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A. Allgemeiner Überblick

2) Ellis und Rudolf Steiner45

Gegen Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts begannen sich immer mehr russi- sehe (symbolistische) Dichter, Schriftsteller, Denker und Künstler mit der Theoso- phie, vor allem in ihrer speziellen Ausprägung durch R. Steiner und seiner daraus entwickelten anthroposophischen Lehre auseinanderzusetzen, waren von ihr begei- stert, wurden von ihr angezogen oder auch abgestoßen. Viele Russen reisten nach Deutschland zu Steiner (darunter Éllis und Belyj), hörten seine Vorträge, kamen zur Anthroposophischen Gesellschaft und halfen mit beim Bau des ersten Goetheanums in Dornach (Schweiz)46. Um zu verstehen, was die Russen (und unter ihnen Éllis) an• ♦ Steiner und der Anthroposophie faszinierte, soll zunächst ein kurzer Überblick über die Hauptzüge dieser Lehre gegeben werden.

Die Theosophie im neueren Sinn ist eine von Elena Petrovna Blavackaja begründete, buddhistische Elemente aufnehmende Lehre vom Übersinnlichen: Der innere Mensch,ę ф sein Wesenskem, sei unsterblich; Tod bedeute lediglich einen Übergang auf höhere Daseinsebenen; durch Wiederverkörperung (Reinkamation) werde der Mensch zur ir- dischen Ebene zurückgeführt, um seinen Entwicklungsgang fortzusetzen. Das jewei- lige Lebensschicksal werde vom Karma, dem Gesetz göttlicher Gerechtigkeit, gestal- tet. Der Fortschritt der Menschheit erfolge nach einem göttlichen Entwicklungsplan.

Die einzelnen Religionen seien nur verschiedene Ausdrucksformen der ewigen Wahr- heit. Das Endziel der menschlichen Entwicklungen sei das W ieder-Einswerden mit Gott47

Elena Blavackaja und Henry Steel Olcott gründeten 1875 in New York die Theo- sophische Gesellschaft, die es sich zum Ziele machte, "die Bruderschaft der Mensch- heit zu verwirklichen, zum vergleichenden Studium der Religionen anzuregen und die unerklärten Naturkräfte zu erforschen, um den Materialismus einzudämmen und die Religiosität neu zu beleben"48.

Blavackaja und Olcott reisten 1879 nach Indien, wo sic in Bombay das Haupt- quartier der Theosophischen Gesellschaft gründeten, das 1882 nach Adyar bei Madras verlegt wurde49. 1907 übernahm die englische Thcosophin Annie Bcsant die Präsi- dentschaft der Theosophischen Gesellschaft in Indien50.

Die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft wurde ab 1902 von Rudolf Steiner geleitet, der bereits in seiner W iener Zeit in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den dortigen theosophischen Kreis geraten war, sich jedoch zunächst

45 Vgl. hierzu auch: Ch. Villich |H. Willich): Éllis i Štejner. In: Novoe literatumoe obozrenie, 9 (1994), S. 182-191; Dies.: L.L. Kobylinskij-Éllis i antroposofskoe učenie Rudol fa Štejnera. (К posta- novke problemy) In: Serebrjanyj vek msskoj literatury: Problemy, dokumenty. Moskva 1996. S.

134-146; D. Rizzi: Ellis i Stejner. In: Europa Orientalis, 14,1995,2, S. 281-294.

46 Vgl hierzu V.B. Fedjuschin: Rußlands Sehnsucht nach Spiritualität, a.a.O.; M. Carlson: "No Religion higher than Truth". A History o f the Theosophical Movement in Russia. 1875-1922. Prince- ton. New Jersey 1993; R.v. May dell: Domach als Pilgerstätte der russischen Anthroposophen. In: K.

