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Exkurse: Fenster der Moderne

Im Dokument Dramaturgie als Geometrie (Seite 71-83)

3   Geometrie der Wahrnehmung: Fenster und Guillotine in Danton’s Tod

3.2   Exkurse: Fenster der Moderne

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Blickes sowie der durch sie hervorgerufenen Gedanken und Gefühle. Dabei wird die Un-sterblichkeit des Eindrucks beschworen. Der Fensterrahmen fixiert die Szene, aber die Fortdauer des zufälligen Moments bleibt Wunschvorstellung: der Wahrnehmung und Emp-findung des Betrachters ist eben nur beinahe Ewigkeit garantiert (presque éternelle).

Bereits im ersten Gedicht, das auf die Situation und Liebesinitiation eines Paares ab-hebt, klingt eine oszillierende Bewegung von Gewinn und Verlust an, ein Spiel mit der Vergänglichkeit der Bilder, das im Rückverweis in III verdichtet wird:

Il suffit que, sur un balcon

ou dans l’encadrement d’une fenêtre, une femme hésite…, pour être celle que nous perdons en l’ayant vue apparâitre.

Et si elle lève les bras

pour nouer ses cheveux, tendre vase:

combien notre perte par là gagne soudain d’emphase et notre malheur d’éclat!

(I)

Mit der Ansicht des geliebten Objektes wird das betrachtende Subjekt gleich von Be-ginn an mit der Gefahr des bevorstehenden schmerzlichen Verlusts konfrontiert: Verlust der Erscheinung, des Körpers, des Blickes, des Liebesgefühls. Der Verlust in seinem sinn-lich-seelischen Weltbezug erfährt zudem eine religiöse Überhöhung. Der Immanenz der Erscheinung wird Transzendenz gegenübergestellt, der Präsenz der Gestalt, ihrer Liebe und Schönheit, ist gleichzeitig ihre Unerreichbarkeit eingeschrieben.278 So zeigt sich die „In-szenierung einer komplexen Dialektik von Vergänglichkeit und Verewigung, Verlust und ästhetischer Restitution“.279

Mit der Gegenwart der geliebten Person wird ihre Abwesenheit wie umgekehrt mit ihrer Abwesenheit die Gegenwart imaginiert. Diese Bewegung zieht sich durch Rilkes Gedicht-folge hindurch.280 Angst, Trauer und Enttäuschung erscheinen insbesondere den beiden

278 „So verweist das Bildzeichen ‚Fenster’ auf die ‚Differenz’ zwischen Bewußtsein und Sein und mehr noch zwischen Sein und Haben.“ Fülleborn 2001, S. 89. Die Bildlichkeit bedient sich dabei religiöser Motive im Zeichen von Epiphanias und Vanitas. (So wird insbesondere das Spiegelbild sowohl der betrachteten als auch der betrachtenden Figur hervorgehoben; siehe Gedicht Nr. IV und die weiteren Ausführungen im Fließtext.)

279 Holstein 2004, S. 209. So gewährleiste gerade der Verweis auf den Aspekt der Rahmung in den Gedichten I und III eine „enge Verkopplung von Sein und Schein“, wie insbesondere in I durch die Reimworte „être“,

„fenêtre“ und „apparaître“ anklinge. Diese Worte werden in III,2 und 3 wiederaufgenommen und verklammern die genannten Strophen aufs Engste. Ebd.

280 Zur Zeit als vierter Dimension von Rilkes Fenster-Geometrie vgl. Rilke KA 5, S. 565f.

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abschließenden Gedichten des Zyklus eingeschrieben, in denen das nunmehr leere Fenster thematisiert wird, über das sich der endgültige Verlust manifestiert.281

Rilke gestaltet ein Wechselspiel von Abwendung und Hinwendung, Entdeckung und Verhüllung, das besonders prägnant mit der ersten Strophe des zweiten Gedichtes insze-niert wird:

Tu me proposes, fenêtre étrange, d’attendre;

déjà presque bouge ton rideau.

