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Einwände und Probleme

Wir haben unseren Ansatz vielen Kolleginnen und Kollegen aus Schule und Hochschule vorgestellt. Die Reaktion war durchweg positiv. Doch gab es durch-aus auch einzelne Einwände.

9.1 „Das kostet leider zu viel Zeit.“

Hierbei wird übersehen, daß das Variieren dem sonstigen Unterricht nicht ein-fach nur hinzugefügt wird, sondern diesen höchst positiv anregt. Variieren hat manchmal einführenden, häufig wiederholenden, immer aber übenden Charak-ter. „Übungen unter immer wieder neuen Gesichtspunkten, an immer wieder an-derem Material, in immer wieder neuen Zusammenhängen, anderen Anwendun-gen, unter immer wieder neuen, größeren Aufgaben - darin steckt das Geheimnis des Übens.“ (Roth 1976) S. dazu auch Anhang 61.

9.2 „Das ist nicht neu! Ein erfahrener Lehrer hat immer schon variiert.“

Sicher richtig. Aber: Es war eben der Lehrer, der - aus unterschiedlichen Grün-den - gewisse Varianten einer Ausgangskonstellation in seine Planung aufnahm.

Seine Schüler durften diese Varianten lediglich lösen, womit sie auf diese schließlich doch wie linear gefügte Aufgaben wirkten.

Für unsere Projektintention genügt das nicht. Ganz entscheidend ist hier, wer die Variationen komponiert, wer dazu hilfreiche Strategien verwendet und wer die gesammelten Anstöße und Fragen bewertet, strukturiert und selektiert. Und daß für die Schülerinnen und Schüler die Chance besteht, sich mitten im Normalcur-riculum via Selbstregulation ein kleines Forschungsfeld einzurichten.

Das unterscheidet unsere Bemühungen denn auch von Anregungen, wie sie in der mathematikdidaktischen Literatur nachzulesen sind, z.B. vom Denken in Aufgabenfamilien (s. Walsch 1995) oder vom Prinzip der operativen

Durchdrin-gung einer Unterrichtseinheit (s. etwa Fricke 1969, Kothe 1977, Wieker 1999) oder vom Prinzip des funktionalen Denkens beim ganzheitlichen Betrachten ei-ner Sachaufgabe (s. Karaschewski 1962, der ausdrücklich von Zahlvariablen und Phänomenalvariablen (bei Variation des Kontextes) spricht und ihre Be-deutung für das Verständnis der Aufgabe selbst und ihrer Lösung heraus-streicht1, aber die „Rhythmik“ solchen Variierens ausschließlich dem Lehrer überträgt). Mehr Gemeinsamkeiten gibt es schon mit dem in Japan entwickelten

„Open-Ended-Approach“ (s. Becker; Shimada 1993), insbesondere was das Öff-nen eines Aktivitätsfeldes und die recht freie Beweglichkeit darin betrifft. Indes-sen wird das Öffnen auch hier vorgegeben, nämlich durch die offene Ausgangs-frage. Am nächsten stehen unserem Ansatz, der ganz bewußt von Schülerfragen ausgeht, zweifellos die Arbeiten von Weth (s. Weth 1999) zur kreativen Be-griffsbildung.

9.3 „Das Variieren betont allzu sehr die spielerische Seite der Mathematik. Ihre weltaufschließende Funktion kommt zu kurz.“

Hierzu wird noch einmal auf die Anlagen 4, 5, 6, 9, 19, 41 und 61 (sowie auf Böhmer 2000) verwiesen. Sie stehen für die Tatsache, daß zur Variation jeder Textaufgabe selbstverständlich auch adäquate (nachbessernde, erweiternde, pro-blematisierende, aktualisierende) Änderungen der Ausgangssituation gehören.

Darüber hinaus kann eine Veränderung auch dadurch bewirkt werden, daß man für eine innermathematische Beziehung eine situative Einbettung sucht (s. 7.11).

Klar ist indessen, daß bei der Variation von Anwendungsaufgaben die „What-else“-Hilfsstrategie zurücktritt. Nun sind Variationen gefragt, die im gegebenen Kontext sinnvoll bleiben; oder aber solche, die zu einer anderen, aber struktur-gleichen Situation führen. Dazu ist neben mathematischen Fertigkeiten und Fä-higkeiten stets auch „Sach“verstand erforderlich (wie schon bei der Antwort auf die Ausgangsfrage).