Schlögel (Hrsg.): Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im europäischen Bürgerkrieg. Berlin 1995, S. 295-303. Vgl. ebenfalls die Memoirenliteratur: A. Belyj: Vospominanijao Štejnere. Paris 1982; A. Belyj: Verwandelndes Lebens. Erinnerungen an Rudolf Steiner. Basel 1990;

A. Turgenieff: Erinnerungen an Rudolf Steiner und die Arbeit am ersten Goetheanum. Stuttgart 2 1973;

M. Woloschin: Die grüne Schlange. Lebenserinnerungen einer Malerin. Hamburg 1982; M. VoloSina:

Zelenaja zmeja. Istorija odnoj žizni. Moskva 1993.

47 DTV-Lexikon, Bd. 18. München 1969, S. 198.

48 Brockhaus Enzyklopädie in 20 Bänden. 18. Band. Wiesbaden 1973, S. 633.

49 V. Fedjuschin: Ruölands Sehnsucht, a.a.O., S. 58.

50 DTV-Lexikon. Bd. 2. München 1969, S. 119.

sehr zwiespältig und kritisch gegenüber der Theosophie verhielt51. Gegen Ende des Jahres 1912 brach Steiner mit derTheosophischen Gesellschaft wegen der Ausrufung Krischnamurtis zum neuen W eltlehrer52 und gründete am 28.12.1912 in Köln die

"Anthroposophische Gesellschaft"53, die sich dann Anfang Februar 1913 auf einer Generalversammlung in Berlin konstituierte54. Jesus Christus und der Kreuzestod von Golgatha bedeuten für Steiner das zentrale Geschehen der Erd- und M enschheits- geschichte, und er hat immer w ieder betont, daß Christus nur ein einziges Mal auf Erden inkarniert war. Annie Besant jedoch hatte Krischnamurti als wiedergeborenen Christus proklamiert. Somit war durch diesen zentralen Unterschied in den Anschau- ungen ein Bruch mit der Theosophischen Gesellschaft unvermeidbar. Steiner hatte sich von Anfang an an der m itteleuropäischen Kultur orientiert und in seinem An- throposophie-Verständnis schnell immer weiter von den indisch-asiatischen Wurzeln der Theosophie Blavackajas entfernt. Er legte die Termini, die er einiger Jahre theo- sophischer Lektüre entnommen hatte, wieder ab. Seinen Ausgangspunkt bildeten die in der westeuropäischen Geistesentwicklung wurzelnden Erkenntnisse. Auch die von den Theosophen angestrebte Synthese aller Religionen war in dieser Form für ihn unannehmbar, obwohl er sehr daran interessiert war, jeder einzelnen Religion ihren legitimen Platz innerhalb der Anthroposophie zu zeigen.

Anthroposophie, Steiner spricht auch häufig von "Geisteswissenschaft", läßt sich definieren als "Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte"55, und "verm ittelt Erkenntnisse, die auf geistige Art gewon- nen werden"56. In seiner Vorbemerkung zum Aufsatz "Philosophie und Anthroposo- phie" gibt Steiner folgende Definition:

Unter Anthroposophie verstehe ich eine wissenschaftliche Erforschung der geistigen W elt, w elche die E inseitigkeiten einer bloßen Natur-Erkenntnis ebenso wie d iejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut, und die. bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewußtsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.57

Rudolf Steiner hatte erkannt, daß die zweifellos großen Erfolge und Emingenschaf- ten von Naturwissenschaft und Technik die Menschen zu einem materialistischen Fortschrittsverständnis geführt hatten, dem jegliches geistiges Gegengewicht fehlte.

Wenn aber für das Bewußtsein nur noch das existiert, was man mit seinen Sinnes- organen wahm ehmen und mit technischen Instrumenten bearbeiten kann, gibt es

51 Über R. Steiner gibt es sehr viel Literatur. Eine gute kurze Einführung in Leben und Werk bietet Chr. Lindenberg: Rudolf Steiner mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1992. Über Stei- ners Verhältnis zur Theosophie in seiner Wiener Zeit vgl. ebd.. S. 31-33.

