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„The deepest and most interesting unsolved problem in solid state theory is probably the theory of the nature of glass and the glass transition.“

Ph. W. Anderson in Science 267, 1615 (1995)

Gläser gehören zu den ältesten Werkstoffen der Menschheit. Lange vor unserer Zeit wurden aus dem vulkanischen Gestein Obsidian Messer und Pfeilspitzen hergestellt. Historische Fun-de im Nahen Osten belegen, dass bereits im 15. vorchristlichen JahrhunFun-dert Vasen und Schüs-seln aus Glas verwendet wurden. Es wird angenommen, dass sich die Kunst des Glasblasens etwa vor 2000 Jahren in Phönizien entwickelt hat. Neben den Gläsern auf Siliziumdioxid-Ba-sis zählen auch Polymere und Keramiken zur Gruppe der amorphen Materialien. Sie sind na-hezu allgegenwärtig in der heutigen Zeit und bilden die Grundlage für viele Produkte und technologische Anwendungen.

Die charakteristische Zeitskala, auf der sich die mikroskopischen Bausteine, aus denen das Glas aufgebaut ist, bewegen, verändert sich mit der Temperatur über viele Größenordnungen.

Experimentelle Methoden erlauben es, diesen Übergang vom Glas als Festkörper hin zur Flüs-sigkeit, beispielsweise mit Messungen der Viskosität, genau zu studieren. Die Frage, wann ei-ne amorphe Probe als fest und wann sie als flüssig zu betrachten ist, nimmt dabei philosophi-sche Ausmaße an. Als dynamiphilosophi-sche Größe wird der Glasübergang oft bei der Temperatur fest-gelegt, bei der die charakteristische Relaxationszeit τ = 200 s beträgt.

In den vergangenen Jahren sind - auch durch die Entwicklung von Computersimulationen - bedeutende theoretische Fortschritte im Verständnis der mikroskopischen Vorgänge im Glas-zustand, während des Erweichens am Glasübergang und in der unterkühlten Schmelze erzielt worden. Weitere Mosaiksteinchen liefern dazu die vielfältigen experimentellen Ergebnisse, die an unterschiedlichen Materialien mit verschiedensten Methoden gesammelt worden sind.

In Messungen des frequenzabhängigen dielektrischen Verlustes organischer Glasbildner bei verschiedenen Temperaturen konnte der primäre Relaxationsprozess durch viskoses Fließen zweifelsfrei nachgewiesen werden. Er zeigt sich in einem Maximum im Verlustspektrum, das sich mit zunehmender Temperatur zu größeren Frequenzen verschiebt. Dieser α-Peak lässt sich mit der empirischen Havriliak-Negami-Funktion im Frequenzraum beschreiben. Die

Re-laxationszeit τ gehorcht dabei einem Vogel-Fulcher-Tammann-Gesetz. Frequenz und Tempe-ratur hängen über das Zeit-TempeTempe-ratur-Superpositionsprinzip zusammen.

Haben die konstituierenden Bausteine des Glases zusätzliche innere Freiheitsgrade, was bei-spielsweise bei Polymermolekülen stets der Fall ist, so zeigt sich eine Anregung dieser Eigen-moden durch weitere Maxima im Verlustspektrum. Nun gibt es aber auch Gläser, bei denen sich sekundäre oder β-Relaxationsprozesse nicht durch einen klar ausgeprägten Peak oder ei-ne Schulter zeigen. Vielmehr gibt es auf der Hochfrequenz- bzw. der Niedertemperaturflanke des α-Peaks Abweichungen vom theoretisch erwarteten Potenzgesetz. Bis heute ist unklar, welche mikroskopischen Prozesse für diesen Zusatzbeitrag oder „excess-wing“ verantwortlich sind. Allerdings besteht Einigkeit darin, dass ein tieferes Verständnis des Glasübergangs nur möglich ist, wenn das „wing“-Phänomen aufgeklärt werden kann. Viele Theorien zum Glas-übergang postulieren die Existenz von dynamischen Heterogenitäten und die korrelierte Be-wegung von Atom- bzw. Molekülgruppen. In der Tat könnte der „wing“ durch die überlagerte Relaxation solcher „Cluster“ zustande kommen.

Ziel dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass es Zusatzbeiträge zum viskosen Fließen auch bei amorphen Metallen gibt und es sich somit um eine universelle Eigenschaft von Gläsern han-deln könnte. Wenn der „wing“ in metallischen Gläsern existiert, ist das ein Indiz dafür, dass tatsächlich Heterogenitäten für dynamische Eigenschaften von Gläsern verantwortlich sind.

