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Wie erweitert sich die Beratungsebene, wenn Migration thematisiert wird?

Zugänge zu multikulturellen Systemen

Carmen Bernal, Caritas

Einwanderer kommen oft mit großem Gepäck in Deutschland an. Sichtbar, umfangreich und schwer. Unsichtbar sind dagegen die Koffer der Seele, die zuweilen genauso schwer sind und nicht selten mit der Zeit noch schwerer werden. Sie werden vielleicht irgendwo abgestellt und lange Zeit nicht mehr geöffnet werden bzw. von Generation zu Generation weiter gegeben.

Beispiel aus meiner Arbeitspraxis: Frau XY absolvierte bei uns eine Therapie im Rahmen der

„medizinischen ambulanten Rehabilitation“, wegen ihres abhängigen Trinkverhaltens. Während der Krebserkrankung ihres Mannes und verstärkt nach seinen frühen Tod (52J). (die Eltern starben kurz zuvor) setzte sie den Alkohol als Lebensbewältigungsstrategie ein. Aus einem Gefühl von Verlassensein und Einsamkeitsgefühlen trank Frau XY verstärkt Alkohol und zog sich daraufhin immer mehr zurück.

Durch eine Familienrekonstruktionsarbeit mit Genogramm und Familienskulptur über die

letzten zwei Generationen bis hin zu den Großeltern wurde das Familienschicksal erhellt. Es wurde dabei ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Familiengeschichte und dem Thema Abhängigkeit bei Frau XY sichtbar. Die Familie stammte aus Ostpreußen. Der Großvater mütterlicherseits wurde im Sommer 1945 vom Feld wegverschleppt. Die Familie sah ihn nie wieder. Er soll in einem Lager umgekommen sein. Sie verloren den Hof und flüchteten. Es wurde deutlich, dass über dieses schwere Schicksal große Sprachlosigkeit herrschte. Die Mutter hat die schweren schicksalhaften Verluste durch angestrengte Arbeitsamkeit, striktes Zusammenhalten der Familie und das Aufstellen der Familienregel: “Wir Eltern und Kinder gehen niemals auseinander“ zu kompensieren versucht. Trauer über den großen Verlust und die daraus folgende Versöhnung mit dem schweren Schicksal fanden nicht statt. Die große Angst vor dem Schmerz, sich auch emotional ihrem Schicksal zu stellen führte dazu, dass sie sich nicht entwicklungsgemäß voneinander ablösten. Diese Lebensbewältigungsstrategie übernahm Frau XY unbewusst. Auch sie lebte mit ihrem Mann eine „symbiotische“ Beziehung.

Immer wenn ein Mensch stirbt, geht eine Welt unter sagt Schopenhauer. Auch Migration bedeutet den Untergang einer Welt, d.h. einer Konstruktion der Wirklichkeit.

Auch wenn Migration nicht zwangsläufig mit Stress einhergehen muss, ist eine Person im Prozess der Akkulturation vielen Belastungen ausgesetzt und daher stressgefährdeter als eine andere, je nachdem, wie sich migrationsbedingte Belastungen und kritische Lebensereignisse kombinieren und welche Akkulturationsstrategie eine Person wählt: Integration, Segregation (Abgrenzung gegen das Gastland), Assimilation oder Marginalisierung (trifft eher zu bei Russlanddeutschen, die alle Verbindung zum Herkunftsland gekappt haben, dort nicht mehr verwurzelt sind, denen aber die Verwurzelung in Deutschland ebenfalls nicht geglückt ist; nicht ohne Grund leiden Russlanddeutsche oft unter Suchtproblematiken. Auffällig ist, dass in Russland 36% der Bevölkerung ein Alkoholproblem haben.)

Doch niemand ist allein belastet. Migration bedeutet einen massiven Verlust. Der Mensch, der seine Heimat verlässt und somit auch Menschen, liebgewordene Dinge, Orte, Kultur, Gewohnheiten, Gebräuche, Sprache, einen bestimmten oder besonderen sozialen und gesellschaftlichen Status, manchmal auch den Beruf, erlebt auch einen gewissen Tod. Seine Identität ist gefährdet. „Mit dem Verlust dieser Objekte sind auch die Beziehungen zu ihnen und manche Anteile des Selbst ebenfalls vom Verlust bedroht.“ Migration ist ein

„Lebensereigniskomplex“. Gelingen oder Scheitern hängen von vielen Faktoren ab, individuellen, sozialen und gesellschaftlichen.