Devrais-je, ô fenêtre, à ton invite me rendre?

Ou me défendre, fenêtre? Qui attendrais-je?

(II,1)

Mit Roland Barthes kann man von einer „Szenographie der Erwartung“ sprechen, wobei gilt: „die Erwartung ist ein Wahnzustand“.282 Aus der Bewegung von Warten, Abwarten und Erwarten konstituiert sich bei Rilke ein Spannungsbogen, der die Gedichte I-V mitei-nander verbindet.283 Die spielerische Reflexion im Zeichen der Aufmerksamkeit und Ge-duld des Beobachters mündet im vierten Gedicht in eine geradezu flehentliche Anrufung des Gegenstandes und seiner ikonischen Eigenschaften:

FENETRE, toi, ô mesure d’attente, tant de fois remplie,

quand une vie se verse et s’impatiente vers une autre vie.

Toi qui sépares et qui attires, changeante comme la mer, –

glace, soudain, où notre figure se mire mêlée à ce qu’on voit à travers;

échantillon d’une liberté compromise par la présence du sort;

prise par laquelle parmi nous s’égalise le grand trop du dehors.

(IV)

Das lyrische Ich verharrt im Zustand des Wartens. Das Fenster ist gewiß Einladung zum Sehen und Anschauen, Schwelle nach innen und außen; mehr aber noch ist es der Schnitt-punkt einer virtuellen körperlichen Vereinigung. Die Fensterfläche wird von den

281 In den Gedichten IX und X verschafft sich der Schmerz des einsamen und zurückgebliebenen (männlichen) Beobachters Ausdruck, indem dieser das leere Fenster mit seinen Tränen ‚anfüllt’: „Sanglot, sanglot, pur sanglot!/ Fenêtre, où nul ne s’appuie!/ Inconsolable enclos,/ plein de ma pluie!“ (IX,1) Daneben ist von einem letzten Fenster die Rede („fenêtre ultime“, (X,1)), das neben der Verzweiflung aber auch Hoffnung auf Über-windung des Verlustes aufscheinen lässt.

282 Barthes 1984, S. 97 und 99.

283 Zur Strukturierung und möglichen Zäsuren des Zyklus vgl. Rilke KA 5, S. 560-562, und Engel / Lauterbach 2004, S. 445f. Vgl. auch Holstein 2004, S. 215.

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bes-)Subjekten angefüllt, die sich gegenseitig Objekt werden, sich zueinander hinwenden und einander Aufmerksamkeit schenken. Sie befinden sich in einem auf Distanz geführten, anregenden und – besonders aus männlicher Sicht – erregenden Dialog miteinander.

Das Fenster ist eine unüberwindbare Schwelle, die zugleich den neuralgischen Punkt einer ebenso erotisch wie zerbrechlich konnotierten Verbindung markiert. Die Grenze er-scheint als Spiegelglas, das zwei Bilder wiedergibt: das Bild des Betrachters und das Bild des bzw. der Betrachteten, die sich wie zwei Folien übereinanderlegen (glace, soudain, où notre figure se mire/ mêlée à ce qu’on voit à travers). Beide Bilder vereinigen sich zu ei-nem einzigen Bild, das allerdings stets von seiner Zweiheit zeugt – und somit auch von der Brüchigkeit der Relation selbst. Diese Brüchigkeit drängt sich immer wieder in den Vor-dergrund.

Die durchsichtige und spiegelnde Fensterscheibe wird zur Chiffre eines transitorischen Prozesses, in dem Betrachtetes und Betrachtendes miteinander verschmelzen. Dabei macht Rilke das Fenster zum Symbol der Sinnzuweisung und thematisiert mit ihm auch den Vor-gang der Interpretation selbst. Das Fenster weist einem in seinem Rahmen erscheinenden Subjekt oder Objekt – qua Bildwerdung – Bedeutung zu:

Comme tu ajoutes à tout, fenêtre, le sens de nos rites:

Quelqu’un qui ne serait que debout, dans ton cadre attend ou médite.

