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Die Etablierung des Résistance-Mythos als maßgebliche Nachkriegserzählung

im französischen Film in den ersten Nachkriegsjahren

3.1.1. Die Etablierung des Résistance-Mythos als maßgebliche Nachkriegserzählung

Der Zweite Weltkrieg hinterließ in ganz Europa – wenngleich in sehr unterschiedlichem Ausmaß – Gesellschaften, die durch Tod und Zerstörung tief geprägt waren. Das Elend des Kontinents, das ein westeuropäisches Land wie Frankreich freilich vergleichsweise weni-ger betraf als Osteuropa, hatte politische, ideologische und nationale Sinngefüge ins Wan-ken gebracht.2 Frankreich hatte gemäß alten Wahrnehmungsmustern (nach dem Sieg 1918 gegen den Erzfeind Deutschland) 1940 ein Debakel erlitten und stand nach der Befreiung vor den uneingestandenen Trümmern einer étrange défaite, deren Ursache viele Menschen im allgemeinen Versagen der herrschenden Klasse sahen. Das autoritäre Regime des Maré-chal Pétain befand sich fortan als Makel im Geschichtsbuch der traditionsreichen Demokra-tie. Unter den gegebenen Voraussetzungen war zudem der Machterhalt der grande nation

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im internationalen Kräftespiel 1945 ernsthaft in Frage gestellt. In dieser Situation kam dem unmittelbaren Ringen um die Deutung der Vergangenheit eine eminente Bedeutung bei der Wiederherstellung der nationalen Identität Frankreichs zu. Eine Politik der kollekti-ven Gedächtnisbildung ritt im Galopp jeder Geschichtsschreibung voraus, um jene Vergan-genheitsnarrative zu schaffen, die, wie der britische Historiker Tony Judt befand, überall in Europa, mit Ausnahme der BRD, die Gestalt politischer Mythen annehmen sollten.3 Die Län-der Ost- und Westeuropas ähnelten ungeachtet Län-der fundamental verschiedenen politischen Konstellationen einander in ihrer politisch rekonstruierten Darstellung der Ereignisse. Mit graduell divergierender Berechtigung verknüpften sie die Kriegsschuld Deutschlands mit einer Stilisierung der eigenen Nation zum Opfer Deutschlands und/oder des Nationalsozia-lismus. In dieser Erinnerung blieb gerade in Frankreich ein altes Feindbild erhalten, das für all das stand, was man selbst nicht war:

„In dieser Situation wurde der Mythos vom ‚Widerstand‘ bzw. von der ‚Résistance‘

geboren. Wenn es für die Jahre 1939 bis 1945 einen Anknüpfungspunkt für die natio-nale Erinnerung geben sollte, musste er das Gegenteil dessen repräsentieren, wofür jetzt die Deutschen standen.“4

Als Gedächtnisakteur der Nation gab Charles de Gaulle selbst vom ersten Akt an eine mediengerechte Performance auf der Bühne des Geschehens. Das Ereignis der Libération 1944 nutzte der General umgehend dazu, dem Selbstbild des durch die Okkupation gemar-terten Frankreichs eine neue Prägung zu geben. Mit seinem glorreichen Einzug in Paris am 25. August 1944 und seiner ersten Rede am Hôtel de Ville erhob er sich zu jenem Baumeis-ter, der mit gezielten Worten die Grundsteine für den Gründungsmythos Frankreichs der Nachkriegszeit legte:

„Paris! Gekränktes Paris! Zerbrochenes Paris! Gequältes Paris! Aber befreites Paris!

Sich selbst befreit, befreit durch sein Volk mit der Hilfe der Armeen Frankreichs, mit der Unterstützung und Hilfe von ganz Frankreich, des Frankreichs, das kämpft, des einzigen Frankreichs, des wahren Frankreichs, des ewigen Frankreichs.“5

De Gaulle sah sich selbst als Repräsentant des während der Okkupation in Form der France libre und France combattante fortbestehenden Frankreichs, das sich selbst befreite und somit als Volk des Widerstands bestätigte und nun den wenigen Vaterlandsverrätern keinen Platz einräumen sollte. In diesem Konstrukt schien die Vichy-Regierung als Klammer in der Geschichte auf. Das Bild de Gaulles von der Résistance stellte allerdings die konkrete Gruppe der Résistants zurück und betonte vielmehr ein peuple en résistance. Deshalb wird dieses Narrativ unter der Bezeichnung résistancialisme zusammengefasst.6 Rousso hat das Spezifische an de Gaulles Geschichtsdarstellung wie folgt herausgestellt:

„Diese kohärente und relativ selbstreferenzielle Vision konstituiert das, was man als

‚gaullschen Résistancialismus‘ bezeichnen kann, der sich weniger durch eine

Glori-Der Film als Medium offizieller und sozialer Gedächtnisse: 1945–1969

fizierung der Résistance (und schon gar nicht der Résistants) definiert, denn durch eine Zelebration eines Volkes en résistance, welches der Mann des 18. Junis symbo-lisiert; und zwar ohne Parteien, Bewegungen oder Personen der Untergrundbewe-gung als Vermittler.“7

Frankreich leistete in erster Linie gegen die deutsche Besatzung Widerstand. Dass es sich überwiegend um Widerstand gegen Franzosen des Vichy-Regimes und Kollaborateure han-delte, sparte diese Erzählung zumeist völlig aus. Das Vorgehen de Gaulles wird vor allem aus der geopolitischen Situation heraus erklärbar, zumal es darum ging, dem realen Machtverlust Frankreichs entgegenzuwirken und am Tisch der Sieger Platz zu nehmen. „Die Erzählung eines nationalen Befreiungskampfs schien zur Wiedererlangung der alten Machtposition wohl die geeigneteste zu sein.“8 Eine solche Erinnerung der unmittelbaren Vergangenheit musste weite Teile der Bevölkerung integrieren, um in einem Land, das politische und gesellschaftliche Gräben zurückgelassen hatte, als identitäts- und einheitsstiftender Faktor seine Wirkung zu entfalten. Die Erfahrung der Kollaboration, der Vichy-Regierung, die große opportunistische Mehrheit und die innere Zerrissenheit der Résistance, die in einem schwierigen, von Misstrauen geprägten Prozess 1943 zum Conseil national de la Résistance (CNR) zusammengeführt wurde, machten die Wiederherstellung des inneren Zusammen-halts Frankreichs zum politischen Gebot der Stunde.

Wechselt man von der Gedächtnisformation des offiziell-politischen Gedächtnisses in die sozialen Gedächtnisse von Gruppierungen, stellt sich diese Herausforderungslage noch diffiziler dar. Der Zweite Weltkrieg hinterließ neben dem Gedächtnisstifter de Gaulle, der nach seinem Rücktritt im Januar 1946 für über ein Jahrzehnt von der politischen Bühne ver-schwinden sollte, soziale Gruppen, die als AkteurInnen oder Opfer der Geschichte für sich oder in Konflikt zueinander versuchten, ihre Erzählung in der Gesellschaft zu verankern.

Am Beginn des Prozesses fungierten sie als primäre Gedächtnisträger, die ihre partikulare Narration der Vergangenheit in das kollektive Nationalgedächtnis Frankreichs einzuschrei-ben versuchen konnten, wie Robert Frank meint: „Diese Gedächtnisse rekonstruieren die gemeinsame Vergangenheit jeweils auf eine eigene Art. Unterschiedlich, manchmal kon-flikthaltig, gehen sie militant vor, denn die Herausforderung besteht für sie darin, die Allge-meinheit von der Notwendigkeit zu überzeugen, gegen das Vergessen anzukämpfen.“9 Die WiderstandskämpferInnen hatten zunächst gute Aussichten, dieses Ziel zu erreichen, da sie – mit Heldenkampf assoziierte – Identifikationsangebote bereitstellten, die der Erzählung vom nationalen Befreiungskampf gegen den Nationalsozialismus am nächsten kamen. So ließ der General das erste große nationale Gedächtnisritual nach der Befreiung von Paris am Tag der Armistice, dem 11. November 1944, abhalten und stellte auf diesem Weg sym-bolisch die Verbindungslinie zwischen Soldaten des Ersten Weltkrieges und der Résistance her. Widerstandskämpfer, französische und britische Soldaten nahmen daran teil, während die Deportierten zu diesem Zeitpunkt größtenteils noch nicht einmal befreit waren. Der Mythos vom Untergrundkampf im geteilten Frankreich ließ allerdings bald in den Ober-tönen die Kollaboration hörbar mitklingen. Der Widerstandskämpfer der résistance inté-rieure transportierte das Geschehen eines franko-französischen Kampfes und konnte somit

Fehlende Repräsentationen der Shoah im französischen Film in den ersten Nachkriegsjahren

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nicht ausschließlich zu einem Soldaten, der im Kampf für Frankreich stand, umgeschrieben werden.