Kinder und Jugendliche, die Migration erleben, erfahren eine doppelte Belastung, da sie neben dem Entwicklungsauftrag, die neue Welt eines Erwachsenen zu konstruieren, den Entwicklungsauftrag am neuen Ort, eine neue Welt zu konstruieren, erledigen müssen. Die

Risiken, denen sie in diesem Prozess ausgesetzt sind, sind entsprechend groß und vielfältig. Es ist eine Verpflichtung der aufnehmenden Gesellschaft jungen MigrantInnen besondere Aufmerksamkeit zukommen zulassen und sie in ihrer besonders belasteten Situation zu unterstützen. Risiken des Scheiterns müssen, wo immer möglich, gemindert werden. Wo sich aber Symptome des Scheiterns zu zeigen beginnen, ist die Bereitstellung adäquater und effizienter Hilfen erforderlich.

Um als Beraterin und Berater mit dieser speziellen Form von Belastung umgehen zu können, und um den o.g. Koffer wieder sichtbar zu machen, den Schlüssel, die Knoten und die Schnüre finden und öffnen zu können, sind “interkulturelle Kompetenzen“ erforderlich. Es geht darum, diese interkulturelle Kompetenzen zu erwerben, die sich erfolgreich anwenden lassen, wo immer es um Kommunikation mit Menschen aus anderen Kulturen geht.

Folgende Module sind im Sinne einer Maximalforderung, die nur selten insgesamt zu erfüllen sind, zu beachten:

die Fähigkeit angemessen und erfolgreich mit den Angehörigen einer anderen Kultur zu kommunizieren und sich in einer fremden kulturellen Umgebung angemessen zu bewegen.

Hintergrundwissen über die jeweilige Kultur, Herkunft, Religion und Sprache der Familie.

bi- oder überkulturelle Teams und vor allem als Minimalforderung:

Haltung von Neugier und Interesse

Als Umsetzungsstrategie dazu ist eine Interkulturelle Öffnung der Regeldienste Voraussetzung.

Der „Werkzeugkoffer“ - Spezifische Zugänge zu multikulturellen Kontexten

Der systemische Ansatz bietet eine gute Grundlage für die Arbeit mit Menschen mit unterschiedlichen kulturellem Hintergrund. Gerade im interkulturellen Kontakt ist eine Transparenz über den eigenen kulturellen Hintergrund und Hintergrundwissen der Therapeutin oder Beraterin über die Kultur des Klienten von großer Bedeutung, um eine gegenseitige vertrauensvolle Beziehung aufbauen zu können.

Beispiel:

Eine südindische Klientin mit einer Alkoholproblematik, die mit großer Scham zu unsere Beratungsstelle kam und erst sehr verunsichert wirkte, öffnete sich, als ich begeistert von meiner kürzlich durchgeführten Indienreise zu einer deutsch-indische Hochzeit von Freunden erzählte.

Hinzu kam zu meinem Erstaunen, dass sie auch wie ich katholisch war.

Dieses „affektive Fundament“, d. h. über Kontakt und Beziehungsaufbau einen Rahmen bereit zu stellen, innerhalb dessen der Beratungsprozess zwischen den Polen Stabilität und Instabilität

verläuft, ist vor aller Veränderungsarbeit die wesentlichste Aufgabe systemischer Beratung. Das heißt:

Stabilität: der vom Berater/Therapeutin bereitgestellte klare Rahmen und die therapeutische/beraterische Beziehung als verlässliche Basis gemeinsamer Arbeit.

Instabilität: jeder beraterischer oder therapeutischer Prozess bedeutet eine Labilisierung.

Gewohnte Verhaltensmuster werden in Frage gestellt, und wirkliche Veränderungen erfordern Mut...