Tel distrait, tel paresseux, c’est toi qui le mets en page:

il se ressemble un peu, il devient son image.

(V, 1,2)

Wenn etwas im Fenster erscheint, fügt sich zu Sehendes auf selbstverständliche, gera-dezu natürliche Art und Weise in ein Bild ein. Fenster zeichnen Gestalten in ihren Rahmen die Original und (Ab-)Bild in einem sind. In die Geometrie des Fensters fügt sich eine Ge-ometrie des Körpers ein. Die Themen, die die Fenster-Gedichte Rilkes einholen, sind Wahrnehmung und Kommunikation, der Kontakt eines (in sich gekehrten) Subjektes mit der Außenwelt sowie der Rückzug eines (für andere sichtbaren) Subjektes in sein (unsicht-bares) Inneres. Als Grenze, Schwelle und (Bild-)Rahmen signalisiert das Fenster Vermitt-lung und markiert ein die menschliche Wahrnehmung organisierendes Bild-Zeichen-Feld.

Rilke spielt auf der Skala einer expressiven und mit Nachdruck theatral zu bezeichnen-den Wirkung des Fensters; er sorgt und sensibilisiert für eine einerseits visuelle, anderer-seits imaginative Spannung, die sich aus der vermeintlich klaren und eindeutigen

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rie der Fensterform heraus kristallisiert bzw. dieser inhärent erscheint. Das Fenster präsen-tiert sich als Bühne, auf der sich eine ästhetische Begegnung zweier Subjekte abspielt, die zu einem Bildkörper gerinnen und sich schließlich wieder trennen. Die Einheit der Subjek-te, ihre jeweilige Individualität, bleibt gewährleistet und geht in Poesie bzw. der Fenster-form auf.284

Die Verwischung der Grenze: Einheit und Spaltung des Subjekts

Eine Auflösung der fixen Fensterform und des darin erscheinenden Körpers lässt sich Bretons Surrealismus-Manifest ablesen. Darin markiert das Fenster eine Ich-Spaltung, in-dem es mit in-dem Körper verschmilzt. Die vertraute Form und Geometrie des Fensters schafft bei Breton eine neue, de-konstruierte Wirklichkeit: die Zurichtung derselben durch die Imagination.285 Bei Rilke indes ließe sich umgekehrt eher von der Formung der Einbil-dungskraft durch die Wirklichkeit des Fensters sprechen. Rilke gestaltet Körperbilder am Fenster, Breton dagegen begnügt sich nicht damit, sondern schafft einen grenzenlosen

‚Körperraum‘. Den durch Fenster voneinander getrennten Körpern Rilkes lässt sich das Bild eines gespaltenen Körpers bei Breton gegenüberstellen. Das Subjekt wird einerseits zum Bild, andererseits im Bild selbst aufgelöst:

Eines Abends also, vor dem Einschlafen, vernahm ich, so deutlich ausgesprochen, daß es mir unmöglich war, ein Wort daran zu ändern, abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner Stimme, einen recht merkwürdigen Satz; er hatte keinen Bezug zu irgendwelchen Geschehnissen, in die ich nach bestem Gewissen zu diesem Zeitpunkt verwickelt war, es war ein Satz, der mir ein-dringlich erschien, ein Satz, möchte ich sagen, der ans Fenster klopfte. Rasch nahm ich davon Kenntnis und wollte es dabei belassen, als mich sein organischer Aufbau stutzig machte. Die-ser Satz setzte mich wirklich in Erstaunen; ich habe ihn leider nicht bis heute behalten können, er lautete etwa so: „Da ist ein Mann, der vom Fenster entzweigeschnitten wird“, doch war das durchaus eindeutig gemeint, da er von der schwachen bildhaften Vorstellung eines gehenden Mannes begleitet war, der in der Mitte senkrecht zu seiner Körperachse von einem Fenster durchschnitten wurde. Ohne Zweifel handelte es sich einfach um die aufrechte Stellung eines Mannes, der sich aus dem Fenster gelehnt hat. Da aber dieses Fenster die räumliche Verände-rung des Mannes mitgemacht hatte, wurde mir klar, daß ich es hier mit einem Bild ziemlich seltener Art zu tun hatte, und sogleich hatte ich keinen anderen Gedanken, als es meinen poe-tischen Baumaterialien einzuverleiben.286

