• Keine Ergebnisse gefunden

4. Befragung von Richterinnen und Richtern der Sozialgerichtsbarkeit

4.3. Ergebnisse

4.3.5. Folgen der Abschaffung der Gebührenfreiheit

Der Gesetzentwurf geht von der Annahme aus, dass sich das Klageverhalten durch die Ein-führung von Gebühren steuern lässt. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit die be-fragten Richterinnen und Richter dieser Annahme zustimmen und welche Auswirkungen die Abschaffung der Gebührenfreiheit nach Meinung der Richter hätte. Hier ist insbesondere auch zu prüfen, ob bestimmte Bevölkerungsgruppen durch die Einführung von Gebühren von der Inanspruchnahme der Sozialgerichte abgehalten werden.

Ein großer Teil der befragten Richterinnen und Richter ist der Meinung, dass die Abschaffung des Grundsatzes der Gebührenfreiheit Auswirkungen auf das Klageverhalten haben wird (Schaubild 4.7): Etwa drei Viertel sagen, dass die Klagebereitschaft generell abnehmen wird.

Ebenso viele meinen, dass die Bereitschaft, ein Rechtsmittel einzulegen, durch die Einführung von Gerichtsgebühren zurückgehen wird, und dass die Zahl der (wie oben gezeigt allerdings wenigen) „offensichtlich aussichtslosen“ Klagen durch die Einführung einer Gebührenpflicht abnehmen werden.

73 Einige dieser Effekte sind erst im multivariaten Modell signifikant.

74 Auch ehemalige Verwaltungsrichter sind besonders häufig der Ansicht, dass Klagen häufig zum Selbstzweck geführt werden. Allerdings ist dieser Effekt im multivariaten Modell nicht signifikant.

Schaubild 4.7: Auswirkungen der Einführung von Gebühren auf die Klagebereitschaft und die Arbeitsbelastung der Gerichte (Anteil „stimme eher zu“ und „stimme voll zu“ zusammen)

Nicht unerwartet gibt es dabei eine hohe Korrelation zwischen der Ursachenanalyse und den vermuteten Wirkungen einer Abschaffung der Gebührenfreiheit. D.h. Richter, die davon aus-gehen, dass die Gebührenfreiheit aussichtslose Klagen begünstigt oder generell zum Klagen ermutigt, sind auch häufiger als andere der Ansicht, dass die Abschaffung der Gebührenfrei-heit zu einem Rückgang der aussichtslosen Klagen bzw. der Klagebereitschaft generell führen wird (Tabellen 33 und 34 im Anhang zu Kapitel 4). So stimmen beispielsweise 86% der Be-fragten, die die Gebührenfreiheit in eher oder sehr hohem Maße als klageförderlich ansehen, aber nur 44% der übrigen, eher oder voll zu, dass durch die Abschaffung der Gebührenfreiheit die Klagebereitschaft abnehmen wird.

Etwa 90% der Befragten gehen davon aus, dass Kläger, für die die Klage existenziell wichtig ist,75 auch weiterhin Klage erheben werden. Auf der anderen Seite lassen die Aussagen der Richter auch den Schluss zu, dass eine Einführung von Gebühren sozial selektiv wirken wird (Schaubild 4.8), denn knapp 50% sagen, dass der Anteil der Klägerinnen und Kläger mit un-

75 Im Durchschnitt werden je 28% aller Klagen als existenziell sehr wichtig und wichtig eingestuft und 20% als unwichtig. Richter, die voll und ganz zustimmen, dass Klagen häufig zum Selbst-zweck geführt werden, nennen dabei durchschnittlich höhere Anteile existenziell unwichtiger Kla-gen. Höhere Anteile unwichtiger Klagen werden auch von Richtern mit Sachgebiet SGB IX und Versorgungsrecht genannt. Richter mit Sachgebiet Rentenversicherung, SGB II und Zusatzversor-gung geben dagegen, wie bereits erwähnt, höhere Anteile sehr wichtiger Klagen an (Tabellen 78-85 im Anhang zu Kapitel 4).

89,6%

88,8%

76,9%

75,0%

73,6%

49,2%

39,4%

25,5%

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%

Weiterhin Klageerhebungen bei existenzieller Wichtigkeit

Zunahme der Prozesskostenhilf eanträge

A bnahme der Rechtsmittel A bnahme aussichtsloser

Klagen A bnahme Klagebereitschaf t

A bnahme der A rbeitsbelastung der Gerichte

V erw altungsauf w and höher als Ertrag

Zunahme der A rbeitsbelastung der Gerichte

terdurchschnittlichem Einkommen abnehmen wird.76 Darüber hinaus meinen fast 60%, dass durch eine Abschaffung der Gebührenfreiheit der Anteil der Kläger abnehmen wird, die sich selbst vertreten, was wiederum zu einer Zunahme von Anträgen auf Prozesskostenhilfe führen könnte (siehe unten). Was den Anteil älterer Menschen und Frauen angeht, so sind die befrag-ten Richter mehrheitlich der Meinung, dass deren Anteil nicht abnehmen wird. Allerdings trauen sich hier viele eine Einschätzung nicht zu.

Abgesehen von möglichen negativen (weil selektiven) Auswirkungen der Einführung einer Gebührenpflicht stehen auch Ertrag und Aufwand offenbar in keinem ausgewogenen Verhält-nis: Fast 90% der Befragten gehen davon aus, dass die Abschaffung der Gebührenfreiheit zu einem Anstieg der Anträge auf Prozesskostenhilfe führen wird (vgl. erneut Schaubild 4.7).