In der Arbeit mit MigrantInnen und KlientInnen nicht deutscher Herkunft sind m. E.

Methoden des systemischen Ansatzes, außer dem o.g. Joining/Rapport, zirkuläres und hypothetisches Fragen, Erfragen von Rangfolgen, Reframing, Ressorcenorientierung ( z. B.

Märchen, Geschichten, Weisheiten und Rituale aus anderen Kulturen würdigen und einbeziehen) und Arbeiten mit Familienskulpturen und Genogrammen, hilfreich.

Als Genogramm wird in der systemischen Praxis eine Art „Stammbaum“ der Familie bezeichnet, der mit der Familie gemeinsam oder auch mit Einzelnen erarbeitet wird und in den wesentliche Familiendaten eingetragen werden. Kontaktaufbau vorher ist wichtig! Es ist ein sehr brauchbares Instrument für interkulturelle Zusammenhänge, da es nur wenig Sprache erfordert.

Die Visualisierung macht schnell Zusammenhänge erkennbar. Die Einbeziehung von Landkarten ermöglicht allen, Orte, die biografisch wichtig sind ausfindig zu machen und eine Verständigung ohne Worte zu erleichtern..

„Die Kunst des Fragens“

Spezifische Fragen, vor allem wenn sie zirkulär gestellt werden, können geeignet sein, multikulturelle Kontexte zu erhellen. Mögliche Fragen:

Wie begrüßen Sie sich zu Hause? Wie würden wir uns begrüßen, wenn wir uns in Ihrem Heimatland treffen würden?

Was bedeutet Ihr Name/Vorname/Name des Kindes in Ihrer Sprache

Was bedeutet es für Sie, dass ich Sie als Ausländerin bzw. Deutsche berate? Worin könnte die Chance liegen, worin eine Schwierigkeit?

Zu wem würden Sie in der Heimat gehen? Wie sähe sein Rat aus? Wie würde er bzw. sie sich das Problem erklären, welche Ursachen würde er suchen oder annehmen.

Wer traf die Entscheidung zur Migration? Wer war am ehesten einverstanden mit der Entscheidung, wer am wenigsten? Welche anderen Optionen hätten bestanden? Wie sehen etwa die Großeltern diese Entscheidung?

Was würde aus der Sicht der verschiedenen Personen in der Großfamilie eine gelungene Migration bedeuten?

Ich kenne Menschen deren Eltern nicht Deutsche sind und sie werden immer wieder nach ihrer Herkunft gefragt, oft nur wegen ihres Aussehens oder Namens. Sie mögen das nicht, fühlen sich oft genervt. Ein indischer Freund, der hier in Deutschland geboren ist, antwortet manchmal auf diese Frage, etwas genervt: aus Luxemburg. Und wie ist das bei Ihnen/Dir?

Darüber hinaus sind folgende Faktoren zu beachten:

Elterliche Präsenz

Viele Einwandererfamilien erleben Phasen der Destabilisierung im Aufnahmeland. Das Familiensystem kann sich verschieben und die „elterliche Präsenz“ kann vermindert werden oder verloren gehen, im Sinne der Nicht-Übernahme elterliche Funktionen. Diese Eltern müssen ermutigt werden, ihre Rolle als Eltern zurück zu erobern.

Umgang mit Stereotypen

Es gibt keine typische italienische oder türkische Familie. Und auch nicht jede Muslime mit Kopftuch ist „rückständig“. Unter einer muslimischen Frau mit Kopftuch oder einer katholischen Nonne mit Tracht kann eine emanzipierte Frau stecken. Gerade bei ähnlichem ist besonders wichtig, auf Unterschiede zu achten. Man kann ein vorhandenes Stereotyp hinterfragen, z. B.: „Mein Bild von einem türkischen Ehemann ist, dass er in der Familie alles alleine entscheidet; wie ist das bei Ihnen“?

Literatur:

Multikulturelle systemische Praxis, Arist von Schlippe, Mohamed El Hachimi, Gesa Jürgens, 2003 Sucht Migration Hilfe, AWO, FDR, (Hrsg.), 2005