284 Wie Judith Holstein erarbeitet hat, unternimmt Rilke in poetologischer Hinsicht den „Versuch, die Einheit von Mensch und Ding, Innen- und Außenwelt […] in aesthetics zu ‚retten’“. Holstein 2004, S. 350. Dieses Projekt bleibt aber problematisch. Vgl. ebd., S. 218.

285 Zu dieser Bewegung im Kontext des surrealistischen Subjektverständnisses vgl. Bürger 2001, S. 164-169.

286 Breton 1986 [1924], S. 23f. Wiederaufgegriffene Zitate des Textabschnitts werden im Folgenden nicht weiter ausgewiesen.

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Breton sieht in seinem „Satz vom zerschnittenen Mann“287 eine „neue Form des reinen Ausdrucks“ gefunden, die er – in ironischer Wendung – lexikalisch „ein für allemal“ als

„Surrealismus“ definiert.288 Fünfmal kommt das Wort „Fenster“ in der kleinen Episode vor; Hinweise auf ein Innen und Außen, eine Grenze, die das Fenster bildet, klingen bereits an, bevor der Satz, der den Gedanken an den zerschnittenen Mann beinhaltet, ‚ans Fenster klopft‘. Der gesamte Textabschnitt thematisiert das Phänomen der Schwelle sowie der Verkörperung des Subjektes an dieser. Zuletzt überrascht die Inkorporation des Fensters.

Es ist Abend und die Zeit „vor dem Einschlafen“. Konnotiert sind damit Dunkelheit und Nacht, im Weiteren auch deren Antonyme Helligkeit und Tag. All dies sind mit dem Fens-ter verknüpfte Grundvorstellungen, die es aufgrund seiner architektonischen Funktion transportiert289 und die auch Rilkes Gedichten zu entnehmen sind. Breton befindet sich im Übergang vom Wachen zum Schlafen, in einem Zwischenreich der Wahrnehmung. Dieser Bereich entzieht sich einer genaueren Bestimmung. Der Surrealist existiert darin (dazwi-schen290) frei von allen kategorisierenden Gedanken und Zwängen. So hat der Satz „keinen Bezug zu irgendwelchen Geschehnissen“, in die er sich „zu diesem Zeitpunkt verwickelt“

sieht.

Bretons Wahrnehmungsfähigkeit ist aber, trotz der Unbestimmtheit der Situation, nicht getrübt. Er vernimmt „deutlich ausgesprochen“ den Satz, hört diesen „abgetrennt jedoch vom Klang irgendeiner Stimme“. Damit wird freilich das Hören selbst als Modus der Wahrnehmung suspekt. Der Satz erscheint losgelöst von einem Aussagesubjekt, einer (Vernuft-)Instanz. Er kommt aus dem Nichts, ist einfach da und damit „eindringlich“. Um-so mehr, als er unmittelbar ins Bewusstsein Eingang findet. Dieses direkte Ins-Bewusstsein-Gehen erweist sich als Schein, nicht als Wirklichkeit. Die Worte des Satzes sind nicht zu fassen, sprich: festzuhalten, zu erinnern. Bewusstes und Unbewusstes fallen

