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E. Die EU-Empfehlung

IV. Die EU-Empfehlung

Die Kommission erließ am 11.06.2013 gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) eine Empfehlung zum kollektiven Rechtsschutz107, welche innerhalb von zwei Jahren durch die Mitgliedstaaten umzusetzen ist. Nicht nur die Wahl der

103 Grünbuch Verbraucher 15 Rz 48.

104 Grünbuch Verbraucher 16 Rz 55.

105 Grünbuch Verbraucher 16 Rz 56 f; G. Kodek, Sammelklagen für Verbraucher: Ein neues Grünbuch der EU, ecolex 2009, 185 (186).

106Stadler, GPR 2013, 281 (282).

107 Empfehlung der Kommission vom 11.06.2013 „Gemeinsame Grundsätze für kollektive Unterlassungs- und Schadenersatzverfahren in den Mitgliedstaaten bei Verletzung von durch Unionsrecht garantierten Rechten“

2013/396/EU.

31 Rechtsform – als rechtlich unverbindliche Empfehlung – sondern das Dokument an sich, trägt deutlich kompromisshafte Züge.108 Der Anwendungsbereich der Empfehlung erstreckt sich sowohl auf die öffentliche als auch auf die private Rechtsverfolgung bei Verletzung von durch das Unionsrecht garantierten Rechten.109 Ergänzendes private enforcement (private Rechtsverfolgung) sei unter anderem für die Bereiche Verbraucherschutz, Wettbewerb, Umweltschutz, Schutz personenbezogener Daten, Finanzdienstleistungen und Anlegerschutz wichtig.110 Die Mitgliedstaaten werden aufgefordert, effektive kollektive Rechtsschutz-instrumente einzuführen, die es Privatpersonen und Organisationen ermöglichen, bei einem Massenschadensereignis ihre Ansprüche zu bündeln und gemeinsam in einem Verfahren auf Unterlassung oder Schadenersatz zu klagen. Das Anliegen der Kommission, einen einheitlichen europäischen Rahmen zu schaffen, wurde in gewisser Weise dadurch vereitelt, dass die Empfehlung ironischerweise die Vorbehalte wiederspiegelte, die in den meisten Mitgliedstaaten gegen kollektive Rechtsschutzinstrumente vorgebracht werden, weil der überwiegende Teil der Regelungen vorschreibt, wie der kollektive Rechtsschutz nicht ausgestaltet sein soll.111 Fast schon gebetsmühlenartig wird immer wieder die Notwendigkeit betont, Missbrauch vorzubeugen.112 Um die Gefahr einer „Klageindustrie“ zu verhindern, werden Elemente wie Strafschadenersatz, ausforschende vorprozessuale Beweissammlung, die Beteiligung von Geschworenen an der Urteilsfindung113 abgelehnt und ausdrücklich an der „loser pays rule“114 festgehalten.115 Für kollektive Schadenersatzklagen wird für die Bildung der Klägergruppe auf das opt-in-Prinzip abgestellt, jedoch im folgenden Satz sogleich eine Ausnahme vorgesehen, wenn diese durch Gesetz oder durch richterliche Entscheidung mit „Gründen der ordnungsgemäßen Rechtspflege gerechtfertigt werden“

kann.116 Da die meisten Mitgliedstaaten Bedenken gegen ein opt-out-System haben, weil es die Dispositionsfreiheit der Geschädigten einschränkt und ihr Recht auf rechtliches Gehör verletzen kann, bekennt sich die Kommission grundsätzlich zu einem opt-in-System, das heißt es bedarf der ausdrücklichen Zustimmung der Geschädigten um zur Gruppe zu gehören. Da einige Mitgliedstaaten, wie Dänemark, Niederlande und Portugal, jedoch bereits Modelle eines opt-out-Verfahrens eingeführt haben, wollte man diese Möglichkeit mit Normierung der

108 G. Kodek in FS Christian Nowotny 136.

109 Empfehlung Erwägungsgrund (6).

110 Empfehlung Erwägungsgrund (7).

111 G. Kodek in FS Christian Nowotny 136.

112 Erwägungsgrund (10), (13), (15), (20).

113 Erwägungsgrund (15).

114 Empfehlung Rz 13.

115 Stadler, GPR 2013, 281 (286).

116 Empfehlung Rz 21.

32 Ausnahme somit nicht gänzlich ausschließen. Auch für den Sonderfall der Bagatellschäden wäre die Möglichkeit eines opt-out-Mechanismus nicht gänzlich auszuschließen. Wie bereits erläutert, besteht hier ein rationales Desinteresse zur individuellen Klagsführung und dieses könnte durch das allgemeine Interesse der effektiven Bekämpfung unlauterem Geschäftsgebaren überwogen werden. Den Bedenken gegen ein opt-out-Verfahren hätte die Empfehlung durch Regelungen, wie beispielsweise der Pflicht zur persönlichen Benachrichtigung der Geschädigten durch Zustellung, entgegenwirken können.117 Was das Verbot von quota litis Vereinbarungen betrifft, bestimmt die Empfehlung zunächst, dass Erfolgshonorare unzulässig sind, Anwaltshonorare somit keinen Anreiz für – aus der Sicht der Interessen der Parteien unnötigen – Streitverfahren schaffen sollen. Ausnahmen sind auch hier wieder möglich, aber dem Recht der Geschädigten auf vollständige Entschädigung müsse Rechnung getragen werden.118 Die Empfehlung lässt zwar die Finanzierung eines kollektiven Rechtsschutzverfahrens durch private Dritte grundsätzlich zu, aufgrund der in Rz 16 vorgenommenen Reglementierung – wie zB die Entziehung jeglicher Einflussnahme von Einigungsentscheidungen – könnte aber der Verdacht entstehen, dass man letztlich doch versucht die Möglichkeit der Drittfinanzierung auszumerzen. Es muss selbstverständlich dem Interesse der Geschädigten Rechnung getragen und ein allzu großer Einfluss des Drittfinanzierers auf den Prozessablauf vermieden werden. Zu beachten ist aber auch, dass dieser Drittfinanzierer das volle Prozesskostenrisiko gegen eine Erfolgsbeteiligung übernimmt und sich somit auch ein gewisses Mitspracherecht bei einem Vergleichsabschluss vorbehält, widrigenfalls kaum ein Dritter dieses Prozesskostenrisiko übernehmen würde.119