Einen weiteren hinderlichen Faktor bildete die Bipolarisierung zwischen gaullistischer und kommunistischer Sicht der Ereignisse, die eine lagerübergreifende Erinnerung unmög-lich machte. Der Résistance-Mythos hatte als Produkt des offiziellen Gedächtnisses eine Kitt-Funktion zwischen den politisch heterogenen sozialen Gedächtnissen, die nicht von langer Dauer war. Die Manifestation des inneren Zusammenhaltes der Résistants war nach außen hin eine schlichte Notwendigkeit, um in einer union sacrée Stärke zu signalisieren.

Der vor allem durch linke Kräfte repräsentierte CNR setzte sich mit seinen Erneuerungs-bestrebungen der französischen Gesellschaft gegenüber der auf Konsolidierung und Stär-kung staatlicher Autorität ausgerichteten Politik de Gaulles jedoch nicht durch.10 Das Pro-jekt einer „grand parti de la Résistance“ scheiterte noch 1945 an den divergierenden Polen einer gaullistischen und links-gerichteten Vision der Zukunft des Landes. Der Hauch der Révolution, der 1944 in der französischen Luft zu spüren war und der Libération eine innere gesellschaftliche Bedeutung hinzufügen wollte, verzog sich, und mit ihm auch das öffent-liche Ansehen der Résistance, deren Repräsentanten sich je nach politischer Ausrichtung bald in den sich etablierenden Parteien wiederfanden und gegenüberstanden. Umfragen der Zeit belegen, wie flüchtig das öffentliche Interesse an einem politischen Gewicht der organi-sierten Widerstandskämpfer war:11

„Im Dezember 1944 erachten 47 % die Repräsentanz der Résistance im politischen Leben für nicht ausreichend. Im März 1945 hingegen haben 53 % keine Meinung zum Programm des CNR, das sie entweder nicht kennen oder vergessen haben. Im April wünschen sich nur mehr 12 %, dass die Résistance eine neue Partei gründet und 79 % definieren sie als patriotische Bewegung, die, je nach Anlass, die herkömm-lichen Parteien animieren könnte.“12

In dieser Diskrepanz zwischen nationaler Mythosbildung und partikularen Gruppen-gedächtnissen taucht auch die Gruppe der Ex-Deportierten auf. Die Überlebenden der Konzentrationslager hatten, insofern sie sich politisch positionierten, kein Interesse, als passive Opfer präsent zu bleiben. Sie suchten in ihrer Eigenschaft als politisch Deportierte an das Résistance-Narrativ anzudocken. Diese Einschreibung, die visuell in den ersten öffentlichen Gedenkritualen vollzogen wurde, schien zunächst am meisten Anerkennung zu bringen. Auf den Champs Elysées defilierten in den Abendstunden des 14. Juli 1945 die Deportierten neben Militär, Widerstandskämpfern und combattants des Ersten Weltkrie-ges.13 Ein Jahr später sahen sich die Deportierten bei der Gedenkzeremonie bereits an den Rand gedrängt. Das Bild der in Sträflingskleidern marschierenden Häftlinge unterminierte das militarisierte Setting der Gedenkfeier.14 Dennoch bot de Gaulles Erzählung vom natio-nalen Widerstandskampf also auch den Opfern der Deportation die Möglichkeit, sich unge-achtet ihrer politischen Ausrichtung vorübergehend im kollektiven Gedächtnis des Kamp-fes, einer mémoire combattante, zurechtzufinden, indem sie statt als passive Opfer als héros positifs betrachtet werden wollten, die Teil am Sieg Frankreichs hatten. So erinnert sich der

Der Film als Medium offizieller und sozialer Gedächtnisse: 1945–1969

kommunistische Mauthausen-Überlebende Pierre Daix in seinen Memoiren an eine per-sönliche Begegnung mit de Gaulle Anfang Mai 1945:

„Es war das erste Mal, dass ich seine Stimme mit seinen unerwarteten Kopfbewe-gungen und seinem langsamen und hämmernden Rhythmus hörte. Der Sieg war da.