287 Ebd., S. 24.

288 Ebd., S. 26. Die Art und Weise, wie der Satz Breton ins Bewusstsein getreten ist, markiert für ihn den Punkt, an dem die surrealistische Bewegung mit der Invention des unbewussten, automatischen Schreibens (écriture automatique) ihren Anfang genommen hat. Vgl. ebd., S. 24f. Keinesfalls aber ist Bretons Erlebnis ein absoluter Fixpunkt, ein ‚Tag x’ für die surrealistische Idee, selbst wenn er mit seinem Manifest diesen Anschein erwe-cken will. Seine Ausführungen sind vielmehr „eine Satzung, ein Grundgesetz“ im Nachhinein. Nadeau 1965, S. 59. Zur „Inkubationszeit“ des surrealistischen Projekts vgl. ebd., S. 11-48. Zur Gründung der Bewegung um den ‚Rädelsführer’ Breton ebd., S. 49-75. Zur Geschichte des Surrealismus vgl. auch Bürger 1996, S. 26-39.

289 Vgl. Neuhardt 1978, S. 80f.

290 ‚Dazwischen’, ‚mittendrin’: Dieser ontologische Status hat seine Entsprechung in der ‚Einsetzung’ des Mannes ins Fenster bzw. der Integration des Fensters in diesen. Breton legt sich nicht einseitig fest und begreift sich selbst und im weiteren auch den Mann, von dem er erzählt, weder diesseits noch jenseits einer Grenze. Das Da-sein soll die Grenze ganz ausfüllen, es soll in der Grenze bzw. die Grenze selbst Da-sein.

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in eins. So unvermittelt Breton der Satz in den Sinn gekommen ist, verliert er sich wieder im Unbewussten. Breton betont, er habe ihn „nicht bis heute behalten können“. Wie kann er aber dann überhaupt von ihm berichten?

Mit der Erzählung der Fenster-Episode bezweckt Breton in erster Linie eine Ver-wischung der Grenze zwischen Fiktion, Imagination und Wirklichkeit.291 Dazu installiert er ein ganzes System zueinander in Opposition stehender Konnotationen und verfolgt spie-lerisch eine Strategie der Aufhebung, indem eine getroffene Aussage fast unmittelbar nach ihrer Äußerung revidiert wird. Die dichotomische Struktur der von Breton gewählten Sig-nifikanten, deren Signifikate nicht genau zu fixieren sind, sondern ein weites Spektrum von Bedeutungen evozieren, unterstützt diese Strategie.292 Das Fenster selbst wird zum Sinn-bild dieser Struktur und verräumlicht sie. Es teilt den Raum, die Wahrnehmung vom Raum und damit das Bewusstsein des Subjekts von sich selbst in Innen und Außen, einen be-stimmten und einen unbebe-stimmten Standpunkt. Es gibt Einblick (in die dichterische Phan-tasie Bretons) und Ausblick, zeigt Verharren und Überschreiten, markiert die Schwelle zwischen Leben und Tod als den endgültigen Einschnitt, den jeder Mensch aufgrund seiner körperlichen Existenz erfahren muss.

Anschaulich wird dieser Komplex durch die Vorstellung vom zerschnittenen Mann, der sich aus dem Fenster lehnt, weil er von innen nach außen schaut, von einem vertrauten Ort, dem Haus, einen unvertrauten Ort in Augenschein nimmt. Bei diesem Vorgang wird er vom Fenster „senkrecht zu seiner Körperachse“ zerteilt. Danach besteht er aus zwei Hälf-ten und ist, nachdem er sich wieder aufgerichtet hat, in ein Oben und UnHälf-ten geteilt. Das Fenster hat „die räumliche Veränderung des Mannes mitgemacht“ und zeichnet ihn fortan aus.

Die Partitionierung des Raumes wird zum charakteristischen Kennzeichen des Subjek-tes / des Körpers, dem eine ihn spaltende Grenze eingefügt ist. Der Raum, in dem der

291 Breton rekurriert hier auf metaphysische Implikationen der Fenster-Symbolik, die Opposition von Immanenz und Transzendenz. Vgl. dazu Neuhardt 1978, S. 83.

