• Keine Ergebnisse gefunden

1. Forschungsgegenstand und Relevanzbegründung

„Und so sehen wir für uns keine andere Möglichkeit, als erfolgreich zu sein. Wir wollen Geld verdienen und allen zeigen, dass wir die Spielre-geln des Westens gelernt haben.“ 1

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sahen sich Jugendliche aus der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik mit den „Spielregeln des Westens“ konfrontiert.

Dieser Ausdruck impliziert gesellschaftseigene Strukturen, Institutionen, Werte und Normen der Bundesrepublik Deutschland, welche mit spezifischen Anforderungen an die Individuen einhergehen. Diese „Spielregeln“, aufgestellt von Seiten der Wirtschaft, sind in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen Ost/West Ge-genstand des Interesses vorliegender Magisterarbeit. Es soll untersucht werden, ob Kinder und Jugendliche, welche in der DDR2 aufwuchsen, über die von der westlichen Marktwirtschaft geforderten Fähigkeiten („Skills“) verfügen. In anderen Worten: Wur-den Aufwachsende in der DDR mit gesellschaftseigenen Werten und einer Erziehung konfrontiert, welche dazu beitrugen, dass sich Persönlichkeitsmerkmale formierten, die nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung positive Auswirkungen auf deren so genannte berufliche Handlungskompetenz 3 hatten?

Das Thema dieser Arbeit entstand im Interesse der IBM Deutschland GmbH4, innerhalb der auch die empirische Untersuchung des Forschungsgegenstandes erfolgen wird.

Hintergrund des Forschungsinteresses ist die auf subjektiven Erfahrungen einiger Ma-nager der IBM beruhende Feststellung, dass BA-Studenten5, die in der DDR aufwuch-sen, sowohl während des BA-Studiums, als auch während ihrer weiteren Berufslaufbahn, auffallend hohe berufliche Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz auf

1 Zitat aus dem Roman „Zonenkinder“, Hensel 2003, S. 80

2 In der Arbeit werden die Abkürzungen DDR (Deutsche Demokratische Republik) und BRD (Bundesrepublik Deutschland) verwendet. Dabei wird der Zusatz „ehemalige DDR“ nicht immer explizit angefügt.

3 Unter der beruflichen Handlungskompetenz werden hier die Teilkompetenzen Fach-, Sozial- und Metho-denkompetenz verstanden. Darauf wird in Kapitel II (Theoretischer Bezugsrahmen) näher eingegangen.

4 Im Folgenden auch „IBM“ genannt.

5 BA-Studenten ist die Kurzform für Studenten der Berufsakademie und wird im Folgenden in dieser Abkür-zung benutzt. Einleitend soll an dieser Stelle angemerkt werden, dass der besseren Lesbarkeit halber nur ein Geschlechtsbegriff (männlich) verwendet wird. Dies gilt im Rahmen der Arbeit auch für weitere Substantive, soweit es nicht explizit anders vermerkt wird.

weisen. Dies bedeutet, dass - so die Annahme - die in der DDR sozialisierten Jugendli-chen über jene Persönlichkeitsmerkmale verfügen, welche in Anbetracht eines schnell voranschreitenden wirtschaftlichen Wandels, von der Wirtschaft nachgefragt werden.

Diese Hypothese wurde nicht nur innerhalb der IBM, sondern auch von anderen nam-haften deutschen Firmen aufgestellt, bislang jedoch ohne entsprechende Beweise. Die-ses Defizit auf wissenschaftliche und empirische Weise zu beheben, ist ein zentrales Anliegen dieser Arbeit. In der wissenschaftlichen Literatur wurden bisher nur Einzelas-pekte dieser Thematik behandelt, umfassende Erkenntnisse liegen nicht vor. Somit ist es auch Aufgabe dieser Arbeit, die bereits vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu integrieren6. Die der vorliegenden Thematik am nächsten kommenden Literatur scheint die Hypothese zumindest teilweise zu bestätigen: In der DDR sozialisierte Ju-gendliche bewährten sich demnach in Unternehmen durch ihre Fachkompetenz, Leis-tungsbereitschaft, Anpassungs- und Teamfähigkeit, sowie durch ihre Aufgeschlossenheit gegenüber Innovationen7. Aus den Ergebnissen spricht jedoch auch, dass einige erzie-hungsbedingte Denkmuster aus DDR-Zeiten noch nachwirken und neue Ansichten oft nicht so schnell wie von der Wirtschaft gewünscht nachwachsen. Da die Studien erst einige Jahre nach der Wiedervereinigung und ohne Vergleichsgröße von westdeutschen Jugendlichen durchgeführt wurde, können die Ergebnisse nicht übernommen werden.

In Anbetracht der Mitte dieses Jahres erschienenen zweiten Ergebnisse der Pisa-Studie erscheint die Untersuchung besonders relevant zu sein. Danach schneiden die deut-schen Schüler im internationalen Vergleich erneut unterdurchschnittlich schlecht ab.