Nur die Hälfte geht deshalb davon aus, dass die Arbeitsbelastung der Gerichte durch die Ein-führung einer Gebührenpflicht abnimmt. Gut ein Viertel erwartet sogar eine Zunahme der Be-lastung der Gerichte.

Schaubild 4.8: Auswirkungen der Einführung von Gebühren auf die Struktur der Kläger (Pro-zent)

Wie bei den Ursachen, dem Anteil aussichtsloser Verfahren und der Struktur der Kläger gibt es auch bei den Wirkungen unterschiedliche Einschätzungen je nach Sachgebiet, Gerichtstyp,

76 Von denen, die in eher oder hohem Maße zustimmen, dass bei existenzieller Wichtigkeit weiter Klage erhoben wird, meinen gut 50%, dass der Anteil der Personen mit niedrigem Einkommen ab-nehmen wird, von denen, die eher oder nicht zustimmen, sind es fast 90% (Tabelle 86 im Anhang zu Kapitel 4). Anteil älterer Mens chen Anteil der Kläger ohne Prozes s vertretung

Kann ich nicht beurteilen Wird nicht abnehm en Wird abnehm en

Berufserfahrung und Bundesland.77 Dass die Klagebereitschaft generell abnehmen wird, mei-nen vor allem Richter mit Sachgebiet Zusatzversorgung, die vor allem in den neuen Bundes-ländern tätig sind, sowie Richter aus dem Saarland und Schleswig-Holstein. Eine Abnahme der Bereitschaft, Rechtsmittel einzulegen, erwarten insbesondere Richter aus dem Sachgebiet SGB IX, die, wie oben erwähnt, unter den Klägern auch viele vermuten, für die Klagen einen Selbstzweck darstellen, sowie ebenfalls saarländische und schleswig-holsteinische Richter.

Richter mit langjähriger Berufserfahrung, solche, die Angelegenheiten der BA bearbeiten, sowie Richter aus Hamburg, Hessen und Sachsen-Anhalt sind vergleichsweise selten der Meinung, dass es durch die Einführung von Gebühren zu einem Rückgang der Klagebereit-schaft bzw. einer Abnahme aussichtsloser Verfahren kommt.

Dass die Arbeitsbelastung der Gerichte zunimmt, vermuten Richter mit langjähriger Berufser-fahrung sowie Richter aus Hessen und Sachsen-Anhalt signifikant häufiger, Richter an Lan-dessozialgerichten, ehemalige Verwaltungsrichter und Richter im Saarland seltener. Bis auf den Einfluss der Gerichtsart und der Berufserfahrung in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sind dieselben Merkmale auch für die Einschätzung relevant, ob der Verwaltungsaufwand den Nutzen übersteigt. Dass die Arbeitsbelastung der Gerichte durch die Einführung von Gebüh-ren abnimmt, glauben insbesondere ehemalige Verwaltungsrichter, wähGebüh-rend Richter mit lang-jähriger Berufserfahrung und Richter aus Hamburg und Hessen eher nicht dieser Meinung sind.

Zusammenfassend gesagt könnte sich nach Meinung der Richter die Einführung von Ge-richtsgebühren also sowohl auf das Klageverhalten und die Struktur der Kläger als auch auf die Arbeit der Gerichte auswirken. Etwa drei Viertel der Richter gehen davon aus, dass die Einführung von Gebühren die Klagebereitschaft und die Bereitschaft, Rechtsmittel einzule-gen, senken wird. Dabei könnte die Einführung von Gebühren nach Meinung der Richter so-zial selektive Wirkungen haben: Zwar meinen knapp 90% der befragten Richter, dass bei exi-stenziell wichtigen Fragen auch im Falle von Gebühren Klage erhoben wird. Mehr als 40%

glauben aber auch, dass durch die Einführung von Gebühren der Anteil von Klägern mit ge-ringem Einkommen und niedriger Bildung sinken wird. Dass die Klagebereitschaft zurück-geht und der erwartete Nutzen (Gebühreneinnahme) den Verwaltungsaufwand, der mit der Einführung von Gebühren verbunden ist (z. B. durch die Zunahme der Anträge auf Prozess-kostenhilfe), übersteigt, wird nicht zuletzt von Richtern mit langjähriger Berufserfahrung in Zweifel gezogen. Darüber hinaus werden die möglichen Folgen einer Abschaffung der Ge-bührenfreiheit auch nach Rechtsgebiet und Bundesland unterschiedlich beurteilt, während die Unterschiede zwischen den Instanzen vergleichsweise gering sind.

Im Folgenden wird ein finanzielles Instrument genauer betrachtet, das den Richtern bereits jetzt zur Verfügung steht, um das Klageverhalten zu beeinflussen.

77 Vgl. Tabellen 35-47 im Anhang zu Kapitel 4. Wie zuvor können sich die Ergebnisse der bivariaten und multivariaten Analysen unterscheiden, da im multivariaten Fall Zusammenhänge zwischen den unabhängigen Variablen (insbesondere den Rechtsgebieten) herausgerechnet werden. Das multiva-riate Modell für „Zunahme der Anträge auf Prozesskostenhilfe“, eine Folge, bei der es ein sehr ho-hes Maß an Zustimmung gab, ist nicht signifikant.