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5. Diskussion

5.1. Interpretation der Ergebnisse

5.1.7. Ergebnisinterpretation des Vergleichs der Gruppe Berliner Gesundheitssystem

Im Vergleich mit der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe konnte bei der Berliner Ge-samtgruppe nachgewiesen werden, dass die salutogenen Ressourcen von Vertretern des Berli-ner Gesundheitssystems signifikant höher ausgeprägt sind als bei der Bevölkerungsstichprobe.

Im direkten Vergleich der jeweiligen Altersklassen der Berliner Gesamtgruppe und der Be-völkerungsstichprobe konnte ein interessanter Unterschied zwischen den beiden Gruppen dokumentiert werden. Während der SOC bei der Bevölkerungsstichprobe mit zunehmendem Lebensalter eine fallende Tendenz zeigt, bestand in der untersuchten Berliner Gesamtgruppe ein gegensätzlicher Effekt: ein Anstieg des Kohärenzgefühls mit steigendem Lebensalter.

Waren diese Unterschiede in der Altersklasse 18 bis 40 Jahre nicht signifikant, lag der SOC der Berliner Gesamtgruppe in den Altersklassen 41 bis 60 Jahre und über 60 Jahre signifikant höher als bei der Bevölkerung. Daraus lässt sich ableiten, dass das Kohärenzgefühl bei der Gruppe des Berliner Gesundheitssystems im Vergleich zur Bevölkerung mit zunehmendem Lebensalter stabilisiert und ausgebaut wird.

Dieses Ergebnis steht im Einklang mit anderen Erkenntnissen, dass der SOC mit dem Errei-chen der ersten Dekade des Erwachsenenalters entgegen den Überlegungen Antonovskys noch nicht abgeschlossen bzw. nicht ausschließlich durch einschneidende Lebensereignisse veränderlich ist, sondern auch im höheren Lebensalter weiter dynamischen Veränderungen, zumeist einem leichten Ansteigen, unterliegt. [59] [99]

Die erhobenen altersassoziierten Daten bestätigen auch andere, im Folgenden noch genannte Studien, bei denen eine direkte Korrelation zwischen Lebensalter und Höhe des SOC nach-gewiesen werden konnte.

Einschränkend muss aber darauf hingewiesen werden, dass zu dieser Thematik größere Stu-dien mit Längsschnittdesign noch ausstehen.

Ein weiterer Aspekt zeigt sich in der geschlechtsspezifischen Auswertung des SOC zwi-schen Berliner Gesamtgruppe und der Bevölkerungsstichprobe. Hier wurde bereits darauf hingewiesen, dass in den Daten der Bevölkerungsstichprobe ein bei Frauen signifikant

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gerer SOC auffiel. Dieses Phänomen ließ sich bei den weiblichen Teilnehmern im Berliner Gesundheitssystem nicht beobachten. Der SOC bei Frauen der Berliner Gesamtgruppe ist signifikant höher als bei der weiblichen Bevölkerungsstichprobe.

Neben der eingangs erwähnten deutlich höheren Teilnahmemotivation wird das Interesse an der salutogenen Thematik bei Frauen im Berliner Gesundheitssystem durch einen signifikant höheren SOC im Vergleich zur weiblichen Bevölkerung bestätigt.

Der Beruf Ärztin mag zwar mit vielfältigen Stressoren und einem nicht immer positiven Wandel im Gesundheitssystem verbunden sein. Er ist aber noch immer ein Beruf, der ein re-lativ selbstbestimmtes Leben ermöglicht, sei es in Form einer Anstellung im Krankenhaus mit den Vorzügen einer nichtselbstständigen Tätigkeit oder der beruflichen Freiheit als Praxis-inhaberin. Sieht man von unternehmerischen Risiken wie Belastungen durch Verschuldung und Kredite ab, besteht bei Ärztinnen doch eine höhere finanzielle Sicherheit im Vergleich zu anderen Berufsgruppen des weiblichen Bevölkerungsdurchschnitts. Wie bereits genannt, ist damit auch eine höhere Lebenszufriedenheit verbunden.