Wir [die Deportierten] hatten unseren Anteil daran. ‚Frankreich … braucht … alle seine Kinder, und ich meine … alle … seine Kinder.‘ Das hieß, uns genauso wie die anderen. Aber nicht mehr als die anderen.“15

Während die prominenten Köpfe unter den Ex-Deportierten alsbald in der Politik unter-kommen sollten, gelang es den politisch Deportierten als Kollektiv nicht, sich bruchlos in das Résistance-Narrativ einzuschreiben. Auch die kommunistische Partei, die gemeinhin den Ruf des parti des déportés genoss, behandelte die Ex-Deportierten intern mit Zurückhal-tung und signalisierte unmissverständlich, dass sie keine Clanbildungen innerhalb der Partei zulassen würde, indem sie ex-deportierte Parteifunktionäre voneinander isolierte.16 Mit der Gründung von Verbänden und der Publikation von Memoiren schufen die Überlebenden die institutionellen Rahmen, in denen sich das soziale Gedächtnis verfestigen konnte und die KZ-Überlebenden den Kampf um offizielle Anerkennung aufnahmen.17 Ein Kampf, der erst zehn Jahre später erste Früchte tragen sollte, wie die Entstehung von Nuit et brouillard (vgl.

3.2.) verdeutlicht. Die Dachverbände gruppierten sich nach anfänglichen Bestrebungen, den Geist der unité aus der Lagerzeit beizubehalten, in überparteiischen Organisationen, doch schon 1949/50 widerspiegelten sich in der Vereinslandschaft die politischen Trennlinien.18

3.1.1.1. Die Rolle der Filmbilder bei der Einschreibung der Deportation in das kollektive Gedächtnis und dem Fehlen einer Unterscheidung von Deportation und Shoah Warum war es trotz der Bestrebungen auf Seiten der KZ-Verbände so schwierig, die Geschichte der Deportation in die heroisch konnotierte Widerstandserzählung einzuflech-ten, um so vermutlich auch Niederschlag in den frühen Spielfilmen zu finden? Die Ant-wort lässt die weiter oben beschriebene Unterscheidung von cadres sociaux und médiaux anschaulich werden. Kurz gesagt: Diese Variante des sozialen Gedächtnisses spießte sich an jenen kollektiven Bildern, welche über den cadre filmique 1945 in der Gesellschaft verbrei-tet und eingebrannt wurden. Die Fotos und Filme der befreiten Konzentrationslager ließen sich auch durch Identifikationsangebote heroischer déportés résistants, die in so mancher früher Lagerliteratur zwischen 1945 und 1948 kursierten, nicht überschreiben. Pierre Daix, als 22-Jähriger aus Mauthausen zurückgekehrt, fragte im Bewusstsein der Macht der Bilder:

„Wie sollte ich meine Erfahrung als Überlebender kommunizieren? Die Öffentlichkeit inte-ressierte sich nur für den Horror der Lager. Dass es dort auch Widerstand gegeben hatte, verstörte die Leute in ihrem Mitleid.“19

Interesse und Mitleid der Öffentlichkeit an den Ex-Deportierten währten freilich nur kurz, doch waren sie Ausdruck einer neuen Massenmedialisierung. Zeitungs- und

