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Lev L ’vovič Kobylinskij-Éllis wurde am 2. August 1879 als zweiter der drei unehe ־ liehen Söhne des berühmten russischen Pädagogen Lev Ivanovič Polivanov in Mos- kau geboren. Die M utter dieser drei Söhne war vermutlich Varvara Petrovna Koby- linskaja1. Über Éllis' Kindheit ist so gut wie nichts bekannt, nur daß er und seine bei- den Brüder Il’ja L’vovič (geb. 1876) und Sergej L'vovič (geb. 1882) in Moskau das 7. Gymnasium besuchten, dort das Abitur ablegten und anschließend an der Moskauer Universität studierten: Ēllis an der Juristischen Fakultät (von 1897 bis 1903), II ja und Sergej an der Historisch-Philologischen2. Éllis' Studium wurde zw eim al unterbro- chen: Im März 1899 nahm er an Studentenunruhen teil und wurde deshalb, nach dem 3. Semester, von der Universität verwiesen. Im Juli 1899 wurde er wieder aufgenom- men und hörte nochmals die Vorlesungen des 3. Semesters. In diesem Jahr fand eine Annäherung zwischen ihm und Maksimilian Vol osin statt; letzterer studierte damals ebenfalls an der Juristischen Fakultät3. Anfang April 1900 wurde Éllis erneut rele- giert, da er seine Studiengebühren nicht bezahlt hatte. Ende April 1900 zahlte er und durfte weiterstudieren. Im Sommer 1903 bekam er sein Diplom 1. Grades ausgehän־

d ißl

W ährend seines Jurastudiums bis etwa 1902/03 befaßte sich Éllis m it Ökonomie und der Lehre von Marx. Er war Anhänger des "theoretischen M arxismus"4. 1902 beendete er sein eigentliches Studium und begann unter der Betreuung von Professor 1. Ozerov an einer Dissertation über den bedeutenden russischen Finanz- und W irt- schaftsminister Kankrin zu arbeiten. 1903 brach er aber plötzlich seine Wissenschaft- liehen Studien ab und widmete sich fortan ausschließlich Literatur und Dichtung. Er nannte sich selbst einen "Symbolisten" und "ehem aligen M arxisten5״ . Besonders beschäftigte er sich nun mit Baudelaire und Dante6. Éllis' Jugendansichten sind in seinen Briefen m it dem T itel "Критика радикальной идеи" ("K ritik der radikalen Idee")7 an seinen Mitstudenten Vasilij Grejner* enthalten. Sein oberflächlicher

Radi-1 Zur Mutter der drei Brüder Kobylinskij finden sich in den Universitätsunterlagen im РГИА (Russischen historischen Staatsarchiv, Moskau) nur sehr vage, ungenaue Auskünfte, während der Vater dort überhaupt nicht erwähnt wird (РГИА. Ф. 418. on. 311, ед.хр. 444, 445 und Ф. 418, on. 314.

ед.хр. 377). A. Belyj spricht in seinen Memoiren von einer Varvara Petrovna (vgl. A. Belyj: Načalo veka. Moskva 1990, S. 4 9 f ). Aussagen darüber, daß L.l. Polivanov Éllis' Vater war, finden sich bei M.

Cvetaeva: Plennyj duch. a.a.O.. S. 237, bei A. Cvetaeva: Vospominanija. Moskva 1984, S. 258; bei A.

Belyj: Na nibeže dvueh stolen j. Moskva 1989, S. 204,502; bei Petr Zajcev: Moskovskie vstreči (in:

V.M. Piskunov (Hrsg.): Vospominanija ob A. Belom. Moskva 1995, S. 369) und bei M. Ljunggren:

The Dream o f Rebirth. A Study o f Andrey Bely's Novel "Petertwrg". Stockholm/Sweden 1982, S. 66.

2 Davon zeugen die Universitätsuntertagen im РГИА. Ф. 418. on. 311, ед.хр. 4 4 4 ,4 4 5 und Ф. 418, on. 314. ед.хр. 377.

3 Vgl. den Kommentar von A Lavrov in A. Belyj: Načalo veka. ал.О .. S. 578, sowie: Literatumoe nasledstvo. Valerij Brjusov i ego korrespondenty. Kniga 2-aja. Moskva 1994, S. 376.