52 BrockhausEnzyklopädie in 20 Bd. 18. Bd. Wiesbaden 1973. S. 63; Chr. Lindenberg: R. Steiner mit Selbstzeugnissen, a.a.O., S. 95.

5 3 Chr. Lindenberg: Rudolf Steiner. Eine Chronik 1861-1925. Stuttgart 1988, S. 324.

54 Chr. Lindenberg: R. Steiner mit Selbstzeugnissen. a.a.O.. S. 96.

Die Theosophische Gesellschaft hatte sich nach dem Tod der Blavackaja in mehrere Gesellschaften gespalten, die bis heute in vielen Landem, so auch in Deutschland, bestehen. Die zentrale Vermittlung zwischen den einzelnen Theosophischen Gesellschaften in Deutschland, die freundschaftlich zusammen- arbeiten, wird über die ”Theosophische Informationsstelle" in Frankfurt/Main abgewickelt.

55 = 1. anthroposophischer Leitsatz (in: R. Steiner: Anthroposophische Leitsätze. Der Erkenntnisweg der Anthroposophie. Das Michael-Mysterium. Domach/Schweiz 1976, S. 14).

56 = 2. Leitsatz (ebd.).

57 R. Steiner: Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze. 1 904-1918. Dor- nach/Schweiz 1965 (= Rudolf Steiner Gesamtausgabe Schriften. 35), S. 66.

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keine W elt des realen Geistigen m ehr und alle diesbezüglichen Aussagen werden als Täuschung oder Hirngespinst angesehen.

Steiner knüpfte also in seinem Theosophie-Verständnis an die europäische und christliche Überlieferung sowie an die moderne Wissenschaft an58 und bemühte sich dabei, von einer allgemeinen M enschenerkenntnis auszugehen und durch sie Anre- gungen und Hinweise für eine individuelle Menschen- und Selbsterkenntnis zu er- langen. 1904 veröffentlichte er seine Erkenntnisse in dem Buch "Theosophie”59.

Für Steiner besteht der Mensch aus Leib, Seele und Geist. Diese dem Menschen zugrundeliegende D reiheit läßt sich w eiter differenzieren60. So gelangt Steiner schließlich zu der folgenden Gliederung des Menschen:

1. Physischer Leib 2. Lebensleib 3. Astralleib

4. Ich als Seelenkem

5. Geistselbst als verwandelter Astralleib 6. Lebensgeist als verwandelter Lebensleib

7. Geistesmensch als verwandelter physischer Leib.6 1

Der physische Leib des Menschen ist aus M aterie gebildet und zerfällt nach dem Tode. Er wird vom Äther- oder Lebensleib durchdrungen, dem sogenannten "Bilde- Kräfte-Leib", der die Stoffe und Kräfte des physischen Leibes erst zum Leben auf- ruft. Der Astral- oder "Seelenleib" verm ittelt unserem Körper die Gefühle von Schmerz und Freude, Lust und Unlust, Zuneigung und Abneigung, die Triebe und das Begehren. Erst das Ich, das in der Seele lebt, läßt den Menschen zum Menschen werden. Es ist göttlicher Natur und macht das eigentliche Bewußtsein des Menschen aus, sein Selbst. Die geistige W esenheit des Menschen untergliedert Steiner in drei Teile: in das Geistselbst, den Lebensgeist und den Geistesmenschen62.

In diesem Zusammenhang ist Steiners Reinkamationslehre, das Gesetz der wieder- holten Erdenleben, von großer Wichtigkeit: Der Mensch lebt nicht nur einmal, son- dem erlebt viele Male Tod und W iedergeburt. Das Ich entwickelt sich in der Phase zwischen Toil und neuer Geburt weiter, bereitet sich auf ein neues Erdenleben vor, das folglich mit dem früheren Erdendasein und dessen Schicksal in Verbindung steht63.