292 Die von Breton mitgeteilte Begebenheit ist hochgradig literarisch konstruiert, wobei der Verfasser gerade das Gegenteil vortäuschen will, wenn er herausstellt, dass für den ‚Satz vom Fenster’ „sein organischer Aufbau“

charakteristisch sei. Damit suggeriert er Natürlichkeit gegenüber einer vernunftgeleiteten Kunst bzw. Künst-lichkeit, einer (gedachten) Konstruktion. Aber auch weitere Aspekte erscheinen widersprüchlich, etwa das be-reits erwähnte Hören, welches als Wahrnehmungsmodus defekt ist: Bretons Hören findet als solches eigentlich nicht statt. Analog erfolgt das Sprechen ‚stimmlos’. Weitere widersprüchliche Kennzeichen im Text sind z.B.

die Erwähnung der „schwachen bildhaften Vorstellung“, deren ‚Eindeutigkeit’ aber betont wird. Breton setzt Sprache poetisch ein und strebt dabei Konnotationsreichtum an. Vgl. Bürger 1996, S. 60 und 69. Mit seiner ambivalenten Symbolik ist das Fenster Idealbild der ‚Einfassung’ von Bretons Schreibweise und Ästhetikverständnis.

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Mann sich bewegt, erfährt damit selbst eine Veränderung, da das Fenster als Gliederungs-element seine Position (und damit Funktion) im Raum verändert hat. Letzterer besitzt (im Bewusstsein des Mannes, im Bewusstsein des Betrachters der erzählten Episode) kein Kri-terium der Unter- bzw. Einteilung mehr. Es fehlt ein Orientierungspunkt, denn die Struktur des Raums geht verloren und es eröffnet sich ein grenzenloser Raum: Der Körper des Mannes scheint in diesem aufzugehen, wodurch sich dem Subjekt die sowohl körperliche als zugleich auch entkörperlichte Erfahrung völliger Bewegungsfreiheit mangels Grenzen oder Begrenzungen eröffnet.

Daraus ergibt sich das Paradox von gleichzeitiger Einheit und Spaltung des Subjektes.

Das Fenster mit seiner Geometrie ist dem Mann einverleibt. Er erlangt dadurch die Einheit mit dem Raum. Andererseits ist er aber selbst fortan zweigeteilt. Diese Spaltung wiederum erscheint umgehend aufgehoben. Mitten durch den Mann verläuft eine Grenze, die gleich-zeitig jedoch Bestandteil seines Körpers, seines Daseins ist. Der zerschnittene Mann trägt die Grenze in sich und existiert in einer Geste der Verdoppelung.

Auf der einen Seite personifiziert er die Spaltung des Subjektes, auf der anderen Seite dessen Aufhebung bzw. Bergung in sich selbst. Er ist selbst, ist sich jetzt selbst eine Gren-ze – weil er sie verkörpert. Durch die vorgestellte Einheit mit ihr ist er nicht mehr genötigt, sie in irgendeiner Form überschreiten zu müssen.293 Die Innen-Außen-Orientierung des Körpers / des Subjektes wird zusammen mit der Struktur des Raumes, in dem sich der Körper bewegt, von Breton radikal hinterfragt und letztlich aufgelöst. Das Ich erscheint als Körperraum und Raumkörper in einem.

Die vom Fensterrahmen umgrenzte Fläche (die Fensterscheibe) beschreibt bei Breton eine Nullstelle. Als Grenze gehört sie weder der einen noch der anderen Seite des Berei-ches an, den sie teilt. Gleichzeitig ist sie ist eine Begrenzung, die sich selbst (ihrer Un-sichtbarkeit wegen) negiert. Aufgrund der Transparenz der Scheibe hat ein Fenster zu-gleich einen sichtbaren und unsichtbaren Aspekt. Die Einverleibung der Fensterfläche in

293 Die ‚Bergung’ der Spaltung kann gesehen werden als ‚Verbergung’ (Verheimlichung, Unsichtbarkeit) und gleichzeitig auch als Aufhebung/Bergung im Sinne von ‚Geborgenheit’ (‚in sich bergen’). Bergung impliziert in diesem Kontext dann auch: Hervorholen, Hervorheben, Sichtbarmachen des Unsichtbaren und/oder Ver-steckten, des Unbewussten. Dies ist der Freudsche Ansatz, der dann entscheidend von Lacan hinterfragt wurde.