4 Vgl. S.S. Grečiškin, A.V. Lavrov: Éllis -poćt-sim volist, teoreti к i kritik, a.a.O., S. 60.

5 Vgl. A. Belyj: Načalo veka, a.a.O., S. 41: ״*).״] уже с 1903 года он (= Éllis) себя называл не иначе как символистом, прибавляя: «Я -б ы в а и й марксист»;

6 Vgl. ebd., S. 40ff.

7 РГАЛИ (Russisches Staatsarchiv fur Literatur und Kunst), Ф. 575. on. 1. ед.хр. 18.

8 Zu Grejner: РГИА, Ф. 418, o a 311, ед.хр. 232.

kalismus in den Jahren der ersten russischen Revolution kann auf sie zurückgeführt werden9.

Ende 1901 oder zu Beginn des Jahres 1902 wurde Éllis durch Sergej Solov’ev mit Andrej Belyj bekannt10. Er wohnte damals zusammen mit seiner M utter und seinem jüngeren Bruder in einem Zim m er eines Hauses in Tušino am Ufer der M oskva11.

Belyj berichtet in seinen M emoiren12 von häufigen Streitereien zwischen Éllis und seinen Angehörigen. Er beschreibt Varvara Petrovna als ebenso leidenschaftlich, mager und blaß wie ihren Sohn. Im Frühjahr 1902 war Belyj oft mit Éllis zusammen, die beiden enthusiastischen jungen Männer freundeten sich an, bald war Éllis häufiger Gast im Hause Bugaev. Belyjs Vater, der bekannte M athematikprofessor Bugaev, schätzte Éllis unter Belyjs Freunden am meisten

ln der Folgezeit überwarf sich Éllis vollständig mit seiner Mutter und seinem Bcu- der und zog (vermutlich Ende 1904 oder 1905) in ein möbliertes Zim m er des Gast- hauses "Don" (Ecke Arbat/Smolenskij rynok)14.

1902/03 gründete Éllis zusammen mit Andrej Belyj den Kreis der "A rgonauten"15.

In diesem Kreis trafen sich von etwa 1903 bis 1906 junge Moskauer Symbolisten, die bestrebt waren, das geistige Leben umzugestalten, und eine apokalyptische W eltan- schauung entwickelten. Éllis, den Belyj als "душою кружка - толкачом-агита- тором, пропагандистом" bezeichnet16, verstand den griechischen Mythos von der Suche der Hellenen nach dem Goldenen Vlies als Symbol für die Suche nach einer geistigen Erneuerung Rußlands17. Belyj formuliert das Anliegen der "Argonauten" in einem Brief an Èmilij K. M etner18 folgendermaßen:

[...] цель экзотерическая - изучение литературы, посвящ<енной> Шопенгауеру и Нициіс. а также их самых; цель эзотерическая - путешествие сквозь Ницше в надеж де отыскать золотое руно (...) Эмилий Карлович - чувствуете Вы. что звучит в этом сочетаний слов, произне сенном в XX столетии русскими студентами - аргонавты сквозь Нищие за золотым руном?? (...) для других это уплывание за черту горизонта.

9 Vgl. S.S. Greči&kin. A.V. Lavrov: Éllis - poćt-simvolist. icoretik i kritik. a.a.O., S. 60.

10 Laut A. Lavrov lernten Éllis und Belyj sich im November 1901 kennen; eine Annäherung zwi- sehen ihnen fand im Frühjahr 1902 statt. (Vgl. hierzu: A.V. Lavrov: Andrej Belyj. Chronologičeskaja kanva żizni i tvorčestva. In: A. Belyj. Problemy tvorčestva. Moskva 1988. S. 776.)

11 Vgl. S I. Taneev: Dnevniki v trech knigach 1894-1909. Kniga 3. Moskva 1985, S. 183.

12 A. Belyj: Načalo veka, a.a.O.. S. 40ff.

13 Vgl. A. Belyj: N arubežedvuchstoletij.a.a.O .S. 60. Zu Belyjs Vater vgl. A. Lavrov: A. Belyj v I900-e gody, a.a.O., S. 22.

14 Vgl. A. Belyj: Načalo veka. a.a.O.. S. 55; M.Cvetaeva: Plennyj duch. a.a.O.. S. 237; A. Cvetaeva:

Vospominanija. a.a.O.. S. 258.

