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Bearbeitung 3: Differenzierung --> Inskription

2. Orientierung auf eine Anschlussoption als Bearbeitungsgrundlage:

3.5 Fazit

der Tafel, das Relevantsetzen ihrer horizontalen Strukturierung und der gestische Verweis auf die Dreigliedrigkeit des Konzepts erweisen sich als geeignete Mittel zunächst für das Erarbeiten eines Sachverhalts und dann für dessen Zur-Verfügung-Haben als „common ground“ der Gruppe.

Betrachtet man die umfangreiche empirische Literatur zur Unterrichtskommuni-kation und zu Fragen der interaktiven Herstellung von Wissen (Kap. 3.1.1), so fällt auf, dass solchen materiellen Strukturen analytisch kaum Rechnung getragen wird: Auf der einen Seite gibt es eine Vielzahl an Studien, die gesprächsanalytisch arbeiten, aber ausschließlich die verbale Ebene der Interaktion betrachten. Auf der anderen Seite verfügen die (wenigen) Untersuchungen, die multimodale Aspekte in die Analyse einbeziehen, in der Regel über keine explizite Methode für die sequenzielle Analyse der Mikro-Praktiken von Interaktion. – Vor diesem Hintergrund ist nach Anregungen für die gesprächsanalytische Untersuchung der funktionalen Rolle von Tafel-Inskriptionen im Unterrichtsprozess v.a. in anderen Forschungsbereichen zu suchen (Kap. 3.1.2 und 3.1.3). Dieses sind:

(1) die Science Studies (Lynch, 1993), die im Rahmen der Erforschung wissenschaftlicher Praktiken den Begriff der „Inscription“ (Latour, 1987) (Latour, 2000;

Latour & Woolgar, 1979; Lynch & Woolgar, 1990) zur Bezeichung der Transformationsprozesse eingeführt haben, durch die aus ‚natürlichen’ Objekten die in wissenschaftlichen Artikeln vorfindbaren Skizzen, Diagramme etc. hergestellt werden.

Von Streeck & Kallmeyer (2001) um eine interaktive Komponente erweitert, verweist der Begriff der „Inskription“ auf zwei Aspekte: (a) die Idee der Materialisierung und Transformation sowie (b) die Dualität von interaktiver Handlung und dabei entstehender materieller Struktur.

(2) der Ansatz der Distributed & Situated Cognition (Conein & Jacopin, 1994) (Hutchins, 1995; Resnick et al., 1997), der einen konzeptuellen Rahmen bietet, in dem Objekte als Ressourcen für das Ausführen kognitiver Tätigkeiten betrachtet werden. Im Gegensatz zur in der Psychologie allgemein üblichen Vorstellung von Kognition als individuell-interne mentale Aktivität wird hier Kognition konzeptualisiert als in Interaktion mit anderen Teilnehmern, materiellen Objekten und spezifischen Umgebungen stattfindend.

(3) die Actor-Network-Theory (Latour, 2005; Law & Hassard, 1999), die dazu einlädt, das Verhältnis von menschlichen Akteuren und materiellen Objekten zu überdenken. Ihr Ausgangspunkt besteht darin, menschliche Akteure und materielle Objekte zunächst als gleichwertige und analytisch gleichberechtigte Akteure zu verstehen und die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander als einen empirischen Untersuchungsgegenstand zu deklarieren. Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, inwiefern materielle Objekte als „Ko-Akteure“ in interaktiven Prozessen zu konzeptualisieren sind. Vor diesem Hintergrund ist das Konzept der „Intermediären Objekte“ entstanden, das von Jeantet (1998) und Vinck (1999) eingeführt wurde, um die funktionale Rolle von Objekten (wie z.B. Dokumenten etc.) in komplexen Arbeitsprozessen zu fassen. Zentrales Charakteristikum von „Intermediären Objekten“

ist ihre doppelte – soziale und zeitliche – Intermediarität: IO sind Objekte zwischen den Teilnehmern. Sie halten Zwischenergebnisse eines gemeinsamen Arbeitsprozesses fest, markieren damit Etappen als abgeschlossen und bieten gleichzeitig Ausgangspunkte für nachfolgende Schritte: Sie bieten neue Perspektiven und limitieren Handlungsmöglichkeiten.

