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Die Shoah im internationalen Film seit 1990

filmischen Umgangs mit der Shoah

7.2. Die Shoah im internationalen Film seit 1990

Den markantesten Einschnitt in der Filmgeschichte bot zweifelsohne Spielbergs Schindler’s List. Mit Roberto Benignis La vita è bella, James Molls The Last Days und Roman Polanskis The Pianist brachte das internationale Kino eine Reihe weiterer Kassenschlager hervor. Der Shoah-Film avancierte zum Medienereignis, wurde Bestandteil der Popkultur und war end-gültig kompatibel mit pompösen Filmpreisverleihungen, die trotz des Sujets ihres Glamours nicht beraubt wurden.

Was veränderte sich – wegen oder trotz der kommerziellen Erfolge – sonst noch im Jahrzehnt von Schindler’s List? Aus den statistischen Daten, die Lawrence Baron vorlegte,

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lassen sich eindeutige Verschiebungen auf der thematischen Ebene ablesen. Nahmen bereits im Jahrzehnt zuvor die Filme über Überlebende sprunghaft zu, so wurde das Phänomen der „Zweiten Generation“ nun in doppelt so vielen Filmen als noch in den 1980er-Jahren (23) behandelt. An erster Stelle der Themenwahl rangierte in den 1990er-Jahren erstmals das Thema Neo-Nazismus (38).28 Die Präsenz nicht-jüdischer Opfergruppen stieg im glei-chen Zeitraum ebenso merklich an, zumal Roma und Sinti sowie Homosexuelle doppelt so häufig als Filmthema im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung vorkamen (10). Ein Jahr nach Schindler’s List sorgte einer der wenigen österreichischen Spielfilme für Präsenz der Konzentrationslager auf den österreichischen Kinoleinwänden. Hasenjagd – Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen von Andreas Gruber fokussierte auf die Opfergruppe der sow-jetischen Kriegsgefangenen. In seiner nüchtern realistischen Darstellung lag der auf einer wahren Begebenheit basierende Film eindeutig im Trend des deutschen Spielfilms.29 Frank Bösch beobachtet im Umgang mit dem Holocaust bzw. dem Nationalsozialismus im deut-schen Film seit der Serie Holocaust eine Transformation bezüglich des Geltungsanspruchs der Filme, die in einer „Abwendung von fiktiven Geschichten mit moralischen Leitideen hin zum Anspruch, ‚wahre‘ Geschichte in Form eines Spielfilmes abzubilden“ besteht und sich gerade dadurch durch das Fehlen historisch-pädagogischer messages auszeichnet.30 Wenngleich die beschriebene Institutionalisierung der Shoah ganz im Zeichen von pädago-gischen Zielen der Geschichtsvermittlung steht, hat sich der pädagogische Gestus aus den Holocaust-Filmen mittlerweile, so Bösch, verabschiedet. Waltraud Wende kommt mit Blick auf die jüngere Entwicklung der Repräsentation des Holocaust im internationalen Film zu einem aus geschichtspädagogischer Hinsicht ernüchterndem Ergebnis:

„[S]o fällt auf, dass in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eine Akzentverlagerung stattfindet. Es kommt eine Vielzahl von Spielfilmen in die Kinos, bei denen es weni-ger um eine – wie auch immer geartete – Bestandsaufnahme der nationalsozialisti-schen Wirklichkeit geht, sondern in denen stattdessen der Schwerpunkt vorrangig auf das Erzählen spannender Kinogeschichten, für die der Holocaust lediglich den historischen Rahmen abgibt, gelegt wird.“31

Dies führt dazu, dass der Holocaust aus dem eigentlichen Fokus des Films verschwindet und vielfach zum Dekor verkommt, das der Filmdramaturgie in Melodramatik und Spannung entgegenspielt. Ging es selbst in einem Hollywoodfilm wie Schindler’s List noch darum, eine Geschichte aus der großen Geschichte zu erzählen, die einen Ausschnitt aus dem Vernich-tungssystem vermittelte und durch seinen Erfolg einen Speicherungsvorgang im kollekti-ven Shoah-Gedächtnis hervorrief, bedienen sich Holocaust-Unterhaltungsfilme wie Aimée und Jaguar, Comedian Harmonists oder La vita è bella in erster Linie des Kollektivgedächt-nisses, nutzen dessen Codes und Bildgedächtnis, um in geeigneter Form beim Publikum Gedächtnisinhalte abzurufen, ohne die Shoah selbst zum Inhalt des Films werden zu lassen.

Der paradigmatische Unterschied besteht auf der Ebene des Plots meist darin, dass „indi-viduell-private ‚Geschichten‘ erzählt und nicht kollektive ‚Geschichte‘ rekonstruiert werden soll.“32

Neuere Tendenzen des filmischen Umgangs mit der Shoah

Ein weiterer Wandel vollzieht sich in den 1990er-Jahren in Bezug auf die Genres, die gewählt werden, um sich im Spielfilm mit der Shoah auseinanderzusetzen. Was in den 1980er-Jahren noch als unzumutbar gelten mochte, war ein Jahrzehnt später gängiges Stan-dardrepertoire. So stieg in diesem Zeitraum der Anteil an Komödien innerhalb der Holo-caust-Produktionen von 4,4 auf 11,7 Prozent. Die Zahlen folgen der Studie von Baron, die für diesen rapiden Anstieg drei Faktoren benennt:

„[T]he search for original approaches to subject matter, the presumed familiarity of the public with the basic facts of the Holocaust, and the passing of a generation of filmmakers who experienced World War II as adults and rise of those who were minors during the war or who were born after it.“33