1 •s Laut A. Lavrov (A. Belyj. Chronologičeskaja kanva žizni i tvorčestva, a.a.O., S. 778) fand die eigentliche Gründung dieses Kreises erst im Oktober 1903 statt.

Die "Argonauten" sind in der griechischen Mythologie die Helden, die unter Jasons Führung auf dem Schiff Argo nach Kolchis am Schwarzen Meer fuhren, um das Goldene Vlies nach Griechenland zu holen. Dieses Bild der Argonauten, die auf dem Schiff Argo nachdem Goldenen Vlies suchten, hatte symbolische Bedeutung für die geistigen Bestrebungen der "jüngeren" Symbolisten. Das Goldene Vlies.

"Золотое руно", war zugleich der Name der erwähnten, aufwendig gestalteten symbolistischen Zeit- schrift ( 1906-1909) und eines Verlags in St. Petersburg. Zum "Argonautenkreis" vgl. A.V. Lavrov: Mi- fotvorčestvo "Argonavtov". In: M if-F o lT d o r -Literatura. Leningrad 1978, S. 137-170; Ders.: A. Bely and the Argonauts' Mythmaking. In: 1. Papemo, J.D Grossman (Hrsg.): Creating Life. Stanford. Calif.

1994. S. 83-121 sowie Ders.: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O.. S. 103-148.

*6 A. Belyj: Vospominanija o A.A. Bloke. München 1969, S. 64.

17 Vgl. W. Kasack: Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. a.a.O., S. 294; A.V.

Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 140.

| א Zu Ē.K. Metner vgl. M. Ljunggren: The Russian Mephisto. A Study o f the Life and Work o f Emilii Medtner. Stockholm 1994.

которое я хочу предпринять, будет казаться гибелью, но пусть знают и то. что в то время когда парус утонет за горизонтом для взора береговых жителей, он все еще продолжает бороться с волнами, плывя ... к неведомому богу ...19

Diese m etaphem reiche Sprache Belyjs und die von ihm verwendeten Bilder sind typisch für die sogenannten "jüngeren" Symbolisten, die sich im "Argonautenkreis"

zusammenfanden und die Realwelt, den Alltag zu überwinden und zu durchbrechen suchten.

Als wichtige verbindende Motive bei der Bildung der "Argonautengemeinschaft"

können gelten: das W ahrnehmen des "Endes des Jahrhunderts" und das Gefühl der

"Grenze", hinter der sich "alles Neue" eröffnen werde und die es zu überwinden gelte20. Der stilisierte Mittelalterkult der englischen Präraffaeliten beeinflußte den

"Argonautenkreis" maßgeblich21.

"Жизнетворчество", also "Leben erschaffen", wurde als Hauptaufgabe der "Ar- gonauten" proklamiert. Dadurch erwuchs in ihrem Kreis das kollektive Bestreben zur Mythologisierung des alltäglichen Daseins, der menschlichen Beziehungen, des künst- lerischen Schaffens22. Kunst (дар писать) und Leben (дар ж ить) waren faktisch gleichwertig23.

Der A lltag bot den "Argonauten", die sich als p ra k tisc h e Symbolisten, als "The- urgen" verstanden, reiches Material für die Schaffung ihrer Mythen. Das Leben stellte sich ihnen dar als Text, der voller Zeichen, Andeutungen und Allegorien ist und ein tiefes Erfassen und Verstehen erfordert24. Sie hatten ständig Schreckerlebnisse -

"сначала мистические, потом психические и, наконец, реальны е"25. Das heißt, zum Beispiel ein Spaziergang von einem Ende Moskaus zum anderen, der sich entschieden durch nichts Außergewöhnliches auszeichnete, erhielt einen sakralen Sinn und kündete von mystischen Bedrohungen und Versuchungen26. Aleksej Petrovskij erlebte auf einem Abendspaziergang durch Moskau den Mond beispielsw eise fol- gendermaßen:

Болес отвратительного животного, чем какое я видел на небе в 7 часов вечера 25 авг|уста]. я никогда не видал [...] Громадная, мутная, как промасленный лист бумаги, зеле•

но-желтая (я избегаю более точных эпитетов, которые верпггся у меня в голове, чтобы ... "гусей не раздразнить”) луна поднималась на ужас земнородным, предвещая, по мень־

шей мере, какую-нибудь из казней египетских, чуму и т.п. [...] Атмосфера, липкая, удуш­

9ו Brief vom 26. März 1903, PO РГБ (Handschriftenabteilung der Russischen Staatsbibliothek), Ф 167. карт. 1, ед.хр. 12; zitien nach A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 141.

