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ERZÄHLUNGEN

Im Dokument ORTE LEBENDIGE (Seite 98-104)

Melanie Hermann

konferenz“ gesetzt, deren Einladung zum Jahresbeginn 2016 in zahlreichen Brief-kästen in Eberswalde landete . Etwa hun-dert Menschen folgten ihr und wurden über zahlreiche angebliche Verschwö-rungen informiert, von denen sie betrof-fen seien, dazu wurden Karikaturen von gierigen Bankern gezeigt . Wie sich später herausstellte, war einer der Organisatoren Mitglied der rechten Splitterpartei „Deut-sche Nationalversammlung“, die Hitler als Spitzel der SPD bezeichnet und leugnet, dass die NSDAP „rechts“ gewesen sei .

„Reichsbürger“ in Barnim-Uckermark?

Wer sind eigentlich diese

„Reichsbürger“?

Immer wieder ist von „Reichsbürgern“ zu hören oder zu lesen, die die Bundesrepu-blik Deutschland und ihre Gesetze nicht anerkennen, sich Fantasiedokumente erstellen und denken, dass sie in einem

„Deutschen Reich“ leben. Das alles trifft auf viele Personen aus diesem Milieu zu, aber nicht auf alle . Denn „die Reichsbür-ger“ gibt es eigentlich gar nicht . Vielmehr gibt es eine Fülle an unterschiedlichen Gruppen und Einzelpersonen . Jan Rath-je unterscheidet vier Untergruppen, die im reichsideologischen Milieu zu finden sind: Rechtsextreme seit 1945, „Reichs-bürger“, Selbstverwalter_innen und Sou-veränist_innen . Trotz aller Unterschiede gibt es auch eine große Gemeinsamkeit zwischen diesen Gruppen . Alle vier ge-hen davon aus, dass die Bundesrepublik kein legitimer oder souveräner Staat ist, sondern fremdbestimmt wird .

wenden . In solchen Gebieten kann schnell der Eindruck entstehen, von den städti-schen Zentren abgeschnitten zu sein . In Brandenburg hat man bereits früh das Problem der „Reichsbürger“ erkannt . Das Landesamt für Verfassungsschutz ver-fasste bereits im Jahr 2012 erste Hand-lungsempfehlungen für die Verwaltung;

die Amadeu Antonio Stiftung im Jahr 2014 für die Zivilgesellschaft . Seit den tödlichen Schüssen auf einen Polizeibe-amten im Oktober 2016 von einem Men-schen aus dem Milieu der „Reichsbürger“

wird deutlich, dass es sich bei ihnen nicht bloß um „Spinner“ und „Querulan-ten“ handelt, sondern eine Gefahr von ihnen ausgeht . Mittlerweile rechnet der Verfassungsschutz in Brandenburg 440 Personen dem Milieu der Reichsbürger zu – Tendenz steigend . Bei vielen Perso-nen aus dem Milieu der „Reichsbürger“

gibt es lebensgeschichtliche Hinweise auf Enttäuschungen und harte biografi-sche Einschnitte, die ihrem Zugang zur Reichsideologie vorausgegangen sind . Dazu kommt, wie Dirk Wilking in „Reichs-bürger” . Ein Handbuch“ darlegt, in länd-lichen Gebieten bei vielen Ansässigen verstärkt das Gefühl, von staatlichen Entscheidungen abhängig zu sein, je-doch nicht aktiv an Entscheidungspro-zessen teilhaben zu dürfen . Insbesondere

„Reichsbürger“ und Selbstverwalter_in-nen schlagen in eben diese Kerbe der Ent-täuschung vom Staat, indem sie sich mit den rechtlichen Grundlagen des Staates auseinandersetzen und diese anfechten . Sie versuchen damit ihrem möglicher-weise ebenfalls unzufriedenen Umfeld

fahrungen mit deutschen Behörden aus und bringen einander absurde und irre-führende Tricks bei, wie man mit diesen umzugehen habe. Häufig geht es dabei ganz konkret darum, keine Steuern oder GEZ-Gebühren zahlen zu wollen oder die schuldenbedingte Pfändung des eigenen Hauses oder ähnliches zu verhindern . Das Tragische ist, dass sich die Menschen, die derlei Seminare besuchen, tatsächlich oft in existenziellen Nöten befinden und auf Hilfe angewiesen sind .

