wenn die Genter ihn nur deswegen zum gebürtigen Genter erklären wollten, weil er damals schon als einer der größten Künstler seiner Zeit galt. Als eine Art „Geburtsurkunde“ kann diese Quelle also keinesfalls angesehen werden.

einige Jahre vor dem Maler ins Kloster eingetreten sein. Da er als sein Halbbruder be-zeichnet wird, war er wohl auch älter als Hugo. Die zweite Person ist eine gewisse Kathlijn van der Goes. Sie war die Mutter Simon Benings147, eines der größten Buch-maler des 16. Jahrhunderts, den sie kurz vor Hugos Tod auf die Welt brachte, und Ehe-frau von Sanders Bening148, einem Buchmaler, mit dessen Namen man allerdings kein einziges Werk in Verbindung bringen kann. Wir wissen eigentlich nicht, ob überhaupt bzw. in welchem Verwandtschaftverhältnis Kathlijn zu Hugo van der Goes stand, jedoch war jener Bürge bei der Aufnahme ihres (künftigen) Mannes in die Genter Malergilde, was ein verwandtschaftliches Verhältnis sehr wahrscheinlich macht. Am Naheliegendsten ist daher, dass sie eine jüngere Schwester des berühmten Tafelmalers war.149 Die Quellenlage zum (mutmaßlichen) Vater des Künstlers ist widersprüchlich: In den Dokumenten begegnen wir einem Maler namens Pieter van der Goes, der mehrfacher Vater und offenbar zweimal verheiratet war (wahrscheinlich ist seine erste Frau früh verstorben), da Hugo ja einen Halbbruder hatte, obwohl er scheinbar nicht Mitglied einer Malergilde, also kein freier Meister war.150 Hugo bzw. Kathlijn van der Goes dürften noch nicht volljährig gewesen sein, als Pieter van der Goes verstarb.151 Hugo van der Goes entstammte also – wenig überraschend – einer niederländischen Künstler-familie. Der Eintritt seines Halbbruders Nicolas ins Kloster macht es wahrscheinlich, dass dieser – wohl als Miniaturmaler oder Kalligraf – an der Anfertigung von illuminierten Handschriften beteiligt war, obwohl man auch ihm keine konkreten

147 Los Angeles 2003, S. 447-487.

148 Los Angeles 2003, S. 447.

149 Dies ist in der Tat wahrscheinlich, jedoch kann eine weitere Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, da man ja im Grunde nichts über den Ehestand des Künstlers weiß: Sie könnte auch Hugos Tochter gewesen. In den Quellen werden zwar weder Ehefrau noch Kinder genannt, aber das muss nicht bedeuten, dass es sie nicht gab. So könnte z. B. eine mutmaßliche Ehefrau, die dann Kathlijns Mutter gewesen sein müsste, früh verstorben sein, was auch für weitere mutmaß-liche Kinder gelten müsste. Auf jeden Fall gibt es keine Dokumente, die das Gegenteil bezeugen, d. h., dass Hugo van der Goes unverheiratet bzw. kinderlos war (abgesehen von seinem Eintritt ins Kloster, allerdings dürfte er zu dem Zeitpunkt für damalige Verhältnisse kein allzu junger Mann mehr gewesen sein) und v. a. wäre es ungewöhnlich, wenn ein freier Malermeister nicht nur unverheiratet ist, sondern noch dazu Karriere macht und zum Dekan der Malergilde ernannt wird. (Ein Beispiel für einen unverheirateten Malermeister, also gewissermaßen die Ausnahme, welche die Regel bestätigt, wäre Martin Schongauer. Jedoch scheint die Situation in den Nieder-landen, wo die Gilden eine sehr mächtige Position hatten, etwas weniger „liberal“ gewesen zu sein als im deutschsprachigen Raum.)

150 Dies könnte hingegen ein Indiz dafür sein, dass Pieter van der Goes Miniaturmaler war.

151 McCloy 1958, S. 65f.

Arbeiten zuschreiben kann. Ebenso wenig kann man die zumindest zeitweise (künst-lerische) Mitarbeit von Kathlijn van der Goes in der Werkstatt ihres Mannes aus-schließen.152