20 Vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 137.

2 י Darauf weist z.B. W. Potthoff: Dante in Rußland. a.a.O., wiederholt hin.

Die Fin de siècle-Stimmung der Präraffaeliten ist deutlich gegen den Positivismus gerichtet: Die Zukunft wird als etwas Unbekanntes, Bedrohliches. Nichtverstehbares aufgefaßt, als ein großes bevor- stehendes Ereignis. Fin de siècle-Stimmung kann - so gesehen - als strukturelle Entsprechung zum mittelalterlichen Chiliasmusverstanden werden.

22 Vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 137.

23 Hierfür ist Ēllis mit Sicherheit ein gutes Beispiel, der durch seinen Lebensstil als Symbolist unter seinen Zeitgenossen eine bedeutend größere Rolle spielte, als es sein hinterlassenes literarisches Werk der Nachwelt vermitteln kann.

24 Vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O.. S. 145.

Allerdings haben die "Argonauten** selbst sich nicht derartiger semiotischer Termini bedient. (Diese Terminologie hat A. Lavrov von Z. Mine übernommen, vgl. A. Lavrov: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O., S. 107, Anm. 117.)

25 So schreibt A. Belyj in der ersten Maihälfte 1904 in einem Brief an É.K. Meiner (zitiert nach A.V.

Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 146).

26 Das ist besonders stark bei Ēllis und auch bei Belyj ausgeprägt und wird ausführlich in Belyjs Memoiren beschrieben.

ливая. была насыщена злокачественным туманом и дрянными испарениями Цветного бульвара. Желто-шарф аннъгй закат довершал картину. Мне нужно было пройти на Сре- тенку. и я ясно почувствовал, что несдобровать; - и действительно захворал бессоннцей и проч.; (27[.״

Übergangserscheinungen in der Natur, etwa Sonnenauf- und -Untergang, wurden also als Zeichen für globale Veränderungen im Weltschicksal betrachtet. Aber nicht nur in den Naturphänomenen erkannten die Argonauten die Konturen ihres Mythos, sondern auch in den wesentlichen Episoden des Neuen Testaments, vor allem in der Apoka- lypse28.

Der Tod bedeutete für die *,Argonauten" nicht etwas Schreckliches, wurde nicht als Ende erlebt, sondern als Voraussetzung für die Auferstehung, als Überschreiten der Horizontlinie zur "Argonauten-Sonne"29.

Die "Argonauten" suchten nach Formen der Überwindung des Alltags. Eine Mög- lichkeit des Durchbrechens der Realwelt waren beispielsweise Harlekinaden. Das er- klärt viele Narreteien, Possen, Eskapaden und sonstige Absonderlichkeiten der Mos- kauer Symbolisten, an denen Éllis und auch Belyj regen Anteil hatten30.

Bloks frühe Lyrik wurde von den "Argonauten" tief verehrt, und er selbst stand ihnen anfangs recht nahe. Belyjs Frühwerk, seine "Sinfonien"31 und theoretischen Schriften, sind Produkt der ״Argonautenphase"32.

Die ״ A rgonautentreffen״ fanden ab April 1903 sonntags bei Belyj in dessen Wohnung statt, und es ging dort meist recht turbulent und lebhaft zu, wozu die Brüder Kobylinskij (É llis und Sergej) mit ihren hitzigen G em ütern und ihrem aufbrausenden Temperament nicht unmaßgeblich beitrugen33. Neben Belyj und den Brüdern Kobylinskij nahmen an den ״Argonautentreffen" Sergej Solov’ev, Michail Értei*, Pavel Batjuškov, Vasilij Vladimirov, Nina Petrovskaja, Vladimir N ilender, Konstantin Bal'mont, Valerij Bijusov, Jurgis Baltrušajtis, Maksimilian Vološin, Ser- gej I. Taneev, Nikołaj Metner, Pavel Astrov, Vjačeslav Ivanov (wenn er in Moskau

27 So A.S. Petrovskij am 27.8.1903 in einem Brief an A. Belyj (zitiert nach A.V. Lavrov: Mifo- tvorčestvo "Argonavtov". a.a.O., S. 146).