Nach G. Kodek120 trägt die Empfehlung nicht dazu bei, die spezifischen Probleme echter Kollektivverfahren zu lösen und weise auch rechtstechnische Mängel auf. Ein

„Massenschadensereignis“121 wird definiert als ein Ereignis, an dem zwei oder mehr als zwei Personen geltend machen, durch dasselbe oder durch gleichförmige Verhaltensweisen einer oder mehrerer Personen geschädigt worden zu sein und ein „kollektives Schadenersatzverfahren“122, somit als ein rechtliches Verfahren, mit dem zwei oder mehr als zwei Personen gemeinsam Schadenersatz aus einem Massenschadensereignis geltend machen.

Diese Definitionen seien derart breit ausgelegt, dass darunter auch die subjektive Klagehäufung subsumiert werden könnte, für diese wären die einschränkenden Regelungen

117 Stadler, GPR 2013, 281 (287).

118 Empfehlung Rz 29, 30.

119 Stadler, GPR 2013, 281 (289).

120 G. Kodek in FS Christian Nowotny 137.

121 Empfehlung Rz 3b).

122 Empfehlung Rz 3a).

33 der Empfehlung jedoch nicht angemessen. Für ein kohärentes Konzept eines kollektiven Rechtsschutzes bedarf es eigenständiger europäischer Lösungen. Die grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber „amerikanischen Verhältnissen“ verhindere aber nach G. Kodek gerade diese Entwicklung.

Auch nach Stadler123 ist diese „Zwei-Personen-Formel“ überflüssig, weil eine Klage von zwei Personen mit den bereits bestehenden prozessualen Instrumenten leicht bewältig bar sei und somit begründe dies auch kein Indiz für ein Massenphänomen. Sie weist aber noch ausdrücklich darauf hin, dass die Definition des Massenschadensereignisses, nicht den Massenschaden umfasst. Abgestellt wird also nicht auf die Zahl der Geschädigten, sondern auf die Zahl der daraus resultierenden Ansprüche, die geltend gemacht werden. Wäre doch ansonsten jeder Verkehrsunfall mit zwei Verletzten als ein Massenschadensereignis zu qualifizieren, was eine geradezu lächerliche Vorstellung wäre. Dass die Empfehlung einen Fortschritt für einen kohärenten europäischen Ansatz darstellt, bezweifelt Stadler. Man wollte es allen recht machen, deshalb lässt die Empfehlung auch klare Regelungen vermissen, welche vor allem im Bereich der häufig auftretenden Bagatellschäden notwendig gewesen wären. Die Unfähigkeit der Kommission, einen eigenständigen europäischen Ansatz und verbindliche Vorgaben zu schaffen, wird in der Wirtschaft vermutlich Erleichterung hervorrufen. Dies werde jedoch nicht von Dauer sein, denn der Widerstand gegen eine einheitliche europäische Lösung, verstärke nur den Wettbewerb zwischen den wenigen reformfreudigen Mitgliedstaaten, wie den Niederlanden oder dem Vereinigten Königreich und zugleich auch den Anreiz für ein forum shopping. Vor allem dann, wenn weiterhin nicht alle Mitgliedstaaten effektive kollektive Rechtsschutzinstrumente vorsehen.

1. Fazit

Als Ergebnis ist also festzuhalten, dass eine – rechtlich unverbindliche – Empfehlung wohl kaum zur Schaffung eines kohärenten europäischen kollektiven Rechtsschutzes beitragen wird. Die wenigen reformfreudigen Mitgliedstaaten werden ihren Weg weiter verfolgen, können aber, mangels derzeit bestehender verbindlicher Vorgaben, Instrumente eines kollektiven Rechtsschutzes einführen, die sich sehr viel näher an dem US-amerikanischen Rechtsinstitut der class action orientieren können, als es den Europäern lieb sein wird.

Diejenigen Mitgliedstaaten in denen bisher keine Reformbemühungen bestanden, werden sich wohl kaum von einer unverbindlichen Empfehlung beeindrucken lassen. Vor allem im Verbraucherrecht wäre, aufgrund des steigenden Wachstums grenzüberschreitender

123 Stadler, GPR 2013, 281 (286 ff).

34 Sachverhalte, ein einheitliches Konzept notwendig, um einerseits dem Wettbewerb der Mitgliedstaaten um Massenverfahren entgegenzuwirken, als auch um andererseits den Verbrauchern der Europäischen Union einen einheitlichen Rechtsschutz zu gewähren. Zu beachten ist aber, dass das Fehlen eines einheitlichen Konzepts für kollektiven Rechtsschutz in Europa, zu nationalen Alleingängen der Mitgliedstaaten führt und je weiter diese in ihrer Gesetzgebung fortschreiten, umso schwieriger wird es sich künftig gestalten, sich auf ein effektives europäisches System des kollektiven Rechtsschutzes zu einigen.

F. Rechtsvergleich: Kollektiver Rechtsschutz in anderen EU-Staaten und