Ein zentraler Gedanke in Steiners Anthroposophie ist, daß das m enschliche Er- kenntnisvemnögen entwicklungsfähig und der bewußten Schulung zugänglich ist; das menschliche Bewußtsein ist gewissermaßen einer Steigerung fähig64. Steiner hat von seinen Jugendwerken an bis zum Lebensende in im m er neuen Ansätzen Wege a u f­

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5 8 Chr. Lindenberg: R. Steiner mit Selbstzeugnissen, a.a.O., S. 74.

59 R. Steiner: Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbesümmung.

Domach/Schweiz 1980 (1. Aufl. Berlin 1904); vgl. dazu auch Chr. Lindenberg: R. Steiner mit Selbst- Zeugnissen, a.a.O., S. 79ff.

60 Vgl. R. Steiner: Theosophie, a.a.O.. S. 27-48.

61 Ebd.. S. 48.

62 Ebd., S. 44f.

63 Ausführungen dazu in R. Steiners "Theosophie" (ebd.. S. 4 9 -1 3 3 ) sowie in seinen beiden Vorträgen: "Reinkamation und Karma. Vom Standpunkte der modernen Naturwissenschaft notwendige Vorstellungen” und "Wie Karma wirkt" (beide Vorträge u.a. in einem Bändchen mit gleichem Titel:

Domach/Schweiz 1978).

64 Steiner knüpft in gewisser Weise an das Streben Fichtes, Schellings und Hegels nach einem Bewußtsein an, “das höhere als die gewöhnlichen Erkenntnisfahigkeiten zu betätigen vermag". (H.E.

Lauer: Fichte. Schelling, Hegel. In: Ders.: Der Kulturimpuls der deutschen Klassik. Schaffhausen 1974, S. 6 3 -7 4 , hier bes. S. 64.)

gewiesen, auf denen ein an der zeitgenössischen W issenschaft geschultes Denken durch neue Methoden auch solche Bereiche exakt wissenschaftlich bearbeiten kann, die der heutigen reinen Naturwissenschaft noch als unzugänglich erscheinen. Einen entscheidenden Schritt in diese Richtung hatte schon Goethe getan, der mit seinen organischen und morphologischen Arbeiten den Anspruch erhebt, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen getroffen zu haben. Die Behauptung Goethes wird heute auch von einigen nam haften W issenschaftlern außerhalb der Anthroposophie bestätigt (etwa von A. Portmann, W. Troll und C.F. von W eizsäcker). Steiner ist jedoch über Goethes "organische Methode" noch weit hinausgegangen. Er betont, daß seine gei- steswissenschaftlichen Aussagen für denjenigen nachprüfbar seien, der sich der von ihm aufgewiesenen Methoden bediene65. So wie der Mensch vom Schlaf zum Traum und von diesem zum W achen übergehen kann und das Erlebte durch Denken zu ordnen vermag, so kann er auch dieses Denken in eine neue Qualität erheben. Das großartigste Vorbild ist für Steiner in diesem Zusammenhang Goethe, der im Schau- en der Urpflanze eine Bewußtseinsverfassung betätigt, die er - nach Kant - als an- schauende Urteilskraft bezeichnet.

In seinem philosophischen Hauptwerk, "Die Philosophie der Freiheit", an dem Steiner 1891 in W eimar zu arbeiten begann, versucht er, die schöpferische Freiheit als das spezifisch Menschliche des Menschen nachzuweisen: Steiner geht in dieser er- kenntnistheoretischen Arbeit von der Polarität zwischen W ahrnehmung und Denken aus. Es kann keine Erkenntnis zustande kommen, ohne daß eine Wahrnehmung - sei es eine sinnliche oder die eines Gefühls, ja sogar die eines auftauchenden Gedankens - mit dem ihr zugehörigen Begriff durch die Tätigkeit des Denkens verbunden wird.

