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Die Eckpfeiler der Ethnografie

Im Dokument Wirkungsevaluation mobiler Jugendarbeit (Seite 166-170)

9 „What the hell is going on here?” 33 Zur Methodik der sozialräumlichen Fallstudien

9.1 Die Eckpfeiler der Ethnografie

Ein zentrales Merkmal der Ethnografie ist der unmittelbare persönliche Kon-takt zum sozialen Geschehen (vgl. Breidenstein et al. 2013, S. 37). Die Eth-nografInnen begeben sich ins Feld und tauchen in die dort stattfindenden Ereignisse ein. Hierfür ist eine große Offenheit des Forschungsprozesses notwendig:

„Es gibt wenige sozialwissenschaftliche Praktiken, die sich der (vorgegebenen) Struk-turierung und Systematisierung so entziehen und zugleich aus dieser Ablehnung fester Vorgaben eine solche Tugend machen.“ (Dellwing/Prus 2012, S. 9)

Kontextunabhängige methodologische Regeln zu formulieren erwies sich für diese Forschungsstrategie als wenig zielführend. Es entwickelte sich viel-mehr eine flexible, methodenplurale und kontextbezogene Strategie als Rah-men, die ganz unterschiedliche Verfahren beinhalten kann. Ethnografische Beobachtung in umfassendem Sinne meint:

„Auch der soziale Sinn der Forscherin, ihre Fähigkeit zu verstehen, zu fokussieren, sich vertraut zu machen, fällt in ihre Aufnahmekapazität. Und schließlich gehört zu ei-ner ethnografischen Beobachtungshaltung auch eine Distanzierung vom sinnlich Erfah-renen, die nach fortlaufender Explikation und Reflexion verlangt.“ (Breidenstein et al.

2013, S. 71)

Hier wird eine Parallele zwischen der Praxis ethnografischen Forschens und dem methodischen Handeln mobiler Jugendarbeit vorweggenommen: Letzte-re nimmt ebenfalls für sich in Anspruch, offen und flexibel auf die jeweiligen Gegebenheiten zu reagieren, vergleichsweise wenig festgelegte Strukturen zu benötigen, situationselastisch zu handeln. Damit entspricht das ethnografi-sche Vorgehen den Handlungspraktiken des Forschungsfeldes. Dies stellt zugleich aber eine Herausforderung dar, die ständiger Reflexion bedarf,

so-wohl für die Forschung als auch die mobile Jugendarbeit, wie in weiterer Folge in den vier Fallstudien ersichtlich wird.

Als wesentliche Charakteristika ethnografischer Forschung können in An-lehnung an Lüders (2007, S. 391) und Breidenstein et al. (2013) folgende Aspekte benannt werden:

• längere Teilnahme bzw. „dauerhafte Annäherungen an das Feld“ (ebd., S. 42),

• flexible Forschungsstrategie und

• ethnografisches Schreiben.

Auch wenn sich das ethnografische Vorgehen durch einen Methodenoppor-tunismus auszeichnet, d.h. sich die Wahl der konkreten Methoden den Gege-benheiten im Feld anpasst und in der Regel eine Integration verschiedener methodischer Vorgehensweisen stattfindet, steht dennoch eine Erhebungsme-thode im Zentrum der Ethnografie: die teilnehmende Beobachtung (vgl. ebd., S. 34). Die Vorteile und Stärken der teilnehmenden Beobachtung liegen nach Streblow (2005, S. 76) „in der Unmittelbarkeit des Zugangs zur Handlungs-praxis“. Im vorliegenden Projekt wurde die teilnehmende Beobachtung bei drei Feldstudien mit ergänzenden Gesprächen kombiniert, was auf den me-thodischen Ursprung verweist, der in der Ethnologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründet und in den Feldstudien der „Chicagoer Schu-le“ entscheidend geprägt wurde. Bei den Untersuchungen damals ging es vor allem um das Beobachten fremder Kulturen. Im gegenständlichen Projekt stand die Arbeitsweise mobiler Jugendarbeit und allfällige Reaktionen der Jugendlichen, aber auch des Umfeldes im Mittelpunkt der Beobachtungen, um Rückschlüsse auf Wirkweisen mobiler Jugendarbeit zu erhalten, indem die lokale Praktik „synchron begleitet“ (Breidenstein et al. 2013, S. 41) wird.

Die BeobachterInnen begleiteten die JugendarbeiterInnen bei ihren Begeg-nungen mit den Jugendlichen.