9.4 „Das unbeschränkte Sammeln von möglichen Variationen birgt die Gefahr der Beliebigkeit.“

Ein Kollege hielt unseren Ansatz gar für typisch postmodern: Anything goes.

Und mehrere Kollegen meinten, die Schüler würden sich ein Gaudium daraus machen, die neueste Marotte ihres Lehrers mit mehr oder minder unsinnigen Vorschlägen zu befriedigen.

Tatsächlich haben wir bei unseren Erprobungen solche Entgleisungen kein ein-ziges Mal erlebt. Im Gegenteil: Die betroffenen Schülerinnen und Schüler waren in sämtlichen Phasen einer Variation (s.

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) mit Ernst und Eifer dabei. Nachträg-liche Befragungen (s. etwa die Anlagen 61 und 62) ergaben, daß sie diese für sie neue Form des Mathematiktreibens nicht nur akzeptieren, sondern begrüßen,

1 S. dazu das Zitat auf der Titelseite.

auch wenn sie durchaus sehen, daß sie recht anspruchsvoll sein kann.

Zur Beliebigkeit: Dieser Einwand wäre vielleicht berechtigt, wenn man über die

„What-else“-Strategie nicht hinauskäme. Diese soll jedoch dem gezielten Ein-satz von Grundstrategien allmählich weichen. Und weiter: Es ist doch gerade die anfängliche Unordnung und unterschiedliche Qualität der Sammelstücke, die dazu auffordert, sie zu vergleichen, einzuschätzen, teilweise auch abzulehnen, zurückzustellen, einige zu bevorzugen, anzugehen, und nicht zuletzt auch die benutzten Strategien offenzulegen. „Denken als Ordnen des Tuns“ (Aebli 1980/81) (und „Nachdenken als Ordnen des Denkens“) sollten wir endlich ernstnehmen. Nicht das Variieren allein, erst die zugehörigen kognitiven, heuri-stischen und metakognitiven Aktivitäten (s.

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7) rechtfertigen die investierte Zeit.

BLK 1997, S.13: „Teil einer zukunftsfähigen Allgemeinbildung sind ... Fähig-keiten der Selbstorganisation und Selbstregulation des Lernens einschließlich der Bereitschaft, selbständig weiterzulernen ... . Das Konzept der metakogniti-ven Kompetenzen und Lernstrategien ... schließt insbesondere jene Erwerbs-und metakognitiven Überwachungsstrategien ein, die auf ein tiefes Verstehen des Gelernten zielen.“

In der „Zeit“ vom 8.10.1998 schreiben U. J .Heuser und G. v. Randow in ihrem Artikel „So kommt Neues in die Welt - Deutschland muß wieder lernen zu ler-nen. Eine Einladung zum schöpferischen Vergnügen.“: „Im Reformmodus zu sein bedeutet die Lust daran die Dinge aus der Perspektive anderer Menschen zu sehen. Nur so kommt es zum Vergleich der Ideen und zum Wettbewerb der Konzepte. Prinzipienreiter nennen das Beliebigkeit; das Gegenteil trifft zu -schließlich soll ja ein gemeinsames Konzept der Beteiligten herauskommen, noch eines dazu, das Bestand hat, wenn es jemand scharf ansieht.“

Neben diesen Einwänden, denen wir entgegnen können, gab es allerdings auch kritische Bemerkungen, die auf Probleme hinweisen, wie sie sich im Verlaufe unserer nun vierjährigen Planungen und Erprobungen tatsächlich ergeben haben.

9.5 Wenn Variationen mittel- und langfristig von den Schülern als ernsthafte Mathematik akzeptiert werden sollen, müssen sie auch eingebunden werden in die üblichen Formen der schulischen Leistungsüberprüfung, insbesondere in Klassenarbeiten. Wie soll das geschehen? Insbesondere: Wie sind solche Varia-tionen und der Umgang mit ihnen zu bewerten? Welche Rolle spielen dabei An-zahl und Art der Variationen sowie der Lösungsversuche? Wie sollen unsinnige oder banale Varianten ins Gewicht fallen?

Mit Becker; Shimada 1993 meinen wir, daß die Kriterien „fluency“ (hier: Wie viele Variationen legt ein Schüler, eine Schülerin vor?), „flexibility“ (Wie viele unter ihnen sind wesentlich verschieden?) und „originality“ (Welche führen ex-plizit zu neuen Einsichten?) wichtige Beurteilungskriterien sind. Und wissen, daß sie bei Routineaufgaben gar nicht erst abgeprüft werden können.

