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«Ich bin schlecht in der Mathematik, aber gut im Deutsch». Kinder, welche sich auf diese Weise ein-schätzen, haben wohl ein wenig differenziertes Selbstbild ihrer Kompetenzen. Womöglich stützen sich Lernende bei dieser Aussage hauptsächlich auf Informationen, welche von aussen an sie herangetra-gen wurden. Im Fach Mathematik findet Bewertung aus der Erfahrung der Autorin vor allem durch Lern-zielkontrollen (LZKs), welche das Verständnis zu einem spezifischen Thema am Ende einer Unterrichts-reihe prüfen, statt. Häufig resultieren daraus für leistungsschwache Schülerinnen und Schüler (SuS) insgesamt ungenügende Leistungen. Auch auf der anderen Seite des Spektrums können solche LZKs zu negativen Gefühlen führen. Versierte Kinder könnten oft mehr als an der LZK von ihnen verlangt wird.

1.1 Ausgangslage

Lehrpersonen haben in der Schule bezüglich der Leistungsbewertung eine Doppelrolle. Nüesch Birri, Bodenmann & Birri, (2008) unterscheiden zwei Ziele der Beurteilung: «Einerseits soll die Beurteilung das Lernen fördern und andererseits muss sie dem Anspruch einer verantwortungsvollen Selektion ge-recht werden (S. 5)». Rothenbacher (2019) unterscheidet ebenfalls den selektiven vom förderorientier-ten Beurteilungszweck und führt weiter aus:

Kinder sollen in ihren Fähigkeiten entwickelt und gestärkt werden, damit sie als mündige Bürgerinnen und Bürger in unsere Gesellschaft, in die Allgemeinheit und in das alltägli-che Leben in unserem modernen Staatswesen aufgenommen werden können. Gleich-zeitig sollen intelligentere, leistungsstärkere und weniger begabte, schwache Schüle-rinnen und Schüler richtig ausgelesen und selektioniert werden. (Rothenbacher, 2019, S. 24)

Im Normalfall werden zum Zwecke der erwähnten Selektionsfunktion während des Schuljahres summa-tive Beurteilungen durchgeführt. Das heisst, das Erreichen bzw. das Nichterreichen der Lernziele wird am Ende einer Unterrichtsreihe festgestellt. Diese Bewertungen haben wiederum einen Einfluss auf die Gesamtbeurteilung eines Faches im Zeugnis. Es ist also zu erwarten und verständlich, dass diese sum-mative Leistungsbewertungen sowohl von Eltern als auch von Lehrpersonen und SuS als bedeutsam erachtet werden. Die benannte Selektion hat einen Einfluss auf die weitere Schullaufbahn eines Kindes und im weiteren Sinne auch auf seine beruflichen Perspektiven. Das Abschneiden im Rahmen eines summativen Bewertungsanlasses wird meist in Form einer Note ausgedrückt. Im heutigen Schulsystem spielen Noten bei der Auslese eine zentrale Rolle (vgl. Buholzer, 2014, S. 57). Zum Verstehen dieser Zahlen braucht es keine sprachlichen Mittel. Sie sind universell verständlich und klassifizieren Leistun-gen vermeintlich Leistun-genau. Benotung führt nach Hellmich (2011, S. 35) dazu, dass «soziale Vergleiche zunehmen mit den entsprechenden Konsequenzen für die fachspezifischen Selbstkonzepte». Zudem erklären Autoren (Hellmich, 2011; Wild & Möller, 2015), dass Noten nicht generell zu einem schlechten Selbstkonzept führen müssen, denn vor allem leistungsstarke SuS werden bestärkt – im Gegensatz zu Leistungsschwachen, bei denen die Noten generell zu einem Absinken des Selbstkonzeptes führen.

Werden das Lernen der SuS und die Stärkung ihrer Fähigkeiten in den Aufmerksamkeitsfokus gerückt, so darf und muss die formative Beurteilung an Bedeutung gewinnen. Stern (2010, S. 32) bezeichnet die formative Beurteilung als diagnostisch. Sie soll dazu dienen das Lernen der SuS besser zu verstehen

und durch «zielgerichtete Lernangebote und individuelle Fördermassnahmen» zu optimieren. Die for-mative Beurteilung soll in dieser Arbeit spezifisch bezogen auf das Fach Mathematik betrachtet werden.