Die Übertragung des – ursprünglich anhand der Zirkulation von Dokumenten in einem Betrieb bzw. einer wisschenschaftlichen Arbeitsgruppe entwickelte – Konzepts

der IO auf die Mikro-Praktiken von Interaktionsteilnehmern in der face-to-face-Situation des Schulunterrichts (Kap. 3.2) hat insbesondere zwei Fragen aufgeworfen, die im Abschnitt 3.3 untersucht worden sind:

(1) Die erste Frage betrifft die interaktionsstrukturellen Auswirkungen des Vorhandenseins von materiellen Strukturen (Kap. 3.3.1). In welcher Weise setzen materielle Strukturen und die Art ihrer interaktiven Verwendung nächste Handlungen relevant bzw. bauen Präferenzen für Anschlusshandlungen auf? Können Intermediäre Objekte gar – wie Vinck (1999: 408) und Latour (2005: 71f.) anregen – die Rolle von

„Ko-Akteuren“ im Arbeitsprozess einnehmen? – Dieser Frage wurde anhand eines ersten Fallbeispiels nachgegangen, in dem ad hoc aus den lokalen Gegebenheiten der Interaktion heraus eine Tafelskizze entsteht und in folgenden Schritten von verschiedenen Teilnehmern sukzessive erweitert wird. Die Analyse hat gezeigt, dass materielle Strukturen durch die Behandlung in der Interaktion ‚Leerstellen’ enthalten, dadurch für Interaktionsteilnehmer nächste Handlungen relevant setzen und so lokal handlungsfordernd werden. In diesem Sinne fungieren sie als „Ko-Akteure“ in interaktiven Arbeitsprozessen (siehe ausführlicher Kap. 3.3.1.2).

Diese Befunde schließen einerseits an die Arbeiten aus dem Bereich der Gesprächs-forschung an. So haben Studien aus dem Bereich der Workplace Studies (Heath et al., 2004; Heath & Button, 2002) die interaktive Relevanz von Objekten in der Interaktion aufgezeigt. In sequenzanalytischer Arbeitsweise haben sie die Mikro-Praktiken herausgearbeitet, mit denen Interaktionsteilnehmer materielle Strukturen in die Interaktion einbeziehen und eine gemeinsame Orientierung in der Gruppe auf diese Objekte herstellen. Daneben hat Goodwin aus linguistisch orientierter Perspektive mit seiner „ecology of sign systems“ (Goodwin, 2000a; 2003b) einen systematischen Rahmen vorgelegt, in dem Verbalsprache, Körper-Display und „semiotische Strukturen“ der Umwelt als integraler Bestandteil von Interaktion analytisch aufeinander beziehbar werden. Gleichzeitig weisen die vorliegenden Analyseergebnisse über diese Studien hinaus und bieten damit weitreichendere konzeptuelle und methodische Implikationen für die Gesprächsforschung. Die Ergebnisse rufen dazu auf, nicht nur zu betrachten, wie sich Interaktionsteilnehmer gegenseitig die Relevanz von Objekten aufzeigen und sich auf diese gemeinsam hin orientieren (siehe Workplace Studies), sondern Objekte auch in ihrer Funktionalität für die von den Interaktionsteilnehmern ausgeführten Aktivitäten wahrzunehmen. Objekte werden von menschlichen Akteuren in die Interaktion einbezogen und kommunikativ relevant gesetzt. Dadurch werden sie zu Ressourcen in der Interaktion, die ihrerseits lokal im sequenziellen Ablauf strukturelle Angebote für nächste Aktivitäten liefern und so zu Ko-Akteuren in der Interaktion werden. Dieser Ko-Akteur-Status von materiellen Objekten eröffnet zum einen eine neue Perspektive auf die Erforschung von interaktiven Settings, zum anderen fordert er weitere konzeptuelle Klärungen: Wie verhält er sich zu etablierten konversationsanalytischen Begriffen wie „konditionelle Relevanz“ etc.?

(2) An die Feststellung, dass materielle Strukturen für Interaktionsteilnehmer nächste Handlungen relevant setzen, schließt sich im Hinblick auf die Spezifik der Situation im Klassenraum eine weitergehende Frage (Kap. 3.3.2) an: Wie und mit welchen Konsequenzen werden Intermediäre Objekte in unterrichtlichen Lehr-Lern-Situationen als Instrumente eingesetzt, mittels derer nächste relevante Aktivitäten erkennbar werden

sollen? – Die Analyse hat in einem ersten Schritt ein grundlegendes praktisches Problem der Teilnehmer im Umgang mit IO herauskristallisiert: IO an sich sind nicht bedeutungsvoll, sondern sie bieten eine Reihe alternativer Anschlussmöglichkeiten für relevante nächste Aktivitäten im Rahmen der Bearbeitung einer Aufgabe. Wollen Lehrer also IO als Ressource zum Eröffnen interaktiver Anschlussoptionen einsetzen, dann besteht eine erforderliche Aufgabe darin, Orientierungshinweise auf präferierte Typen von Anschlüssen zu liefern. In einem zweiten Schritt wurden Verfahren herausgearbeitet, mittels deren Interaktionsteilnehmer das praktische Problem lösen, aus dem Angebot verschiedener für eine aktuelle Aufgabe relevanter Anschlussoptionen, präferierte von dispräferierten Typen von Handlungen zu unterscheiden. Dieses sind z.B. (a) Verfahren der Orientierung auf eine relevante Ressource oder (b) die kommunikative Behandlung von vorhandenen materiellen Strukturen.