Endlich zum interessantesten Teil der Biografie Hugos van der Goes, dem Text in der Chronik des Roode Kloosters. Es erschien aus mehreren Gründen angebracht, ihn neu ins Deutsche zu übertragen.153 Einerseits enthalten die bisherigen, zumeist älteren Über-setzungen v. a. grammatikalische Ungenauigkeiten, die aber z. T. gravierende Aus-wirkungen auf den Inhalt des Textes haben.154 Außerdem müssen sie aus heutiger Sicht als zu frei angesehen werden, weil sie den einfachen Stil der mittelalterlichen Aus-drucksweise nicht berücksichtigen. Die Interpretierbarkeit des Textes, bei dem tatsäch-lich sehr viel zwischen den Zeilen zu stehen scheint, ist also eigenttatsäch-lich vollkommen ver-loren gegangen. Um diese zu erhalten bzw. wiederherzustellen, wurden die älteren Übersetzungen, auf welche die Neue (notwendigerweise) aufbaut, gewissermaßen

„stilistisch bereinigt“, wobei stellenweise eine vielleicht zu wörtliche Übersetzung in Kauf genommen wurde. Auch dürften die ersten Übersetzer bzw. Leser zu wenig psycho-logische bzw. medizinische Vorbildung gehabt haben, um den Inhalt einigermaßen zu begreifen (daraus ergaben sich wohl auch manche Übersetzungsfehler).155

In der Tat ist der Text nicht einfach zu verstehen, da die Perspektive des Autors zu-nächst sehr religiös und mittelalterlich-naiv erscheint. So meint er etwa, Hugos seelische Störung sei eine Strafe Gottes gewesen, da der Maler aufgrund seines beruflichen Erfolges bzw. seiner Berühmtheit hochmütig geworden sei und darüber hinaus vielen

152 „The mass-production of books is one of the few areas which frequently involved the participation of women painters, who from the fourteenth century onwards are known to have collaborated in husband-and-wife teams in the execution of programmes of illumination“ (Timmermann 2003, S. 47; Binski 1991, S. 9).

153 Siehe Anhang A.

154 Die erste deutsche „Inhaltsangabe“ (Sander 1912, S. 521-525) ist zwar sehr ausführlich – z. T.

sogar ausführlicher als der Originaltext – und überraschenderweise inhaltlich korrekter als die französische Übersetzung bzw. diejenigen, die auf sie basieren, doch ist sie eher eine freie Nach-erzählung als eine Übersetzung. Auch dieser Übersetzer verstand z. B. nicht, dass die Vene selbst als die Quelle der kreativen Phantasie angesehen wird, oder dass Ofhuys von Hugos angeborener depressiver Neigung schreibt.

155 „Wir hielten es daher für angezeigt, zunächst eine möglichst wortgetreue und sinngerechte Über-setzung des stilistisch und grammatikalisch in schlechtem Mönchslatein ziemlich unleserlich ge-schriebenen und nicht allzu leicht verständlichen Textes (...) zu geben (…)“ (Sander 1912, S. 520); Merkwürdigerweise hat man teilweise den Eindruck, dass man um 1500 mehr über psychische Krankheiten wusste als um 1900.

weltlichen Versuchungen nicht standhalten konnte. Auch kritisiert der Autor, dass seinem berühmten Mitbruder vom Abt des Klosters einige „weltliche Freiheiten“ gewährt wurden, worunter auch das Malen fiel. Zum besseren Verständnis dieser Perspektive muss man sich bewusst sein, dass das Roode Klooster in der Nähe von Brüssel zur sog.

Windesheimer Kongregation156 gehörte. Diese war von den Nachfolgern Geert Grootes157, des berühmten nordniederländischen Vertreters der Devotio Moderna158, begründet worden. Die Ideale der Windesheimer waren Besitzlosigkeit, Bescheidenheit und Arbeit, darunter v. a. das Schreiben bzw. Kopieren von Büchern, Gartenarbeit und Landwirt-schaft.159 Beim Malen war man sich nicht einig, ob es zu den unangebrachten Tätigkeiten gehören sollte oder nicht, denn es kam drauf an, wie und was man malte. Im All-gemeinen werden die modernen Devoten die (visuelle) Pracht jedoch abgelehnt haben.