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bilder der befreiten Lager konfrontierten Millionen von Franzosen im Frühjahr 1945 mit dem Grauen der Konzentrationslager. 1945 besuchten bereits 7,5 Millionen Französinnen und Franzosen wöchentlich eine Kinovorstellung, in der sie über Bild und Ton Neuigkei-ten aus der Welt erfuhren.20 Die Flut der Bilder setzte mit dem Auffinden des Buchenwald-Außenlagers Ohrduf durch die US-Armee am 5. April 1945 ein. Die SS hatte dort vor ihrer Flucht die noch lebenden Häftlinge ermordet. Als am 12. April die Generäle George Patton, Omar Bradley und Dwight Eisenhower das mit Leichen übersäte Lager besichtigten, fiel die Entscheidung, fortan flächendeckend Aufnahmen und Berichte zu verbreiten. Zudem setzte daraufhin ein regelrechter Ansturm auf weitere befreite Konzentrationslager ein, damit sich Soldaten und Journalisten vor Ort ein Bild von den NS-Gräueln machen konnten, mit dem sie dann die Welt versorgen sollten.21 Das seit September 1944 wieder wöchentlich laufende Nachrichtenjournal Actualités konfrontierte zwischen dem 27. April und 1. Juni 1945 die französische Öffentlichkeit mit den Schreckensbildern von Krematorien, Leichenbergen und bis auf die Knochen abgemagerten Menschen.22

Die Medialisierung der befreiten Konzentrationslager brachte zudem eine weitere Ver-zerrung im kollektiven Gedächtnis mit sich, die durch die Geschichte zwar schon sehr bald (im Nürnberger Prozess) aufgeklärt werden konnte, jedoch erst viel später Eingang ins Bewusstsein der Menschen fand: die fehlende Wahrnehmung des Genozids. Die Media-lisierung der Konzentrationslager geschah in Frankreich ausschließlich im Kontext der Befreiung durch amerikanische (Buchenwald, Dachau) oder britische (Bergen-Belsen) Truppen. Eine bestehende sowjetische Reportage über Auschwitz und Auschwitz-Birkenau, die ermöglicht hätte, den Genozid zu thematisieren, fand nicht den Weg in die französi-sche Fernsehberichterstattung.23 Die Historikerin Annette Wieviorka kommt zum Ergebnis, dass der Völkermord in der einseitigen medialen Aufbereitung als Leerstelle im öffentlichen Gedächtnis zurückblieb:

„In dieser Entdeckung der Lager gibt es für die Juden keinen Platz. Auschwitz ist weit weg in der sowjetischen Zone und hat nicht von derselben medialen Orchestration profitiert. Die dominierenden Bilder der Lager sind zweifelsohne jene aus Buchen-wald und aus Dachau, perfekter Ausdruck des Systems der Konzentrationslager, aber in keiner Weise der Vernichtung der Juden.“24

Die Bilderflut zeichnete vom KZ-System unter dem Begriff camps de la mort ein diffuses Bild, in dem die Masse der Opfer anonym blieb. Die Bezeichnung „Jude“ tauchte in den Medien nicht auf.25 Die Nachrichtendramaturgie zeigte in ihrem Duktus kein Abbild des jüdischen Genozids, sondern schuf eine Ikonografie der „Todeslager“, in denen die französi-schen Patrioten umgekommen waren. Die Bilder waren in der nationalen Berichterstattung zudem in einen Diskurs der Entrüstung eingebunden, der in nationalistischer Kampfrhetorik darauf abzielte, den Hass der ZuseherInnen gegen Deutschland zu schüren: „Deutsche, […]

ihr habt Bußgeld zu zahlen, […] die Schuldigen sind nicht nur Adolf Hitler und sein Füh-rungsstab, sondern ganz Deutschland, denn alle Deutschen waren Komplizen.“26 Die feh-lende Unterscheidung zwischen Konzentrations- und Vernichtungslager ergab sich jedoch