Eine bereits vorliegende Staatsexamensarbeit (Focke 2000) vergibt für das Va-riieren in einer Klassenarbeit 10% der erreichbaren Punkte, wobei sowohl die Anzahl als auch die Qualität der Varianten sowie die zugehörigen Lösungsskiz-zen eingerechnet wurden. Die Schülerinnen und Schüler (einer 10.Klasse) hatten zu dieser für sie völlig neuen Überprüfung keine Einwände und dieser Teil der Arbeit fiel denn auch keineswegs ab.

Leichter ist es, Variationsleistungen in mündliche Noten zu integrieren. Auch von daher wäre es wünschenswert, daß diese ein größeres Gewicht bekommen.

9.6

Es liegen uns bereits zahlreiche Erfahrungsberichte über einmalige Varia-tionen vor. Noch einmal: Sie sind höchst ermutigend. Der so wichtige Übergang von „What-else“ zu heuristischen Grundstrategien kann jedoch nur gelingen, wenn in einer Lerngruppe häufiger variiert und schließlich auch über das Variie-ren selbst nachgedacht wird. Das ist bisher noch zu selten geschehen. Insofern läßt sich gegenwärtig noch wenig sagen zu den mittel- und langfristigen Wir-kungen des unterrichtlichen Variierens.

Die hier und in

9.5

angesprochenen Probleme haben wir uns mit unserem An-satz keineswegs erst eingehandelt. Anspruchsvolle Leistungen zu messen und langfristige Wirkungen zu erzielen (s. dazu Bambach 1996 bzw. Vollrath 1995) gehört zu den ebenso wichtigen wie schwierigen pädagogischen Grundaufgaben, mit denen sich jeder Unterricht befassen muß (oder doch sollte).

9.7 Daß unsere bisherigen Unterrichtserfahrungen noch nicht genügend reprä-sentativ sind, hängt damit zusammen, daß diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die sich zur erprobenden Mitarbeit entschlossen haben, einstweilen nicht so vor-ankommen, wie sie und wir gedacht hatten.

Das liegt einmal an den zahlreichen und sich leider ständig verstärkenden, fast immer innovationshemmenden Regularien bzw. Beeinträchtigungen des Schul-alltags (z.B. den übervollen und rigiden Lehrplänen) und der daraus erwachsen-den Zeitnot. Es liegt aber auch an einer gewissen Scheu mancher Kolleginnen und Kollegen, sich in diese für sie neue Unterrichtssituation hineinzubegeben, die nicht im traditionellen Sinne planbar ist, zahlreiche ad-hoc-Entscheidungen erfordert und vor allem das gewohnte Lehrer-Schüler-Verhältnis mit seinen ein-geübten Verhaltensmustern sowie die für unbedingt notwendig gehaltene Fähig-keit der Lehrperson zur sofortigen Meisterung aller auftretenden Fachprobleme (dies eine Besonderheit der Mathematiklehrersozialisation) in nicht geringem Maße zur Disposition stellt.

Was kann man dagegen tun?

Wir bieten an, daß Mitglieder des Projektstabes mit einer Lerngruppe vor Ort variieren. Dieses Angebot wird leider selten genutzt, hat aber (mit einer Aus-nahme, die auf einer äußerst ungünstigen Klassensituation beruhte) stets be-fruchtende Wirkung gehabt. So mancher Kollege hat seine Klasse kaum

wieder-erkannt.

Weiterhin sind wir der Überzeugung, daß die „Aufgabenvariation“ zum selbst-verständlichen didaktisch-methodischen Rüstzeug eines Mathematiklehrers ge-hört und daher schon in dessen Ausbildung einen festen Platz einnehmen sollte.

Deshalb arbeiten wir mit mehreren Studienseminaren zusammen und lassen längst auch unsere Lehramtskandidaten in deren Übungsstunden variieren (s.

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).

In zahlreichen Lehrerfortbildungsveranstaltungen mit Workshopcharakter haben sich zwei Arbeitsformen recht gut bewährt:

- das Austeilen einer Aufgabenliste, aus der einzelne Lehrergruppen sich je eine Aufgabe heraussuchen können, die sie zunächst für sich selbst variieren und dann im Unterricht behandeln

- das Simulieren einer Unterrichtseinheit im Variieren mit dem Referenten als Lehrer und den anwesenden Kolleginnen und Kollegen als Lerngruppe.

Für Hinweise auf weitere Möglichkeiten des Aufbrechens liebgewordener, aber eben manchmal auch blickverstellender Gewohnheiten sind wir dankbar.