Gerade im Berufsweg der Allgemeinmedizinerinnen scheinen die drei Komponenten des Sense of coherence eine besondere Bestimmung und Verwendung zu finden. Sicherheit gibt dabei die Kontinuität der täglichen Sprechstunde oder die oft über jahrzehntelange vertrau-ensvolle Betreuung eines Patientenstammes. Darüber hinaus besteht im Fachgebiet Allge-meinmedizin generell eine große Flexibilität, sich spezifischen Schwerpunkten zuzuwenden und sich Aufgabenbereiche mit besonderem Interesse zu erschließen. Genannt seien hierbei Untersuchungsverfahren wie diagnostischer Ultraschall, Ergometrie, systemische

Im-muntherapie oder Subspezialisierungen wie beispielsweise Naturheilverfahren, Psychothera-pie oder ChirotheraPsychothera-pie. Zudem scheint das Gefühl der Verstehbarkeit besonders bei der aktiven Auseinandersetzung bei der Verarbeitung von Anliegen, beim Verstehen und Nachvollziehen von Sorgen und Beschwerden der Patienten eine intensive Anwendung finden.

Das Gefühl der Handhabbarkeit gibt Sicherheit, dass für die Bewältigung von Anforderungen ausreichende Mittel und Ressourcen wie Erkenntnis, Auffassungsgabe und Erfahrung bereit stehen. Dies mag neben den beruflichen Herausforderungen besonders auch im privaten Bereich Anwendung finden: Viele Ärztinnen sind durch Beruf und Familie doppelten Belastungen ausgesetzt, dies insbesondere nach Geburt eines Kindes, der Elternzeit oder durch die Erziehung der Kinder. Zwar mag sich diese Tradition in den letzten Jahren dahingehend etwas verändert haben, denn mittlerweile nehmen auch viele Väter die

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Möglichkeit einer Elternzeit in Anspruch. Dennoch nimmt die Rolle der Frau als Mutter einen besonderen Stellenwert ein.

Neben den genannten Belastungen können familiäre Aufgaben andererseits eine bereichernde Ressource mit außerordentlicher Bedeutung darstellen.

Die nach Antonovsky wichtigste Komponente des SOC ist das Gefühl der Sinnhaftigkeit.

Auch bei diesem Element des Kohärenzgefühls kann man die spezielle Bedeutung bei Ärztin-nen leicht ableiten. Hier wird insbesondere die berufliche Erfüllung deutlich: Es ist wichtig, zur Lösung von Problemen und Aufgaben eigene Ressourcen zu aktivieren und in diese zu investieren. Das Leben und der Beruf ergeben einen Sinn. Diese Sinnhaftigkeit und der alltägliche persönliche Einsatz ist es wert, sich insbesondere als Ärztin auch nach einem ausfüllenden und anstrengenden Arbeitstag um die eigene Familie zu kümmern, Kinder zu erziehen und soziale Kontakte zu pflegen.

Diese allgegenwärtige Präsenz der Komponenten des Kohärenzgefühls im Berufs- und Familienleben von Ärztinnen erklärt auch deren besonderes Interesse an der salutogenen Thematik.

Die Abweichung zur weiblichen Bevölkerungsstichprobe gibt einen interessanten Ansatz für weitergehende Untersuchungen, die mit der erneuten Datenerhebung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe verbunden sein sollten.

Bei der Herkunft (Wohnsitz vor 1990) bestanden keine spezifischen Unterschiede zwischen der Berliner Gesamtgruppe und der Bevölkerung. Im Berliner Gesundheitssystem wiesen so-wohl die Teilnehmer aus dem Gebiet Ost-Deutschland/Ost-Berlin als auch aus dem Gebiet West-Deutschland/West-Berlin einen signifikant höheren SOC als der entsprechende Bevöl-kerungsdurchschnitt auf. Hier wird das bereits genannte Ergebnis von Schuhmacher auch in-nerhalb der Berliner Gesamtgruppe bestätigt, dass die Herkunft zwischen beiden Teilen Deutschlands hinsichtlich der Ausprägung des Kohärenzgefühls keine Rolle spielt. [46]

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5.1.7.1. Vergleich der untersuchten Subgruppen des Berliner Gesundheitssystems mit der Bevölkerungsstichprobe