Aber es gibt eine einzige Ausnahme, die in der bisherigen Philosophie vor allem von J.G. Fichte und G.W.F. Hegel untersucht worden war66, näm lich wenn das Denken sich selber denkt bzw. beobachtet. In diesem einzigen Falle ist das Wahmehmungs*

organ und das begriffserzeugende Organ ein und dasselbe. Steiner bezeichnet diese Situation als die Überwindung des Dualismus zugunsten eines Monismus. Man erlebt sich selbst als den Schöpfer einer neuen Einheit der sonst für den Menschen in Sein und Bewußtsein zerfallenden W elt. Hierauf beruht die m enschliche Freiheit. In vierzehn ausführlichen Kapiteln wird der hier skizzierte Gedankengang entwickelt67.

6־s Diese Gedanken Steiners finden sich vor allem in seinen folgenden Werken: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung (1886), Theosophie (1904), Wie erlangt man Er- kenntnisse der höheren Welten? (1904/1905) und Die Geheimwissenschaft im Umriß (1910).

66 Bereits ab 1877 hatte R. Steiner mit einem intensiven autodidaktischen Philosophiestudium be*

gönnen und sich zunächst mit Kant, ab 1879 mit Fichte (das Thema seiner Dissertation [1891) lautete:

"Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre’') und in den achtziger und neunziger Jahren mit Schelling, sehr intensiv mit Hegel, der idealistischen Philo- sophie insgesamt, mit Nietzsche und anderen Philosophendes 19. Jahrhunderts beschäftigt und ausein•

andergesetzt, wodurch er für seine eigene Lehre viele Anregungen erfahren und Anknüpfungspunkte gefunden hat.

67 Vgl. R. Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seeli- sehe Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Domach/Schweiz 1981 (1. Aufl.

Berlin 1894); vgl. dazu auch Chr. Lindenberg: Rudolf Steiner mit Selbstzeugnissen und Bilddoku•

menten. a.a.O.. S. 46-56.

Entgegen weitgehender Prognosen auch hochgebildeter Zeitgenossen und trotz eines Ignorierens durch die Universitäten sind Rudolf Steiners Gedanken dennoch zunehmend im Kulturleben nachzu- weisen, vor allem aber auch seine kulturellen Impulse: es sei nur erinnert an die Waldorfpädagogik. die Heilpädagogik, die anthroposophische Medizin und die mit ihr verbundene Heilmittelherstellung, die biologisch-dynamische Landwirtschaft, die Christengemeinschaft. die Eurythmie sowie die anthro- posophische Malerei, Bildhauer* und Schauspielkunst, die weltweite Verbreitung gefunden haben.

Betrachtet man die hier nur sehr kurz und reduziert dargelegten Grundgedanken von Theosophie und Anthroposophie, so kann man die Faszination verstehen, die diese Strömungen auf jene russischen Symbolisten ausübten, die nach höheren geistigen Erkenntnissen und Sphären suchten, in den großen Errungenschaften von Natur- Wissenschaft und Technik keine befriedigenden Antworten fanden und somit den positivistisch-materialistischen Fortschrittsoptimismus d erZ eit anzweifelten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts drangen erste vereinzelte Publikationen der Bla- vackaja nach Rußland, erste kurze Artikel wurden über sie und die Theosophie publiziert68. Erste Arbeitskreise zur Erforschung der Grundlagen der Theosophie bil- deten sich Anfang des Jahrhunderts in Moskau (gegründet von Anna Sergeevna Gon- čarova) und Petersburg (gegründet von Anna A lekseevna Kam enskaja). Am 17.

November 1908 wurde in Petersburg offiziell die "Russische Theosophische Gesell- schaft" gegründet und die erste theosophische Zeitschrift "Вестник теософии" ("Bote der Theosophie") herausgegeben. In Moskau nahmen viele junge Künstler und sym- bolistische Dichter an den theosophischen Vorträgen und Versammlungen im Hause der Kleopatra Petrovna Christoforova teil, darunter A. Belyj und Éllis69.