Im Lacanschen Sinne ist ein Aufdecken unbewusster Abläufe nicht möglich, da die Interaktion der Subjekte innerhalb der unhintergehbaren symbolischen Ordnung gerade dies verhindert bzw. unmöglich macht. „Das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache […] Noch bevor die eigentlichen Humanbeziehungen entstehen, sind gewisse Verhältnisse schon determiniert. Sie können in allem auftreten, was sich von seiten der Natur als Träger anbietet. An diesen Trägern können sich Oppositionen festmachen. Die Natur liefert, sagen wir doch das Wort: Signifikanten, und diese Signifikanten organisieren auf inaugurierende Weise die menschlichen Verhältnisse, geben ihnen Struktur, modellieren sie.“ Lacan 1987, S. 26. Vgl. auch Lang 1993 [1973], S. 42.

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den Körper des Subjekts illustriert dies. Als Bestandteil des Körpers ist die Grenze nicht mehr als (Raum-)Grenze im herkömmlichen Sinne existent. Zudem geht das den Mann spaltende Fenster sichtbar unsichtbar durch ihn hindurch.

Die Grenze existiert damit nur noch im Rückbezug auf ein imaginäres Konzept einer Begrenzung. Michel Foucault bringt dies pointiert auf den Punkt:

Die Grenze und die Überschreitung verdanken einander die Dichte ihres Seins: eine Grenze, die nicht überschritten werden könnte, wäre nicht existent; eine Überschreitung, die keine wir-kliche Grenze überträte, wäre nur Einbildung. Hat denn die Grenze eine wahrhafte Existenz außerhalb der Geste, die sie souverän überschreitet und negiert? Was sollte sie nachher, was könnte sie vorher sein? Und erschöpft sich nicht die Überschreitung in dem Augenblick, da sie die Grenze übertritt, ist sie nicht auf diesen Zeitpunkt beschränkt? Aber ist dieser Punkt, dieser merkwürdige Schnittpunkt von Wesen, die außerhalb seiner nicht existieren und sich darin ganz austauschen, ist dieser Punkt nicht auch das, was ihn an allen Seiten überragt?294

Das Phänomen der Grenze und ihrer Überschreitung bzw. Einverleibung gilt es auf Büchners Dramen und deren implizite szenische Realisation anzuwenden. So kann im Kontext von Danton’s Tod eine Geometrie der Wahrnehmung identifiziert werden, die sich anhand der Symbole Fenster und Guillotine festmachen lässt und in einem nächsten Schritt auf die Guckkastenbühne bzw. die mit dem Konzept der vierten Wand verbundene theatrale Zuschausituation übertragen werden kann. Wie bei Rilke und Breton steht auch bei Büchner das Problem der Ver- und Einkörperung, die Frage des (während einer Thea-teraufführung tatsächlich ablaufenden) Rollenspiels des Subjekts im Mittelpunkt.

Die Bild- und Körperkonfigurationen, die sich bei Rilke und Breton aufzeigen lassen, können als Metaphern für den Schauspieler aufgefasst werden, der als Figur sein Bild auf eine – imaginäre – Fläche projiziert. Bei Rilke erscheint die Fensterfläche als Spiegel, in dem ein vom Fensterrahmen eingefasstes Figurenbild zu sehen ist, das sich mit dem Blick und Körper des Betrachters vereinigt. Die Schauspielerfigur im Fenster wie die Zuschauer-figur vor diesem verschmelzen in einem Bild. Dies geschieht über das (Zusammen-)Spiel ihrer Körper und Blicke, ein Gegenüber Auge in Auge. Breton wiederum akzentuiert nicht die Grenze zwischen zwei Körpern, sondern die Grenze im Körper des Subjekts, welche eine Spaltung in der Ganzheit signalisiert. Damit wäre die Existenz des Schauspielers symbolisch eingefangen:

294 Foucault 1987, S. 32. Er thematisiert mit dem Bild vom Punkt, der an allen Seiten überragt wird, auch eine Einfassung bzw. einen Rahmen, der Überschreitung geradezu erfordert. Darin besteht eine Analogie zum Bild des Fensters bei Breton und – wie ich zeigen werde – auch zu Büchner. Das Fenster wird sich als Gegenstand erweisen, der eine transzendierende Wirkung entfaltet.

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Er [der Schauspieler] ist sein eigenes Mittel, d.h. er spaltet sich selbst in sich selbst, bleibt aber, um im Bilde zu bleiben, diesseits des Spaltes, hinter der Figur, die er verkörpert, stehen. Er darf der Aufspaltung nicht verfallen […], sondern er muß mit der Kontrolle über die bildhafte Verkörperung den Abstand zu ihr wahren.295

Das Fenster und seine Fläche fungieren im Drama Büchners als interpretative Leerstel-le, über die eine perspektivische Zurichtung und atmosphärische Identifikation oder Dis-tanz zum Theatergeschehen hergestellt wird. Das Fenster separiert Räume und zeigt die Abständigkeit der Subjekte voneinander: Personen an Fenstern sind Beobachter – vor al-lem ihrer selbst – und spielen „die Rolle des Einsamen“.296 Andererseits wirkt das Fenster als Verbindungselement. Da Fenster auf der Bühne umrahmt sind vom Fenster der Bühne, geraten die Figuren doppelt in den Blick des Betrachters. Zuschauer können einerseits di-rekten Blickkontakt mit den Protagonisten (Schauspielern) aufnehmen, die aber anderer-seits auch als romantische Rückenfigur erscheinen können – verschiedene Anleihen aus der Bildkunst sind hier denkbar.

Perspektivische Doppelungen intensivieren das Theatererlebnis: Der Zuschauerblick

‚durchdringt‘ zwei Fenster (Guckkastenfenster und Fenster / Guillotine auf der Szene), die wie zwei hintereinander angeordnete Brenngläser wirken. Sie bündeln den Blick des Be-trachters und ziehen den Zuschauer quasi in die Handlung hinein.297 Die Fensterschau im Drama besitzt insofern eine szenisch-ästhetische Funktion, als dass sie Schauspieler und Zuschauer nicht einfach gegenüberstellt, sondern ineinander verkehrt.298

Die Identifikation der Zuschauer mit dem Geschehen und den Protagonisten geht stets mit dem Bewusstsein einher, von der dargebotenen Handlung getrennt zu sein. Die Bühne bzw. die imaginäre Rampe zwischen Zuschauern und Darstellern besitzt eine identifikatorische, affektierende und zugleich distanzierende Funktion. Die Realisierung eines ästhetischen Konzepts, in das der Zuschauer wesentlich eingebunden ist, erscheint vor dem Hintergrund der zahlreichen Wahrnehmungsappelle, der Rollenspiele und szeni-schen Verkettungen durch Fenster und Guillotine evident.

Danton’s Tod ist bestimmt durch das (Revolutions-)Theater im Theater, der Frage nach Schein und Sein, dem Rollenspiel der Protagonisten, ihrer Dar- und Verstellung hinter Masken und der Prädetermination der revolutionär Handelnden, die besonders bei Danton

295 Plessner 1982, S. 151.

296 Kremer 2000, S. 214.

297 Diese Bewegung ist, wie zu sehen war, auch im Kontext der Jahrmarktsszenen in Woyzeck zu beobachten.

298 So wie der Zuschauer in die Szene hineinblickt, so blickt der Schauspieler ja auch aus dieser heraus.

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