28 Vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov". a.a.O.. S. 147; Ders.: A. Belyj v 1900-e gody.

a.a.O.. S 120

29 Vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O.. S. 162. Die Suche nach dem Goldenen Vlies wird mit dem Streben zur Sonne verglichen. (Siehe hierzu auch A. Belyjs Gedicht "Золотое руно" in: Ders.: Zoloto v lazuri. Moskva 1904. S. 8f.) Die ,,Argonauten" träumten davon, mit ihrem Sonnenschiff ,,Argo" zur Sonne zu fliegen (vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S.

143ff ). Zum Sonnenmythos der "Argonauten" vgl. auch A. Lavrov: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O., S.

115-118. Ein besonders beliebter Aufenthaltsort für die ,,Argonauten" waren die Gräber auf dem Fried- hof des Neujungfrauenklosters (Новодевичий Монастырь) in Moskau (vgl. ebd., S. I36f ).

30 Vgl. hierzu auch A. Lavrov: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O., S. 137-140.

31 Bei Belyjs "Sinfonien" handelt es sich um lyrisch gestimmte Dichtungen, in denen der Gattungs- Charakter aufgelöst ist und der Versuch einer Verschmelzung von D ichtung und Musik unternom m en wird. Sic bestehen größtenteils aus rhythmischer Prosa, enthalten aber auch Gedichte. Vgl. hierzu auch A. Kovač: Andrej Belyj: The Symphonies (1899-1908). Frankfurt/M. u.a. 1976.

32 Vgl. A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 151. Belyjs Frühwerk wird ausführ- lieh in A. Lavrovs Monographie "A. Belyj v 1900-e gody" charakterisiert und analysiert.

3 3 Vgl. dazu A. Belyj: Načalo veka. a.a.O.. S. 258ff.

Éllis' Bruder Sergej befaBte sich mit Philosophie, vor allem mit R.H. Lotze. über den er eine Arbeit schrieb (vgl. A. Belyj: Načalo veka. a.a.O., S. 294), aber z.B. auch mit Schopenhauer (vgl. seinen Beitrag "UČenie Šopengauera о prekrasnom" in: Svobodnaja sovest* II. Moskva 1906, S. 245-267). Be- lyj beschreibt ihn als "очень болтливый философ, умеющий заговаривать собеседника до смерти"

(A. Belyj: Vospominanija о Bloke. a.a.O., S. 104).

weilte) und viele andere, heute gänzlich vergessene und unbekannte literatur- und kulturbegeisterte Zeitgenossen teil34.

Ëllis befaßte sich damals intensiv mit Dante, Nietzsche und dem belgischen und französischen Symbolismus, vor allem mit Ch. Baudelaire. Durch seine Ubersetzun- gen aus der neueren französischen und belgischen Literatur (bereits ab 1903 und in verstärktem Maße 1904) wirkte er als M ittler des französischen und belgischen Sym- bolismus nach Rußland.

Ab 1903 begann er, aktiv am literarischen und kulturellen Leben Moskaus teilzu- nehmen. Neben dem ,,Argonautenkreis" organisierte er ab 1904 literarisch-kulturelle Abende, die gewöhnlich mittwochs in der Wohnung Pavel Astrovs stattfanden (die sogenannten "астровские среды") und allmählich die "Argonautentreffen" bei Belyj ablösten35. Dort hielt er u.a. zwei Vorträge über Dante36. Außerdem w ar er, wohl auch ab 1904, häufiger Gast bei Sergej Taneev, der den Symbolisten nahestand und oft an ihren Dichterlesungen teilnahm. Taneev veranstaltete in seinem Hause regel- mäßig literarisch-musikalische Abende (meist dienstags, die sogenannten "вторни- ки"), an denen Éllis zusammen mit Belyj, Batjuškov, Értei' und S. Solov'ev häufig teilnahm und dort seine Gedichte und neuesten Gedichtübersetzungen vortrug37. An einem dieser Abende schrieb Taneev spontan eine Romanze zu Éllis* Übersetzung aus L. Stecchetti "Когда, кружась, осенние листы" ("Wenn, kreisend, die Herbstblät- ter", publiziert im 2. Teil von Éllis' Werk "Иммортели" ["Die Unsterblichen”]). Die anwesende Sängerin Marija Dejša-Sionickaja beschreibt die Entstehung dieser Ro- manze in ihren Memoiren:

Эго было во вторник 15-го февраля 1905 г. Мы по обыкновению музыцировали. Гово- рили. между прочим, о разных романсах с удобным и неудобным текстом. Кобылинский- Эллис сказал, что у него есть хороший текст для романса и продекламировал нам "Когда, кружась, осенние листы". Сергею Ивановичу понравились эти стихи. Он нашел их л ег־

кими. звучными и сказал, что на такие стихи можно быстро написать музыку. Мы иіутя спросили, можно ли написать в несколько часов, он нам ответил: "Не часов, а минут.

Хотите, я сделаю это сейчас же. не более как в 4 0 -5 0 минут?". Нас это страшно заинте- ресовало. и мы обещали сейчас же спеть романс, как только Танеев его напишет. Сергей Иванович ушел в свою спальню и минут через 25-30 принес нам романс.38

Einige Jahre später, vom 5.-17. August 1908, schrieb Taneev zehn weitere Romanzen auf Gedichtübersetzungen von Éllis aus dem Band "Иммортели" (für eine Singstim- me mit Klavierbegleitung), die im Januar bzw. Februar 1909 auf geführt wurden.

Die anfängliche Begeisterung der "Argonauten", die auf eine Umgestaltung der Welt hofften und zunächst freudig an die Verwirklichung ihrer theurgischen Sehn- süchte und Bestrebungen glaubten, wurde jedoch bald durch die unausweichlichen Realia des Alltags enttäuscht39. Einen guten Eindruck über die Stimmung, in der sich Éllis zu jener Zeit befand, gibt sein "Tagebuch", das er im Sommer 1905 schrieb, als er mit seiner Mutter und seinem Bruder Sergej in Alupka auf der Krim (in der Nähe

34 Vgl. A. Belyj: NaČalo veka, a.a.O., S. 293f.

35 Vgl. A. Lavrov: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O.. S. 127.

36 Vgl. A. Belyj: Im Zeichen der Morgenröte. Erinnerungen an A. Blok. Basel, 1974, S. 158; A.

Belyj: Načaloveka. a.a.O., S. 392-398; A. Lavrov: MifotvorCestvo "Argonavtov", a.a.O., S. I49f.;

Ders.: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O., S. 127.

37 Vgl. hierzu S.l. Taneev: Dnevniki v trech knigach. 1894-1909. Moskva 1981-1985 und S.l. Ta- neev: Materiały i dokumenty. Tom 1 : Perepiska i vospominanija. Moskva 1952.

38 M. Dejša-Sionickaja: Vospominanija о Sergee IvanoviCe Taneeve. ln: S. Taneev: Materiały i dokumenty, a.a.O., S. 330.

39 Vgl. hierzu auch A. Lavrov: MifotvorCestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 154.

von Jalta) auf einer Datscha lebte40. Éllis befand sich in diesem Sommer in einer Krisenstimmung, die wohl - zusätzlich zur Enttäuschung über die Nichtrealisier- barkeit der "Argonauten״־ldeale - vor allem durch eine unglückliche Liebesge- schichte mit einer gewissen "N..." hervorgerufen worden war (bereits seine zweite unglückliche Liebe, wie er schreibt). Auch später wurden seine Hoffnungen auf eine Familie immer wieder enttäuscht; die ideale Frau und M utter für seine Kinder, die ihm vorschwebte, fand er nicht, ln seinen Briefen an Marija I. Sizova betont er je - doch, daß er in einigen Frauen das Idealbild einer "geistigen Schwester" und beinahe eines Engels gefunden habe, so z.B. auch in ihr41.

Die recht wirr und konfus anmutenden Tagebuchaufzeichnungen lassen Éllis als einsames, entwurzeltes Individuum erscheinen, das die bestehende gesellschaftliche Ordnung und ihre Vertreter als unerträglich banal ablehnt, ihr gleichzeitig aber keine positiven Ideale entgegenstellen kann und sich krank, verzw eifelt, dem W ahnsinn nahe fühlt. Ein exemplarisches Textbeispiel mag genügen, um Éllis* Stil und die Dar- stellungsart in seinem "Tagebuch" vorzuführen:

Боже! Дай мне терпения переносить банальность разговоров и не сойти с ума раньше срока.