Éllis wurde wohl 1909 oder 1910 durch K.P. Christoforova und Anna Rudol'fovna Minclova mit den Werken und Vorträgen R. Steiners bekannt und begann sich gleich für Steiner und dessen Lehre zu begeistern70. Gemeinsam m it Boris Grigorov und dem Komponisten Rejngol'd Glier gründete Éllis mehrere Arbeitskreise zur Erfor- schung der Theosophie und der Werke Steiners, an denen vorwiegend "M usaget"- M itarbeiter oder dem symbolistischen Verlag nahestehende Intellektuelle teilnah- men7ï. Er studierte 1910-1911 Steiners W erke, darunter Teile der ״Geheimwissen- schaft" und die "Theosophie72, propagierte den "Steinerismus" in Moskau und em - pfähl die Beschäftigung mit Steiners Werken und Lehre73. Er wandte sich in einem Brief persönlich an Steiner (1910 oder 1911), berichtete darin von dem großen Ein- druck, den die Anthroposophie auf ihn m achte74, und brach schließlich am 18.

Septem ber/1. Oktober 1911 zu Steiner nach Deutschland auf.

Wie immer in Éllis* Leben, vollzog sich auch seine Hinwendung zu Steiner plötz- lieh und unvermittelt. Éllis war eben beständig auf der Suche nach einem geistigen Führer, dem er sich bedingungslos hingeben konnte, und glaubte nun, ihn in Steiner gefunden zu haben. A. Belyj charakterisiert Éllis* plötzliche Hinwendung zu R. Stei- ner folgendermaßen:

68 Unter anderem von VI. Solov’ev: ‘,Recenzija na knigu E.P. Blavackoj «The key to Theosophy»"

und "Zametka о Blavackoj" (in. Sobranie sočinenij. Тош 6. Brjussel' 1966, S. 287-292,394-398).

69 Vgl. V. Fedjuschin: Rußlands Sehnsucht. a.a.O., S. 64—72; M. Carlson: "No Religion higher than Truth״, a.a.O., S. 38-73, 88-104

7(1 *,Влияние Штейнера на меня - всепоглощающее" gesteht er am 9.7.1910 É.K. Metner in einem Brief (PO ГРБ. Ф. 167, карт. 7. ед.хр. 24). S. Bobrov schreibt am 16.2.1911 an Belyj, daß Éllis im Frühjahr 1910 von Steiner erfuhr und sich gleich für ihn zu begeistern begann (Lica. I, 1992, S.

157).

7 * Vgl. V. Fedjuschin: Rußlands Sehnsucht. a.a.O.. S. 99-101; M. Carlson: "No Religion higher than Truth", a.a.O.. S. 98f.

72 Vgl. V. Fedjuschin: Rußlands Sehnsucht. a.a.O., S. 101. Vor seiner Abreise im Sommer 1911 liest Ellis täglich Steiner(vgl. seinen Brief an MI. Sizova. РГАЛИ. Ф. 575. on. 1. ед.хр. 20. Blatt 76);

einer Postkarte von Dmitrij Viktorovič Alekseev vom 21.6.1911 (РГАЛИ. Ф. 575. on. 1. ед.хр. 24) kann entnommen werden, daß Éllis ihm Steiners "Philosophie der Freiheit" besorgt hat.

73 S. Bobrov beschreibt Ellis* "Steinermanie" sehr anschaulich in seinem Brief an Belyj vom 16.2.1911 (Lica. 1, 1992. S. 156Г).

74 Vgl. V. Fedjuschin: Rußlands Sehnsucht. a.a.O.. S. 186-188. Der Brief befindet sich unveröf- fentlicht in der R. Steiner-Nachlaßverwaltung in Domach/Schweiz.