Dies gilt umso mehr, da es in metallischen Systemen keine inneren Freiheitsgrade gibt und keine von diesen dominierte sekundäre Relaxationsmaxima auftreten.

Dynamische Prozesse in metallischen Gläsern zu messen ist allerdings ungleich komplizierter als in organischen Systemen. Metalle schirmen elektrische Felder ab und sind nicht polarisier-bar, weshalb die Methode der dielektrischen Spektroskopie ausscheidet. Amorphe Metalle sind im Gegensatz zu Polymergläsern wegen der benötigten hohen Abkühlraten aus der Schmelze schwer herzustellen. Das thermisch stabile Intervall zwischen Glasübergang und Kristallisation ist klein.

In dieser Arbeit wird daher der mechanische Verlust an dünnen Schichten des metallischen Glases Zr65Al7,5Cu27,5 gemessen. Viele Eigenschaften dieses „Inoue-Glases“, darunter quasi-statisches Kriechen und die Dynamik bei niedrigen Frequenzen wurden in Vorgängerarbeiten untersucht. Das thermisch stabile Intervall der unterkühlten Schmelze beträgt bis zu 80 K. Als Substrate für die unter Ultrahochvakuumbedingungen kokondensierten Metallfilme werden Doppel-Paddel Oszillatoren (DPO) verwendet, deren große Güte ausreicht, um die erwartet

geringen Verluste im komplexen Schermodul selbst in dünnen Schichten nachweisen zu können. Dabei wird in Kauf genommen, dass die Anregungsfrequenz durch die Geometrie des Oszillators mit 5,4 kHz fest vorgegeben ist und frequenzabhängige Messungen nicht möglich sind. Stattdessen wird das Zeit-Temperatur-Superpositionsprinzip genutzt und der Schermo-dul in Abhängigkeit von der Temperatur untersucht. Die Ergebnisse zeigen zweifelsfrei zu-sätzliche Beiträge zum Verlustmodul auf der Niedertemperaturflanke des α-Peaks, was als er-ster Nachweis eines „wing“ in metallischen Gläsern gewertet werden kann.

Neben metallischen Schichten wurden auch Polymethylmethacrylat-(PMMA)-Filme unter-sucht, die mit gepulster Laserdeposition (PLD) auf die Oszillatoren aufgebracht wurden. Dy-namische Eigenschaften von PMMA sind gut bekannt, die erwarteten Verlusteffekte sind groß und die Schichten kristallisieren nicht. PMMA erscheint daher als geeignetes Material, um die Funktionstüchtigkeit und die Empfindlichkeit der neu aufgebauten Apparatur zum Betrieb der Doppel-Paddel Oszillatoren zu testen. Zum Vergleich der unterschiedlichen Methoden wurde an unter gleichen Bedingungen hergestellten PMMA-Filmen an der Universität Augsburg di-elektrische Spektroskopie durchgeführt. Dabei zeigen sich signifikante Unterschied im dielek-trischen Verlust zwischen Ausgangsmaterial und Schicht, was die Frage aufwirft, ob und wie sich die Polymerstruktur vom Target auf die Schicht überträgt. Während elektrische Felder mit dem Dipolmoment der PMMA-Moleküle an deren Seitengruppen wechselwirken, führt die mechanische Auslenkung zu einer makroskopischen Torsion der Schichten. Gefundene Unterschiede im dielektrischen und im mechanischen Verlust werden so erklärt.

Diese Arbeit beginnt in Kapitel 2 mit der Beschreibung von dynamischen Prozessen in Flüs-sigkeiten und Gläsern. In Kapitel 3 werden experimentelle Methoden erläutert, bevor sich Ka-pitel 4 detailliert mit dem Aufbau und der Funktionsweise der Apparatur zum Betrieb des DPO beschäftigt. Die mathematische Modellbildung für die verschiedenen Eigenmoden wird ebenso erklärt, wie die Berechnung des komplexen Schermoduls aus den experimentellen Da-ten. Die Herstellung der Schichten und die Ergebnisse aus den DPO-Messungen werden für Zr65Al7,5Cu27,5 in Kapitel 5 und für PMMA in Kapitel 6 vorgestellt. Sie werden in Kapitel 7 ausführlich diskutiert und interpretiert, bevor die wesentlichen Resultate dieser Arbeit in Kapitel 8 zusammengefasst werden und ein Ausblick gegeben wird.