Der Grad der Teilnahme kann von Beobachtung zu Beobachtung variie-ren und verändert sich im Laufe des Beobachtungsprozesses, wie Flick for-muliert:

„Einerseits soll der Forscher mehr und mehr zum Teilnehmer werden und Zugang zu Feld und Personen finden (…). Andererseits soll auch die Beobachtung einen Prozess zunehmender Konkretisierung und Konzentration auf für die Fragestellung wesentliche Aspekte durchlaufen.“ (Flick 2007, S. 288)

Da „wertfreies“ und zugleich „teilnehmendes“ Beobachten in einem gewis-sen Spannungsverhältnis zueinander stehen, besteht der Weg einer metho-disch kontrollierten Beobachtung nach Streblow (2005, S. 80) darin, zu Grunde liegende Theorien und Forschungskonzepte, damit auch einwirkende Vorannahmen von Beginn an mit zu reflektieren. Zudem gilt es, die Reaktivi-tät der erforschten Situation kontinuierlich mit zu beobachten:

„Denn in jedem Fall ist es Aufgabe des Forschers, die Situation zu beschreiben, die durch die eigene Beteiligung hervorgebracht wird. (…) Beobachter müssen sich ein-fach beständig fragen, wie ihre eigene Anwesenheit das Verhalten der Teilnehmer mo-difiziert haben mag.“ (Breidenstein et al. 2013, S. 61)

Dieser Reflexionsnotwendigkeit und seiner Umsetzung im Kontext der durchgeführten sozialräumlichen Fallstudien widmet sich Kapitel 9.3.

Zahl und Dauer der Beobachtungen waren vorweg nicht definiert. Dies verweist auf das Charakteristikum der flexiblen Forschungsstrategie: Das Forschungsdesign musste so offen angelegt sein, dass den jeweiligen situati-ven Gegebenheiten entsprechend vorgegangen werden konnte; es war ständig eine milieu- und situationsabhängige Balance zwischen Erkenntnisinteresse und den Anforderungen des Feldes nötig. Der Erhebungszeitraum war durch die Projektlaufzeit insgesamt auf maximal ein Jahr angelegt, allerdings wurde auch in diesem Aspekt bei einer Fallstudie (SR 4 – s.u.) davon abgewichen, um ein später stattfindendes Treffen zwischen Konfliktbeteiligten im Ort noch mit erfassen zu können. Die zehn Beobachtungen dauerten bei der Fall-studie im städtischen Raum (Kapitel 10) zwischen 35 Minuten und vier Stun-den. In der Fallstudie zum Outreach-Angebot im ländlichen Raum (Kapitel 11) wurden im Laufe des Jahres sieben Outreach-Termine à zwei Stunden beobachtet, die Beobachtungsdauer richtete sich dabei nach der Dauer des Outreach-Angebotes. Bei der Fallstudie Wagram Rulez (Kapitel 12) nahm eine Beobachterin an zwei Vorbereitungsterminen und einer Nachbespre-chung zum Event teil, die jeweils etwa eine Stunde dauerten. Am Event selbst waren zwei BeobachterInnen von 13h bis 21h anwesend, parallel führ-ten sie im gleichen Zeitraum jeweils acht ethnografische Interviews vor Ort durch, weshalb die Beobachtungen immer wieder unterbrochen wurden. Die beiden Treffen, die in der vierten Fallstudie zum Soccerplatz (Kapitel 13) im Fokus waren, dauerten ca. zwei Stunden (erstes Treffen) bzw. etwas über eine Stunde (zweites Treffen).

SR-Studie Nr. & Be-zeichnung

Thematischer Fokus BeobachterInnen Beobachtungszahl

& -zeitraum

SR 3:

Tabelle 6: Übersicht sozialräumliche Fallstudien

Das ethnografische Schreiben stellt nach Lüders das dritte konstitutive Mo-ment der Ethnografie dar. Das Protokollieren des Beobachteten ist üblicher-weise von der Frage begleitet, „was denn wichtig sei“. Nur wenn die Proto-kolle mit einer der Fragestellung entsprechenden Detaillierung geschrieben werden, ist das Ergebnis eine solide Grundlage für die Auswertung. Unmit-telbar nach den Beobachtungen wurden daher möglichst genaue Protokolle verfasst, ergänzend Fotos, Videos und Skizzen bzw. Grafiken angefertigt und zusätzlich von den beiden BeobachterInnen Memos geschrieben, die wie das gesamte Material für die weitere Analyse herangezogen wurden.

An die Protokolle wurden im Forschungsteam wechselseitig Fragen ge-stellt und im Anschluss unklare Passagen präzisiert. Dies erwies sich vor allem dort als günstig, wo die eigene Teilnahme, aber auch Kontextwissen zu

„blinden Flecken“ in der verschriftlichten Form führten. Denn die Anforde-rung, „als teilnehmender Beobachter muss ich so tun, als ob ich alles nicht kennen, mich aber grundsätzlich interessieren würde“ (Schulz 2010, S. 172), ist in der Praxis nicht immer einfach umzusetzen, insbesondere bei Vor-kenntnissen, die zugleich hilfreich zur Einbettung sind. Eine zusätzliche Hürde ist die Fülle von Informationen und Daten, die leicht überfordern kann, und damit einhergehend das Risiko, „in der Unübersichtlichkeit bzw.

der Faszination des Alltags die eigene Forschungsfrage zu verlieren“ (Lüders 2007, S. 388). Das Beobachtungsprotokoll stellt bereits einen Transformati-onsprozess dar, eine Selektion und erste Deutung, die bis zur Ergebnisdarstel-lung weitere Reduktion und Interpretation erfährt. Damit wird die bereits mehrfach thematisierte Reflexionsbereitschaft und -notwendigkeit in allen Forschungsphasen zu einem wesentlichen Qualitätskriterium für nachvoll-ziehbare ethnografische Forschung.

Im Dokument Wirkungsevaluation mobiler Jugendarbeit (Seite 166-170)

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