Эллис, натура люцифернческая. всю жизнь несся единым махом; и всегда - перемахивал, никогда не достигал цели в прыжках по жизни; его первый "МАХ": с гимназической скамьи к Карлу Марксу [...] в результате: "УМАХ" к ... Бодлэру и символизму [...] в Бодлэре совершился "УМАХ": от Бодлэра ... к Данте и к толкованию "TEOCO- ФИЧЕСКИХ БЕЗДН", т.е. в Данте совершился новый "УМАХ": от Данте к Штейнеру;

в 11-ом году его снаряжали в путь: без денег, знания языка, опыта; прожив с друзьями, водившими и "мывшими" его в буквальном смысле. - этот "СЛИШКОМ МОСКВИЧ", в Берлине становится "СЛИШКОМ ГЕРМАНЕЦ", сев в первый ряд уютного помещения берлинской ветви на Гайсбургштрассе.75

Zunächst reiste Éllis nach Karlsruhe, wo er vom 4.-14. Oktober Steiners Vortrags- zyklus "Von Jesus zu Christus" hörte76. Anschließend folgte er Steiner nach Stuttgart, wo er am 15. und 16. Oktober die Vorträge anläßlich der Einweihung des neu errich- teten Zweighauses miterlebte, darunter (am 16. Okt.) Steiners Vortrag über das Ver- hältnis von Theosophie und Rosenkreuzertum77. Danach begab er sich - Steiner fol- gend - nach Berlin, wo er in der Motzstraße im Gartenhaus in unm ittelbarer Nähe Steiners ein Quartier fand78.

Ausführliche Berichte über Éllis' (erste) Zeit in Deutschland bei Steiner finden sich in seinen Briefen an Marija I. Sizova79, Natal'ja A. Turgeneva80 und an Ém ilij K.

Metner81.

ln einem seiner ersten Briefe aus Deutschland an M.I. Sizova vom September/Ok- tober 1911 beschreibt Éllis den Lebensrhythmus in Karlsruhe:

Мы живем здесь так дружно и так строго. Вечером лекция, потом в кафе беседа о неважном [это необходимо, иначе ужасно охватывает душу). Утром у фонтана в парке повторяем лекции по записям, по-русски.82

Éllis konnte nämlich noch kein oder nur recht schlecht Deutsch83, ln der ersten Zeit in Berlin unterhielt er sich, wie er schreibt, in einer selbsterfundenen Sprache, einem Gemisch aus deutschen, französischen und russischen Wörtern, symbolischen Gesten und M imik, mit Hilfe derer er schnell und auch ausdauernd über kom plizierteste theosophische Fragen sprechen konnte84.

ln seinen Briefen aus Deutschland äußerte sich Éllis begeistert über Steiner, dessen Vorträge und seine Anhänger. Er schloß gleich ganz Deutschland in sein Herz85. Von Steiner spricht er meist als "доктор" ("Doktor") oder "учитель" ("Lehrer") und sieht in ihm den unfehlbaren Meister, Führer und Lehrer der Menschheit, dem alle folgen

75 A. Belyj: Vospominanija о Štejnere, a.a.O., S. 49.

76 Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA) 131; vgl. dazu G. Wachsmuth: Rudolf Steiners Erdenleben und Wirken. Von der Jahrhundertwende bis zum Tode. Die Geburt der Geisteswissenschaft. Eine Biographie. Domach (Schw eiz)2 1951, S. 180; Chr. Lindenberg: R. Steiner. Eine Chronik. a.a.O.. S.

308.

7 7 G. Wachsmuth: R. Steiners Erdenleben.a.a.O., S. 181ff.; Chr. Lindenberg: R. Steiner. Eine Chro- nik. a.a.O.. S. 309.

78 РГАЛИ. Ф. 575. on. 1. ед.хр. 20 und PO РГБ. Ф. 167, карт. 7. ед.хр. 34.