Genghis Cohn (1993) von Elijah Moshinsky, La vita è bella (1998) von Roberto Benigni, Train de vie (1998) von Radu Mihaileanu und Jakob the Liar (1999) von Peter Kassovitz repräsen-tieren unterschiedlich erfolgreiche Versuche, den Schrecken mit dem Komischen zu verbin-den. Diese Filme konnten sich wesentlich darauf stützen, dass die RezipientInnen über den realen Holocaust ausreichend informiert und damit sensibilisiert waren. Der comic turn lässt sich damit historisch betrachtet als Beleg für die Konjunktur des kulturellen Gedächtnisses der Shoah der 1990er-Jahre auffassen.34 Welche Richtung die filmische Auseinandersetzung mit der Shoah im neuen Millennium genommen hat, zeigt Baron anhand von prominenten Einzelbeispielen auf. Der weiterhin dominante biopic-Boom fand in Polanskis The Pianist (2002) – im Realismus der Darstellung und im kommerziellen Erfolg auf Augenhöhe mit Schindler’s List stehend – seine Fortsetzung. Im selben Jahr errang ein Film, der ebenso eine unbekannte Seite der Shoah thematisierte (deutsche Juden, denen die Flucht in das koloniale Kenia gelingt), einen Oskar: Nirgendwo in Afrika von Caroline Link wurde 2002 als bester ausländischer Film prämiert. Dass mit Schindler’s List das ungeschriebene Bilderverbot fortan außer Kraft gesetzt war, verdeutlichte kein Film so sehr wie The Grey Zone von Tim Blake Nel-son (2001). Der autobiografische Bericht des Auschwitz-Überlebenden Miklòs Nyiszli35 und Primo Levis Essay The Grey Zone scheinen dem Spielfilm als legitimierende Quellen für die explizite kinematografische Darstellung der Massentötungen in den Gaskammern von Aus-chwitz-Birkenau zu dienen. Hatte Spielberg in der berühmten Dusch-Szene die Grenze des Darstellungsverbots genau bis an die Tür zur Gaskammer verlegt und deren Existenz beim Zuschauer angedeutet und vorausgesetzt, überschritt The Grey Zone die letzte Hemmschwelle der bildlichen Darstellung des Holocaust, indem die Vernichtung in den Gaskammern und Auslöschung der Spuren in den Krematorien gezeigt wurde. Im Zentrum des Films stehen die moralischen Dilemmas der Protagonisten, die als Teil des „Sonderkommandos“ Zeugen der täglichen Vernichtungsindustrie waren. Der Regisseur sah in seinem minutiösen Realismus eine künstlerische Ausdruckform, die gleichrangig neben anderen gewählt werden kann, um die Shoah filmisch zu repräsentieren. Trotz oder gerade wegen des Realismus erlitt Nelson im Gegensatz zu Benigni und Polanski einen kommerziellen Misserfolg.36

Ursachen für die Hochkonjunktur des Holocaust-Films im vergangenen Jahrzehnt bietet die medienwissenschaftliche Kontextualisierung von Matthias Lorenz, derzufolge

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sich innerhalb der Mode des Reality-TV und dem schier unerschöpflichen Verlangen der Medienwelt nach Realem bzw. Authentischem eine Lücke aufgetan hat, in welche die außer-gewöhnlichen und zugleich authentischen Bilder vom Massenmord mit ihrem „beglaubig-ten thrill“ stoßen konn„beglaubig-ten.37 Zugleich hinterließ die Digitalisierung der Bilder ein Verlan-gen nach Echtheit, das Holocaust-Filme, einschließlich Filmdokus und Dokufiktionen, zu erfüllen vermochten. Das vormalige Grauen, das die Bilder auslösten, wich in der modernen Medienwelt der Funktion eines weitgehend auf den Unterhaltungswert reduzierten Gru-selns. Ob die Live-Bilder vom 11. September dem Bedürfnis nach authentischem Schrecken ein Ende gesetzt haben, die auch die Präsenz des Holocaust in der Medienwelt mildern sollte, wie Lorenz dies in Anschluss an Jean Baudrillard vermutet, mag bezweifelt werden.38 Mediengeschichtlich lässt sich mit gutem Grund von einer overdose in den 1990er-Jahren ausgehen, die eine Zuwendung zu anderen Themen zur Folge hatte. Das Paradigma his-tory sells hat hingegen sein Ablaufdatum vorerst nicht erreicht. Und dass die Geschichte des Holocaust in Fußnoten verfilmbare Stoffe abseits des unerträglichen Grauens enthält, hat der österreichische Film Die Fälscher von Stefan Ruzowitzky unter Beweis gestellt. Der 2008 mit einem Oskar prämierte Film vereint ein weiteres Mal reale Geschichte mit spannendem Erzählkino. Auf Basis der Lebensgeschichte des KZ-Überlebenden Adolf Burger integriert der Film in die Darstellung eines außergewöhnlichen Ausschnitts des Systems der Konzen-trationslager einen neuen Typus von KZ-Opfer, einen kleinkriminellen Juden, der noch vor 10 Jahren als politisch unkorrekt durchgegangen wäre.39 Am Ende dieses Jahrzehnts kehrt der Zweite Weltkrieg unter den unterschiedlichsten Vorzeichen auf die internationale Film-leinwand zurück. Das zeitliche Aufeinandertreffen von so unterschiedlichen Filmen wie Bryan Sinders Operation Walküre, Andrzej Wajdas Katyn, Quentin Tarantinos Inglourious Basterds, Marco Bellocchios Vincere und anderen Großproduktionen lässt die Frage nach den in ihnen verborgenen Symptomen des kollektiven Gedächtnisses aufkommen.40

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