Der Film als Medium offizieller und sozialer Gedächtnisse: 1945–1969

nicht nur medial, sondern war auch historisch insofern bedingt, als Juden genauso wie poli-tische Opfer, wenngleich mit unterschiedlichen Destinationen, in ähnlicher Weise depor-tiert worden waren.27 Annette Wieviorka sieht in diesem Umstand die eigentliche Ursache dafür, dass in Frankreich die Erinnerung an den Holocaust unausweichlich innerhalb des Kontextes der Deportation in die Konzentrationslager gesehen und dementsprechend in den Medien übernommen wurde.28 Die Komplexität der Deportationsgeschichte 1940–1945 überlagerte so das besondere Phänomen des Genozids und erschwerte die Etablierung des kollektiven Gedächtnisses sowohl der Shoah als auch der Deportation im Allgemeinen von Beginn an.29 Das Medium Film trug zum Weiterbestehen dieser Konfusion bei. Dass der Völkermord durchaus schon als solcher erkannt werden konnte, ist an einzelnen Berichten ersichtlich, die jedoch nicht die heute üblich gewordene Wahrnehmung erfuhren. So schrieb Le Monde am 22. April 1945, dass in den Lagern Auschwitz und Birkenau 1.715.000 Juden ermordet und verbrannt worden waren. Am 1. August desselben Jahres lieferte ein Interview mit einem politischen Auschwitz-Häftling einen expliziten Hinweis auf die Vernichtung des jüdischen Volkes: „Wir haben alle Folterungen kennengelernt, vor allem die Gaskammern für die Israeliten.“30 Der Nürnberger Prozess machte wenig später die Tragweite der Ver-nichtung in der Öffentlichkeit schrittweise sichtbar. Am 20. Oktober 1945 titelte Le Monde:

„5.700.000 Juden in Europa sind umgekommen“. Der Terminus Genozid fand Eingang in die Berichterstattung der Medien. Nichtsdestotrotz fehlte im offiziellen Gedächtnis, geprägt durch die mediale Bilderflut der westlichen Alliierten, die Unterscheidung zwischen Kon-zentrations- und Vernichtungslager als Voraussetzung für die Wahrnehmung des Genozids als spezifisches Phänomen der nationalsozialistischen Vernichtung.

Nach dem heutigen wissenschaftlichen Kenntnisstand wurden 63.085 Menschen in Frankreich Opfer der politischen bzw. nicht-rassischen Verfolgung. 59 Prozent, das heißt37.025 von ihnen kehrten zurück. Im selben Zeitraum wurden 75.721 Juden aus Frank-reich in die Todeszentren deportiert. Nur 3 Prozent von ihnen, 2500 Menschen, überlebten, das heißt, dass 95 Prozent der Zurückgekehrten Überlebende der Konzentrationslager und nicht der Vernichtungslager waren.31

3.1.1.2. Rückkehr zu republikanischen Traditionen – die jüdisch-französische Erinnerungs-arbeit vor einem spezifischen Shoah-Gedächtnis

Ein zweiter Faktor, der das Fehlen einer von der nationalen Résistance-Erzählung abwei-chenden Variante (d. h. einer den Völkermord enthaltenden) erklärbar macht, ist die Reak-tion der jüdischen Opfer auf die Gedächtnispolitik de Gaulles einerseits und auf das Ereignis der Shoah andererseits. Zunächst ist es beim Stand der Forschung schwierig, eine in Zahlen gefasste Auskunft über das französische Judentum nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu geben. Die französische Gesetzgebung kehrte 1945 zur laizistischen Tradition der III. Re-publik zurück. Als Jude existierte man also nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft, aber nicht vor dem Staat. Schätzungen gehen davon aus, dass 1945 zwischen 150.000 und 200.000 Juden in Frankreich lebten.32 Die provisorische Regierung de Gaulles schaffte nach der

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Befreiung Paris’ bzw. Frankreichs umgehend die anti-jüdischen Gesetze Vichys ab. Juden waren ab sofort wieder im vollen Umfang citoyens.33 Somit erfüllte Frankreich bald wieder die Funktion eines Aufnahmelandes für aus anderen Ländern flüchtende Juden. Zunächst für jene, die aus den osteuropäischen „Volksdemokratien“ flohen, Ungarn, Polen, Bulgarien, Rumänien etc., 1956/57 sollten 7.000 von Nasser vertriebene ägyptische Juden folgen.

Die Politik der offiziellen jüdischen Repräsentanten war in den Nachkriegsjahren ein-deutig darauf ausgerichtet, den Keil, den die NS-Besatzung und das Vichy-Regime zwischen die französische Gesellschaft und die jüdische Bevölkerung getrieben hatten, zu entfernen.

Die jüdische Loyalität gegenüber Frankreich äußerte sich in positiver Absorption der natio-nalen Vergangenheitsfassung. Wenngleich die Kollaboration und das Vichy-Regime nicht

Die jüdische Loyalität gegenüber Frankreich äußerte sich in positiver Absorption der natio-nalen Vergangenheitsfassung. Wenngleich die Kollaboration und das Vichy-Regime nicht

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