7 9 Sept 1911-Frühjahr 1912: РГАЛИ. Ф. 575, on. 1. ед.хр. 20.

8 0 Okt. 1911 - Okt. 1912; vgl. D. Rizzi: 1zarchiva N.A.Turgenevoj. Pis'ma Éllisa, A. B elogoi A.A.

Turgenevoj. In: Europa Orientalis. 14,1995,2, S. 295-340; Éllis' Briefe an N. Turgeneva: S. 301-313.

81 PO РГБ, Ф. 167. карт. 7, ед.хр. 32-88 und Ф. 167, карт. 8. ед.хр. 1-28.

82 РГАЛИ. Ф. 575. on. 1, ед.хр. 20, Blatt 82.

83 М. Woloschin: Die grüne Schlange. a.a.O., S. 236; A. Belyj: Vospominanija о Štejnere, a.a.O., S.

49; Briefe von Éllis an Metner vom 22.10.1911 (PO РГБ, Ф. 167, карт. 7. ед.хр. 34) und von Metner an Éllis vom 12.11.1911 (ebd., Ф. 167, карт. 6, ед.хр. 20).

84 Brief an M.I. Sizova vom Sept./Okt. 1911, РГАЛИ. Ф. 575. on. 1. ед.хр. 20. Blatt 87.

85 Hiervon zeugen vor allem die Briefe an Metner, PO РГБ, Ф. 167. карт. 7. ед.хр. 32, 34.

müßten. Er betrachtet Steiner gewissermaßen als Reinkamation C hristi86 und nennt ihn "наш Единственный Мейстер, Апостол и маг"87. Alles um Steiner herum sei weiße Magie88, ln einem Brief an Metner schreibt er über Steiner: "Д-р сильнее всех моих мечтаний и предположений; это действительно маг, рыцарь и Учитель."89

Ēllis bemühte sich, die Moskauer Symbolistenkreise um den "M usagef-V erlag zu

"steinerisieren", d.h., alle M itarbeiter für Steiner und die Anthroposophie zu gewin*

nen. "Musaget" sollte fortan nur Steiners Werke herausbringen und das, was dieser selbst empfehle90.

Immer wieder spricht aus Éllis' Briefen an die Sizova (1911-1912) seine Ent- täuschung über "Musaget" und seine ehemaligen Moskauer Freunde, die sich offen- sichtlich nicht von seiner Steiner-Begeisterung anstecken ließen. Zur Zeit des "Argo- nautenkreises" sei der Moskauer Symbolismus von Einstimmigkeit und Leben erfüllt gewesen, "Musaget" dahingegen stehe nur noch für den untergehenden Symbolismus.

Man müsse seine Seele ganz Steiner hingeben. Aber Moskau, "Musaget" und Rußland überhaupt seien dazu noch nicht bereit. So faßt Éllis den Entschluß, für immer in Deutschland, in Steiners Nähe zu bleiben. Gemeinsam mit M argarita Vološina, die Éllis in der ersten Zeit in Deutschland sehr geholfen hat91 und ihm z.B. die ersten Steiner-Vorträge referierte, als er noch nicht genügend Deutsch konnte, wollte er in Deutschland eine russische Kolonie, d.h. eine russische Gemeinde "im Namen des Doktors" gründen. Um den Doktor sei auch der Geist VI. Solov'evs zu spüren92.

ln der ersten Phase seiner Begeisterung für Steiner war Éllis fest von der Möglich- keit überzeugt, nun endlich die enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen aus der Zeit des "Argonautenkreises" realisieren zu können. Er projizierte also in Steiner und

ln der ersten Phase seiner Begeisterung für Steiner war Éllis fest von der Möglich- keit überzeugt, nun endlich die enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen aus der Zeit des "Argonautenkreises" realisieren zu können. Er projizierte also in Steiner und