Zu diesen gehörte wohl auch Gaspard Ofhuys.160 In diesem Kontext ist auch eine Be-merkung zu den möglichen Gründen, die Hugo van der Goes dazu bewogen haben, ins Kloster einzutreten, angebracht: Gegenüber der Weiterführung seines früheren Lebens als Oberhaupt einer Malerwerkstatt bot ihm das Leben in einem Kloster wahrscheinlich mehr Vorteile als Nachteile, d. h., es wird wohl eine Kombination von mehreren Um-ständen bzw. Faktoren gewesen sein. Wenn man aber annimmt, dass es ursprünglich gar nicht die Idee des Malers war, bewegt man sich – vor dem eben dargestellten Hinter-grund – nicht unbedingt auf allzu spekulativem Boden: Vermutlich wurde er vom Abt eingeladen, vielleicht sogar dazu überredet, und zwar damit er im Roode Klooster, welches nachweislich ein größeres Skriptorium besaß, als Miniaturmaler an der Produktion von illuminierten Handschriften mitwirkte.

Die seelische Krise Hugos fand laut Ofhuys einige Jahre, nachdem er das Ordens-gelübde abgelegt hatte, statt, also ungefähr um 1480. Nach einem plötzlichen Selbst-mordversuch verfiel er in eine schwere Depression. Über die Dauer dieser Phase macht der Autor keine präzisen Angaben, was auch für ihre genaueren Umstände bzw. Beweg-gründe gilt. Für einen psychologisch interessierten Leser stellt der Text daher eine große

156 Jostes 2008; Rüthing 1992.

157 Janowski 1978.

158 Van Engen 2008; Derwich 2004.

159 Post 1968, S. 293-309.

160 Allerdings ist bekannt, dass es im Roode Klooster ein wichtiges Skriptorium gab, wo höchst-wahrscheinlich auch Buchmaler arbeiteten, auch die Anwesenheit von (Tafel-)Malern in solchen Klöstern war nicht ungewöhnlich (Dhanens 1998, S. 53, 55).

Versuchung dar, diese mysteriöse Krankheit nach modernen wissenschaftlichen Ge-sichtspunkten zu interpretieren. Dennoch nennt uns der Autor nicht genug Kriterien, um eine genauere Diagnose aufstellen zu können, es kämen wahrscheinlich zahlreiche Möglichkeiten in Betracht, von Arbeitssucht über Burnout bis hin zur Reaktion auf den Ausbruch einer tödlichen körperlichen Erkrankung.

Auch Ofhuys schließt an seinen Bericht eine interessante Diskussion über die mög-lichen Ursachen der Krankheit an. Dem Laien mag sie zunächst eher unwissenschaftlich erscheinen, aber sie gehört zweifellos zu den seriösesten medizinischen Texten aus dem späten Mittelalter. Nicht zuletzt zeugt er vom hohen Wissen des Autors über Psychiatrie, was sehr gut zum beginnenden (natur-)wissenschaftlichen Interesse der frühen Neuzeit passt (die Klosterchronik wurde bereits im 16. Jahrhundert verfasst).161 So war dem Autor z. B. schon klar, dass es verschiedene Arten von Depressionen162 gibt und dass bei dieser Krankheit auch die genetische Komponente eine wichtige Rolle spielt, also eine angeborene Neigung163 (infirmitas naturalis). Sogar der enge Zu-sammenhang zwischen Angst und Depression und die organische Ursache mancher psychischer Störungen waren ihm bereits bekannt (malicia humoris corrupti).164 Ausführlich diskutiert er in diesem Kontext daher die Möglichkeit einer „natürlichen Pathogenese“. Zu diesem Zweck führt er die zu seiner Zeit offenbar verbreitete Hypo-these an, der zufolge es in der Nähe des Gehirns eine zarte Vene gäbe, welche die Quelle der kreativen Phantasie des Menschen sei und leicht platzen könne, wenn man zulässt, dass einen die „Leidenschaften der Seele“ beherrschen. Zu viel „Phantasterei“ führe also zum unheilbaren Wahnsinn (amentia). Hier offenbart sich also die eher puritanische,

161 Tatsächlich dürften Ofhuys' Kenntnisse auf dem Gebiet der Psychiatrie für die damalige Zeit sogar auf professionellem Niveau gewesen sein. Dennoch war er anscheinend nicht nur kein Kunstfreund, sondern auch nicht unbedingt eine einfühlsame, verständnisvolle „Therapeuten-Persönlichkeit“. Andererseits könnten diese (mutmaßlichen) Charakterzüge auch auf sein fort-geschrittenes Alter zu der Zeit, als er die Chronik schrieb, zurückzuführen sein.

162 Z. B. agitierte, endogene, hypochondrische, larvierte, neurotische, pharmakogene, psychogene,

162 Z. B. agitierte, endogene, hypochondrische, larvierte, neurotische, pharmakogene, psychogene,

Im Dokument Studien zu Hugo van der Goes (Seite 38-47)