Zunächst trägt das, was sie dort lernen, als Form zivilen Ungehorsams, oft auch Früchte. Sie schaffen es meist, Gerichts-vollzieher oder Finanzbeamte zunächst zu überrumpeln und die jeweiligen Amts-handlungen aufzuschieben . Letztendlich sitzt der Staat aber am längeren Hebel – die kurzzeitig ausgesetzte Notsituation verschlimmert sich oft rapide . Denn die vermeintliche Hilfe, die ihnen angeboten wird, basiert nicht auf einem rationalen und gesetzeskonformen Umgang mit ih-rer Lebenslage .

Reichsideologie und viele weitere Ver-schwörungserzählungen wirken beson-ders anziehend auf Personen, die sich in ihrem Leben unwohl fühlen . Vielfach kombiniert sich diese Unzufriedenheit mit einem geringen Selbstwertgefühl . Dies kann aus verschiedenen Gründen der Fall sein . Viele der prominenteren „Reichsbür-ger“ oder Selbstverwalter_innen beispiels-weise berichten von einschneidenden Erlebnissen in ihrem Lebenslauf – dazu gehören mitunter der Verlust der Arbeit beziehungsweise der finanziellen Sicher-heit . Meist ist mit diesen Ereignissen eine

Gefühl der Hilflosigkeit und bisweilen auch empfundenen Wertlosigkeit erwächst bei einigen der Wunsch, sich gänzlich neu zu orientieren . Sie sind in ihrer Identität stark verunsichert und auf der Suche nach ein-deutigen Vorgaben – und klar auszuma-chenden Schuldigen .

Verschwörungsideologien stellen genau dies zur Verfügung: Ihr Leiden und das-jenige der ganzen Welt bekommt einen Sinn – und sie einen Platz auf der Seite der betrogenen „Guten“ im Kampf gegen die betrügenden „Bösen“ .

Als Verantwortliche dafür wird eine mäch-tige Elite ausgemacht . Doch wer sind diese mysteriösen Mächtigen? Die Antwort auf diese Frage wird häufig nicht offen aus-gedrückt . Die Rede ist dann nicht selten von den „Rothschilds“, den „Bankern von der Ostküste“, dem „Finanzkapital“, „dem Zionismus“, den „Börsen und Banken“ und vielem mehr . Gemeint sind jedoch in der Regel dieselben: „Die Juden“ . Da jedoch in Deutschland und anderen Staaten offe-ner Antisemitismus nicht akzeptiert wird oder unter Strafe steht, werden innerhalb des Milieus die oben genannten Codes und Chiffren genutzt, um sich vor dem Vorwurf zu schützen und trotzdem die eigenen antisemitischen Ressentiments ausdrücken zu können .

Die Autorin ist Referentin für Reichsideologien bei der Amadeu Antonio Stiftung .

Netzwerke bieten Anregung und Unterstützung zugleich. Wer etwas für sich und seine Region tun möchte, muss nicht alleine bei Null anfangen.

In Brandenburg gibt es viele Gleich-gesinnte und Unterstützungsange-bote, die mit Rat, Tat und finanziellen Fördermöglichkeiten zur Seite stehen.

Eine Auswahl von Anlaufstellen haben wir auf den kommenden Seiten für Sie zusammengestellt.

— Andreas Pautzke, stellv. Geschäfts-führer des Bundesnetzwerks Bürger-schaftliches Engagement

FÜR BUNTE, OFFENE GESELLSCHAFTEN – GEGEN RASSISMUS,

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