Воспоминания прошлых бед. ужасов, падений, оскорблений и душевных пыток - мой вампир, боль ...

Но и в этом есть доля блага, ибо в этом заключается несомненное доказательство иной реальности, царства мечты.

Моя болезнь - болезнь в(Х)бражения. но это далеко не значит, что это - воображенная болезнь.

Кто. хоть раз. взглянул из времени в вечность, не вернется назад, он или всё. или ничто, либо победил хаос, либо погиб навсегда!42

Éllis empfindet das ganze Jahr 1905 als Qual und beklagt den unwiederbringlichen Verlust seiner Kindheit, die für ihn ein Märchen gewesen sei43. Neben Reflexionen über verschiedene Arten der Liebe äußert er in seinem "Tagebuch" vor allem Gedan- ken über große Gestalten der W eltliteratur (Dante, Shakespeare, M ilton, Byron, Wilde, Baudelaire, Maupassant. R au b en u.a.), in deren Werken er, außer bei Dante, jedoch nur Negation und Pessimismus findet. Die äußere Welt in ihrer Unvollkom- menheit kann ihm keine Befriedigung bieten, obwohl er sich verpflichtet fühlt, sie zu lieben: "Я люблю мир, ибо он отблеск венного. Я не люблю его, ибо он от блеск вечного", heißt es in seinem "Tagebuch"44. Das Durchscheinen des Ewigen befrie- digt, enttäuscht jedoch zugleich, weil es nur Abbild. Spiegelung, aber nicht das E w i­

4 0 PO РГБ. Ф. 167. карг. 10. ед.хр. 16.

41 РГАЛИ. Ф. 575. on. 1. ед.хр. 20 und 44

Die Beziehung zwischen Marija I. Sizova und Éllis bzw. die Art. wie Éllis diese stilisierend cha- rakterisiert. eiinnen stark an das Mythenschaffen der "Argonauten": man denke etwa an den Kult um Bloks Frau Ljubov' Dmitrievna im "Argonautenkreis" (vgl. hierzu auch die bekannte Fotografie von 1904 |z.B. in: A. Belyj: Meždu dvueh revoljucij. Moskva 1990. nach S. 224]: Belyj und S. Solov'ev sitzen an einem Tisch, auf dem eine Bibel liegt und je ein Foto von L.D. Blok und VI. Solov’ev stehen (vgl. auch A. Lavrov: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O.. S. 196|) sowie an Belyjs mystisches Verhältnis zu Margarita K. Morozova, die er als Symbol erkannt zu haben meinte und für seine "Geistesschwester'' ("сестра в духе") hielt. Er schrieb ihr Briefe, die er mit "Ваш рыцарь” ('ihr Ritter") unterschrieb, ohne dati er die Morozova persönlich kannte oder diese wußte, wer der Autor dieser Briefe war. (Vgl. A.

Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 158f., 164ff. sowie Ders.: A. Belyj v 1900־e gody, a.a.O., S. 66f., 83f., I23f., 133, 141-143.)

42 PO РГБ, Ф. 167, карг. 10. ед.хр. 16, Blatt 20 и. Rückseite.

43 Éllis vertritt hier die romantische Auffassung von der Kindheit als naivem Zustand der Reinheit und Geborgenheit.

44 Ebd.. Rückseite Blatt 8.

ge selbst in seiner Wesenhaftigkeit ist45. Éllis* Versuche, hinter die Grenzen des Rea- len zu gelangen, Eingang in übersinnliche, transzendente Welten zu finden, in denen er eine Überwindung der Banalität des Alltags sucht, schlagen jedoch fehl. Es wird deutlich, daß er sich, wenn auch unbewußt, nicht von der Methode der positivisti- sehen Beweisführung lösen kann, die sein Jura- und Wirtschaftsstudium geprägt hatte.

Das zeigt sich - sowohl in seinen Aufzeichnungen und Briefen als auch in seinen Werken - in seinem Hang zur Kategorisierung und seiner Vorliebe für Schemata, ln seinem ,,Tagebuch" findet sich bereits die wesentliche Formel, die Éllis' ganzes Leben bestimmt und seinen Fanatismus, seine Neigung zu Extremen erklärt: "всё или ниче- го"46. Vergebens sucht er nach unbestreitbaren Wahrheiten, festen Normen und Wer- ten einer metaphysischen Ewigkeit.