Vergleicht man die Subgruppen des Berliner Gesundheitssystems mit der Bevölkerungsstich-probe, so kann bei der Subgruppe der MFA das auffällig niedrige Kohärenzgefühl der weibli-chen Bevölkerung ebenfalls nicht reproduziert werden, entspreweibli-chend zeigt sich der SOC sig-nifikant höher als beim weiblichen Bevölkerungsdurchschnitt. Im Vergleich der Altersklassen fällt dieser Unterschied ausschließlich in der Alterskategorie 41 bis 60 Jahre auf. Da innerhalb der Subgruppe der MFA keine signifikanten altersspezifischen Unterschiede zu beobachten waren, muss das Ergebnis auf den niedrigeren SOC in der weiblichen Bevölkerung in der Alterskategorie 41 bis 60 Jahre zurückzuführen sein. Die Daten bei den MFA über dem 60.

Lebensjahr sind wegen der geringen Teilnehmerzahl eingeschränkt verwertbar. Der SOC liegt zwar auch hier ebenfalls deutlich über dem der Bevölkerung, allerdings besteht bei diesem Unterschied keine Signifikanz, was sehr wahrscheinlich auf die geringe Stichprobengröße zurückzuführen ist.

Bei der ärztlichen Profession fallen in der Subgruppe der Allgemeinmediziner besonders die signifikant höheren SOC-Werte der Altersklasse ab 60 Jahren und die der weiblichen Teil-nehmer auf. Auch bei den Chirurgen weist die mittlere Altersklasse einen signifikant höheren SOC auf. Berücksichtigt werden muss die Tatsache, dass bei den Chirurgen wie auch bei den MFA, die beide die Subgruppe der angestellt Tätigen repräsentierten, kaum Teilnehmer in der Altersklasse über 60 Jahre zu verzeichnen waren. Der Grund hierfür ist nicht klar. Bei den Allgemeinmedizinern (respektive Niedergelassene bzw. Selbstständige) wurden noch 70 Teilnehmer der Altersklasse über 60 Jahren registriert. Man könnte vermuten, dass

Allgemeinmediziner mit einem niedrigen SOC bereits ab dem 60. Lebensjahr in den Ruhe-stand getreten sind, damit in der Befragung nicht mehr erfasst wurden und somit eine positive Selektion eintrat.

Die bei Allgemeinmedizinern über das 60. Lebensjahr hinaus gehende weitere Arbeitstätig-keit ist aber zweifelsfrei mit einer starken Ausprägung des Kohärenzgefühls und damit auch mit einer hohen Lebensqualität verbunden.

Nicht zu erklären ist die Tatsache, dass bei Studien verschiedener Autoren der SOC überein-stimmend mit zunehmendem Alter steigt, die Daten der repräsentativen Bevölkerungsstich-probe jedoch einen gegensätzlichen Effekt erkennen ließen.

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Bengel et al. analysierten hierfür mehrere Publikationen, bei denen nachgewiesen wurde, dass mit zunehmendem Alter auch das Kohärenzgefühl zunahm. [3] [59] [100] [101]

Auch Zirke et al. wiesen bei einer Befragung von Berliner Patienten mit psychischen Krank-heitsbildern nach, dass der SOC mit höherem Alter direkt korrelierte. [51]

Larsson et al. bildeten bei einer repräsentativen Befragung der Bevölkerung in Schweden drei Altersgruppen, bei denen der SOC-Mittelwert bei den Gruppen des höheren Altes mit einem größeren Wert gemessen wurde. [94]

Rimann und Udris wiesen in einer Stichprobe von Angestellten des Dienstleistungssektors nach, dass sich das Kohärenzgefühl mit steigendem Alter leicht erhöhte. [99]

Im Gegensatz dazu beobachteten Schumacher et al. in der Bevölkerungsstichprobe in Deutschland einen gegenteiligen Effekt. Es zeigte sich eindeutig eine Abnahme des Kohärenzgefühls mit zunehmendem Alter. [46]

Hier wird die Notwendigkeit der Erhebung aktueller repräsentativer Daten des Sense of coherence in Deutschland besonders deutlich.

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