Diese Befunde bieten eine Reihe von Anschlussmöglichkeiten für die Bereiche der Fachdidiaktik und Pädagogik. Während die bisherige Literatur in diesen Disziplinen sich v.a. in Zeichenschulen und ‚handwerklichen’ Regeln des Schreibens bzw.

Zeichnens an der Tafel erschöpft und die Diskussion durch die Gegenüberstellung didaktischer Credos („didaktische Fessel“ vs. Notwendigkeit von exakter Vorplanung) gesprägt ist, bieten die vorliegenden Analysen neue Anregungen für die Frage nach der Angemessenheit von Tafelskizzen bzw. Intermediären Objekten. Der Blick wird abgewendet von der Frage, ob ein Schema ‚richtig’ für die Darstellung eines bestimmten Sachverhalts (z.B. der marxistischen Theorie) ist und auf interaktive Kategorien von Angemessenheit gelenkt: Ist die Einführung und interaktive Behandlung eines IO funktional/disfunktional für den Fortgang der Interaktion? Wie können Orientierungshinweise auf präferierte bzw. dispräferierte Typen von Anschlussoptionen gegeben werden? In welcher Weise kann der interaktive Umgang mit IO so gestaltet werden, dass er flexibel im Umgang mit von Schülern eingebrachten Inhalten ist und gleichzeitig Anregungen für eigenständige konzeptuelle Aktivitäten der Schüler bietet?

Im Anschluss an die Untersuchung von IO als Ressourcen bei der interaktiven Herstellung von neuen Sachverhalten (Kap. 3.3) wurde danach gefragt, welche Rolle solche in einer Gruppe kommunikativ und materiell vorhandenen Inskriptionen im Prozess der Stabilisierung von „common ground“ (Clark, 1996) spielen. Denn erste Beobachtungen einer Reihe von aufeinander folgenden Unterrichtsstunden zeigen, dass das Erarbeiten von Sachverhalten in unterrichtlichen Lehr-Lern-Settings keine singuläre, auf einmalige Episoden beschränkte Aktivität darstellt, sondern in einem kontinuierlichen Prozess erfolgt, bei dem einmal erarbeitete Inhalte im Rahmen späterer Gelegenheiten, z.B. in Wiederholungsphasen, erneut aufgegriffen werden. Die Analyse hat aufgedeckt, dass Interaktionsteilnehmer in Folgeepisoden die multimodalen Möglichkeiten nutzen, die die auf graphischen Elementen basierenden IO (z.B. Skizzen) bieten: Teilnehmer kreieren neue Konzept-Gesten, die auf charakteristische Eigenschaften des IO verweisen. Diese dienen der Gruppe als Ressourcen im Stabiliserungsprozess und werden dadurch wiederum selbst – gemeinsam mit dem erarbeiteten Inhalt – zum Teil des „common ground“.

Diese Beobachtungen bieten Anknüpfungspunkte für die Gestenforschung: Während vorliegende Studien v.a. davon ausgehen, dass Gesten im „process of utterance“

entstehen (Kendon, 1980) oder von „mental representations“ abgeleitet werden

(McNeill, 1985), lässt sich an den präsentierten Beispielen erkennen, wie Gesten lokal in der Interaktion unter Rückgriff auf vorhandene materielle Strukturen entstehen. Einen ähnlichen interaktiven Zugang wählen auch LeBaron & Streeck (2000), wenn sie nachvollziehen, wie in Architekturklassen oder Do-it-yourself-Workshops Gesten lokal kreiert und von anderen Interaktionsteilnehmern übernommen werden. Sie schlussfolgern: „Gestures, in our view, originate neither in the speaker's mind nor in the process of speaking, even though speech and gesture are routinely coordinated. Rather gestures originate in the tactile contact that mindful human bodies have with the physical world“ (119). Dieses führt Streeck (2002a) fort in der Analyse eines Automechanikers, dessen Gesten seine manuellen Tätigkeiten widerspiegeln. Die vorliegende Analyse bestätigt einerseits diese Befunde und erweitert sie im Hinblick darauf, dass nicht nur der Umgang mit dreidimensionalen materiellen Objekten Ausgangspunkt für die Entstehung von Gesten ist, sondern auch Inskriptionen und ihre charakteristischen Eigenschaften einen zentralen Ausgangspunkt bilden.