Die innere Zerrissenheit und der Dualismus, die deutlich aus Éllis* Zeilen sprechen, sind zugleich kennzeichnend für die übersensible Wahmehmungsgabe vieler Symbo- listen; somit stellt dieses "Tagebuch" ein wichtiges Zeitzeugnis dar. Bereits hier deu- tet sich allerdings der Konflikt zwischen den Ansichten des im Grunde starren, fest- gefahrenen Dogmatikers Éllis und der Dynamik, Kreativität und Offenheit des Sym- bolism us an, der fortan Éllis' Leben und W erk beherrschen wird und ihn konse- quenterweise zum Bruch mit dem Symbolismus und allen modernistischen litera- rischen und geistesgeschichtlichen Strömungen führen muß.

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Ab 1906 widmete sich Ellis verstärkt literarischen Aktivitäten. Neben seinen Uber- Setzungen begann er, eigene Gedichte sowie Rezensionen und Aufsätze zu schreiben.

Außerdem organisierte er die zwei literarisch-philosophischen Sammelbände "Сво- бодная совесть" ("Freies Gewissen"), die das Produkt der "Argonautentreffen" im Zirkel bei Pavel Astrov sind; allerdings wurden sie kein allzu großer Erfolg und zeu- gen gewissermaßen vom Ende der "Argonautenphasc"47.

1906/1907 kam es zu einer Annäherung zwischen Valerij Brjusov und É llis im

"Общество свободной эстетики" ("Gesellschaft für freie Ästhetik")48, an dem beide aktiv teilnahm en und Vorträge hielten. Ellis las dort seine neuesten Gedichte vor.

4-s Der Terminus "отблеск" ("Abglanz" ).der auch bei anderen Symbolisten vorkommt (z.B. bei B e- lyj; vgl. A. Lavrov: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O., S. 121) gehl auf VI. Solov'ev zurück, vgl. dessen Gedicht: "Милый друг, иль ты не видишь. / Что все видимое нами - / Только отблеск, только тени / От не зримого очами? [...]" (in: VI. Solov'ev: Čtenija о Bogočelovečestve. Stat’i. Stichotvoreni- ja i poèma. Iz 'Trech razgovorov". Sankt-Peterburg 1994, S. 390); zu diesem Terminus und seiner Be- deutung im russischen Symbolismus vgl. A. Hansen-Love: Der russische Symbolismus, a.a.O., S. 253-267.

4 6 PO РГБ, Ф. 167. карт. 10. ед.хр. 16. Rückseite Blatt 13.

47 Vgl. hierzu A. Bloks Rezensionen der beiden Sammelbände "Свободная совесть", abgedruckt in A. Blok: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. Tom 5. Moskva־Lenmgrad 1962, S.606-611 und 6 2 9 - 633. A. Belyj spricht in seinen Memoiren vom "тупейший, ничтожнейший сборник «Свободная совесть»" (Načalo veka. a.a.O., S. 509).

Die von Ellis geplanten Sammelbände "Argo" (1906) blieben ein unrealisiertes Projekt (vgl. hierzu A.V. Lavrov: Mifotvorčestvo "Argonavtov", a.a.O., S. 150 sowie Ders.: A. Belyj v 1900-e gody, a.a.O., S. 127f.).

4 א Das "Общество свободной эстетики" existierte von 1906/1907 bis 1917 (laut A. Lavrov IBrjusov i Ëllis. In: Brjusovskie čtenija 1973 goda. Erevan 1976, S. 222) wurde es im Herbst 1906 ge- gründet; L.O. Pasternak IZapisi raźnych let. Moskva 1975, S. 2261 und der Kommentar in N.K. Metner:

Pisma I Moskva 1973, S. 99, 118| nennen 1907 als Gnindungsjahr) und veranstaltete Kunstausstellun- gen. Konzerte. Dichterlesungen und Vorträge über Kunst, Musik und Literatur, an denen neben Éllis.

Brjusov, Belyj, Balmont. Vjač. Ivanov, Vološin u.a. auch die den Symbolisten nahestehenden Vertreter

Brjusov, Belyj, Balmont. Vjač. Ivanov, Vološin u.a. auch die den Symbolisten nahestehenden Vertreter