Sollte sich die DDR-spezifische Sozialisation anhand der folgenden Analyse als förderlich für die Entfaltung von berufsrelevanten Kompetenzen herausstellen, könnten die dafür verantwortlichen Aspekte der DDR-spezifischen Sozialisation auf die bundesdeutsche Entwicklung angewandt werden - u.a. aus diesem Grund kommt der kulturvergleichen-den Analyse des Bildungssystems eine besondere Stellung zu.

6 In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zwar einige wenige vergleichende Analysen der Sozialisati-onsbedingungen in der DDR/BRD, diese beschäftigen sich jedoch nicht mit der Auswirkung auf die berufli-cher Handlungskompetenz. Meist steht die politische Sozialisation im Mittelpunkt des Interesses. Daneben werden oft in nicht vergleichender Form Einzelaspekte der Sozialisation, wie z.B. Freizeitverhalten, behan-delt. Die berufliche Handlungskompetenz wird meist in Bezug auf innerbetriebliche Sozialisation (Personal-entwicklung, Weiterbildung), nicht auf vorberufliche Sozialisation thematisiert.

7 Vgl. Beyer 1997, S. 39. Die einzelnen Werte der Leistungen ostdeutscher Jugendlicher waren: Fachkompe-tenz 2,1, Leistungsbereitschaft 2,2, Anpassungs- und Teamfähigkeit 2,1. Kritisch ist bei diesen Ergebnissen die fehlende Vergleichsgröße.

2. Zentrale Fragestellung und Hypothesenbildung

Die zentrale Fragestellung der Arbeit lautet: Ist die DDR-spezifische Sozialisation beson-ders förderlich für die Entfaltung beruflicher Handlungskompetenz von BA-Studenten?

Um dieser Frage nachzugehen, wird als Vergleichsgröße die BRD herangezogen. Damit kann die Frage folgendermaßen formuliert werden: Sind diejenigen BA-Studenten, wel-che in der DDR sozialisiert wurden, besser qualifiziert hinsichtlich ihrer Fach-, Sozial- und Methodenkompetenz als die in der BRD sozialisierten BA-Studenten?8

Die Fragestellung stützt sich dabei auf die Annahme der IBM Manager, dass die DDR-spezifische Sozialisation für die Entfaltung beruflicher Handlungskompetenz besonders förderlich sei. Der Vermutung seitens der IBM lautet, dass besonders die DDR-spezifische Pädagogik zur Ausbildung der von der Wirtschaft erforderlichen Kompeten-zen beitrage, indem Kindern und Jugendlichen enge GrenKompeten-zen gesetzt wurden. Zwei Hypothesen werden in diesem Zusammenhang zu überprüfen sein:

1. Die in der DDR sozialisierten Jugendlichen zeichnen sich durch eine besonders hohe berufliche Handlungskompetenz aus.

2. Die berufliche Handlungskompetenz ist dabei bei den in der DDR sozialisierten weiblichen Jugendlichen stärker ausgeprägt als bei den männlichen.

8 Dabei sind beispielsweise Fachkönnen und Lernergebnisse (Fachkompetenz), Kommunikation, Kooperati-on, Initiative und Verantwortung (Sozialkompetenz), sowie Zielstrebiges Arbeiten und angemessene Heran-gehensweise (Methodenkompetenz) gemeint.

3. Methodik und Aufbau der Arbeit

Die Überprüfung der Hypothesen erfolgt auf zwei unterschiedlichen methodische He-rangehensweisen: Zunächst werden in einer kulturvergleichenden Analyse die Sozialisa-tionsbedingungen der DDR denen der BRD gegenüber gestellt. Dabei wird besonders auf gesellschaftliche Werte und Erziehung in den Sozialisationsinstanzen Familie, Erzie-hungs- und Bildungssystem und Peer Group/Freizeit eingegangen. Die theoretische Analyse soll mögliche Auswirkungen der verschiedenen Sozialisationsbedingungen auf die beruflichen Qualifikationen der zu sozialisierenden Kinder und Jugendlichen aufzei-gen. Sie wird ergänzt durch eine empirische Untersuchung innerhalb der IBM. Anhand von gewonnenen Daten aus einer Dokumentenanalyse und Personaldatenabfrage wird die Ausprägung der Handlungskompetenz von in der DDR bzw. BRD sozialisierten BA-Studenten an einer definierten Zielgruppe untersucht.

Abschließend folgt eine zusammenfassende Interpretation der theoretischen und empi-rischen Ergebnisse sowie eine Schlussdiskussion, die auf Aspekte eingeht, welche in Anbetracht des eingeschränkten Zeitrahmens einer Magisterarbeit während der Arbeit ausgeblendet wurden, eventuell aber zum endgültigen Ergebnis mit beigetragen haben.

Vorab werden nun einleitend einige theoretische Grundlagen zu den zentralen Begriffen der „Sozialisation“ bzw. der „beruflichen Handlungskompetenz“ dargestellt.