«Während bei Aufsatzbewertungen im Sprachbereich Beurteilungsprobleme für alle Beteiligten meis-tens offensichtlich sind, ist man in der Mathematik häufig der Ansicht, dass in diesem Fach die Beurtei-lung einfach und klar ist. Ein traditioneller Ansatz ist deshalb gerade im Mathematikunterricht noch sehr verbreitet (Rothenbacher, 2019, S. 23).» Im Fokus des traditionellen Bewertungsansatzes steht das Produkt einer mathematischen Leistung. Es geht darum, ob ein Resultat richtig oder falsch ist. Weinert (2014) betont, dass, wenn «lediglich registriert [wird], ob eine Aufgabe richtig oder falsch gelöst wird, ...

die Kompetenzen von Schülern unterschätzt werden (S. 162).»

Anhand der Erkenntnisse aus der formativen Beurteilung kann die Lehrperson den SuS aufzeigen, wo sie im Lernprozess stehen. Im Anschluss daran können nächsten Schritte geplant und in Angriff ge-nommen werden. Die formative Beurteilung kann somit die Eigenverantwortung der Kinder in Bezug auf ihren Lernprozess fördern. Der aktive Einbezug der Kinder in den Kompetenzerwerb ist ein weite-rer wichtiger Bestandteil dieser Arbeit. Nüesch Birri et al. (2008) weisen der Selbstbeurteilung eine hohe Wichtigkeit zu. Sie konstatieren, dass «wer sich selber beurteilen kann [und] ... um seine oder ihre Stärken und Defizite weiss ... in der Lage [sei], das eigene Lernen zu steuern (S. 43).»

Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2017) fasst in den Grundlagen des Lehrplans 21 (LP21) die Ansprüche dieser Arbeit sehr treffend zusammen:

Die Schülerinnen und Schüler erhalten im Unterricht ermutigende und aufbauende Rückmeldungen, die sie beim Kompetenzerwerb und in ihrem Lernprozess unterstüt-zen. Diese formativen Rückmeldungen sollen für die einzelnen Lernenden informativ sein, Aspekte der Selbstbeurteilung und des Lernens in der Gruppe aufnehmen und förderorientierte Hinweise zur Weiterarbeit enthalten. (Bildungsdirektion Kt. ZH, 2017, S. 34)

Zu Beginn dieser Arbeit wird beschrieben, was die Lernenden im Fach Mathematik, genauer im Be-reich der Arithmetik, nach dem LP 21 lernen sollen und wie der Kompetenzaufbau nach wissenschaft-lichen Kenntnissen beschrieben wird. Im Anschluss werden sowohl die formative Beurteilung von ma-thematischen Kompetenzen durch die Lehrperson als auch die Selbstbeurteilung des Lernprozesses durch die Lernenden fokussiert.

Diese theoretischen Grundlagen sollen im Anschluss empirisch auf ihre Umsetzung in der schulischen Praxis evaluiert werden. Die Erkenntnisse der Überprüfung sollen zu Empfehlungen für die künftige Unterrichtspraxis von Lehrpersonen führen.

1.2 Fragestellung

Konkret ergeben sich aus den Überlegungen folgende Forschungsfragen:

Teil 1

• Welche Art von Beurteilungspraxis unterstützt gemäss wissenschaftlichen Erkenntnissen den mathematischen Lernprozess der Schülerinnen und Schüler?

• Welche Rolle spielt die Selbstbeurteilung im mathematischen Lernprozess?

Teil 2

• Welche Art von Beurteilung setzen Lehrpersonen in der 3. und 4. Klasse in der Stadt Winterthur ein?

• Wie werden Kinder während des Lernprozesses von Lehrpersonen in den Bereichen Lern-zieltransparenz, Rückmeldungen und Planung des Lernprozesses begleitet?

• Wird durch Beurteilung sichergestellt, dass die zum Start in den Zyklus 2 (des LP 21) notwen-digen mathematischen Basiskenntnisse bei den SuS vorhanden sind?