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Claude Lanzmanns Shoah (1985)

Darstellbarkeit der Shoah in Frankreich

6.1. Claude Lanzmanns Shoah (1985)

6.1.1. Hintergründe der Entstehung

Claude Lanzmann, der 1925 in Paris geboren wurde und sich während der Okkupation der französischen Widerstandsbewegung anschloss, arbeitete rund elf Jahre an Shoah.7 Die Genese des Filmprojekts verortet der Regisseur in den durch seine vorangegangene Film-arbeit Pourquoi Israel? (1972) aufgeworfenen Fragen. Trotz seiner jüdischen Herkunft ver-fügte er bis dahin über ein ausschließlich theoretisches Wissen über die Shoah. Am Anfang stand also die thematische Auseinandersetzung, die ihn letztlich hinsichtlich der filmischen Vorgangsweise ratlos zurückließ:

„Ich empfand vor der leeren Filmrolle dasselbe Schaudern wie der Schriftsteller vor dem leeren Blatt Papier. Und dann wurde mir bewusst, dass mein Projekt seine Wur-zeln in der Realität schlagen musste. Diese Realität war jedoch verschwunden, aus-radiert, ausgelöscht. Dreißig Jahre waren verstrichen, seitdem die Alliierten die Tore der Lager öffneten und das Ausmaß des Desasters entdeckten. Also habe ich mich auf die Suche nach den Überlebenden gemacht, den Tätern, den Opfern und den Zeugen. Ich habe sie gefunden, und ich habe sie zum Sprechen gebracht […].“8

Die Aufnahmen mit Opfern, Tätern, ZuschauerInnen führten Lanzmann in die USA, nach Polen, Deutschland und Israel, wo er zwischen 1976 und 1981 Filmmaterial im Ausmaß von 350 Stunden produzierte. Die Transkriptionen der Interviews umfassten allein rund 6.000 Seiten. Vier weitere Jahre beanspruchte die Montage des Films, der ursprünglich „Der Ort und das Wort“ heißen sollte.9 An der Finanzierung des 4,5-Millionen-Euro-Projektes war u. a. das französische Kulturministerium beteiligt.

6.1.2. Inhaltliche und kinematografische Struktur

Der ursprünglich Titel Le lieux et la parole beschreibt in Kurzform die filmische Struktur der Neuneinhalb-Stunden-Filmfassung, die auch in der DVD-Fassung in vier Teile unter-teilt ist.10 Im Gegensatz zu Resnais und Ophüls verwendete Lanzmann keine einzige Archiv-aufnahme.

„[I]ch habe kein einziges Originaldokument verwendet. Ich habe meinen Film aus-schließlich aus Wörtern und Landschaften zusammengestellt. Landschaften, die erzählen und Wörter, die sehen lassen. Der Diskurs ist jener der Opfer, der Mörder und der Zeugen – stillschweigenden Komplizen der Peiniger oder Menschen, die an dem, was sie gesehen, erlebt, gehört haben, zerbrochen sind. Die Bilder stammen von den Orten der Tragödie, wie wir sie heute sehen können.“11

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Die Orte sind die ehemaligen Hauptschauplätze der Vernichtung in Polen im weiteren Sinn.

Lanzmann filmte auch in der ländlichen bzw. städtischen Umgebung der Vernichtungszent-ren. Hauptdrehorte waren Chelmo (hier beginnt Shoah mit dem Überlebenden Simon Sreb-nik), Treblinka, Sobibor, Auschwitz I und II (Birkenau) usw. Die Abwesenheit der Spuren ist eine der Obsessionen Lanzmanns. Es sind non-lieux de mémoire („Un-Orte der Erinne-rung“), die er filmisch abbildete, in langsamen Kamerafahrten oder sich langsam vorarbei-tender Handkamera. „Es ist ein auf den Erdboden fixierter Film, der Film eines Topografen, eines Geografen“, beschrieb der Regisseur das Grundprinzip des Films.12 Hinzu kommen

„neutrale“ Orte, an denen Lanzmann seine Worte einfängt: in Polen, den USA, in Israel, Deutschland, Österreich, Griechenland, Schweiz etc. In Shoah gibt es keinen Off-Text, keine Musik. Die Entstehung des Films und den Kontext erläutert Lanzmann in einem vierminü-tigen tonlosen Text-Prolog. Neben dem Originalton der Drehorte gehört das Wort einzig und allein den ZeitzeugInnen, den ÜbersetzerInnen (aus dem Polnischen, Jiddischen und Hebräischen) und dem fragenstellenden Regisseur Lanzmann selbst. Die ZeitzeugInnen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Opfer (15 Interviews), Täter (6), Zuseher (7). Hinzu kommen mit dem Historiker Raul Hilberg, dem Oberstaatsanwalt Alfred Spiess und der Tochter eines Überlebenden, Hanna Zaidl, drei neutrale Auskunftspersonen bzw. ExpertIn-nen. Lanzmann spricht selbst von einer Unterteilung in Juden, Nazis und Zeugen (Polen).13 Die kinematografische Struktur in Shoah besteht damit in einer zirkularen Abfolge von Orten und ZeitzeugInnen. Das visuelle Material reduziert sich nahezu auf die drei Konstan-ten: Landschaften, Züge, Gesichter. Die Physiognomie und Körpersprache sind zentral für Lanzmann. Seine Methode lässt sich als ein der absoluten Transparenz verpflichtetes Aus-graben der Wahrheit beschreiben: zuerst die sich ständig wiederholenden Detailfragen des Regisseurs, anschließend häufig die Übersetzungen, die Zeitzeugenaussagen, die Rücküber-setzungen, Wiederholung der Frage etc. Hier zeigt sich die persönliche, ja höchst subjektive Bauweise von Shoah, die Lanzmann offen auf den Tisch legt und zum Programm macht:

„Das Zirkuläre des Films liegt am obsessiven Charakter meiner Fragen, an meinen eigenen Obsessionen.“14 Doch hinter dem formalen Setting des Dokumentarischen darf man den metteur en scène Lanzmann nicht übersehen, dem daran gelegen war, gezielte Inszenierun-gen festzuhalten. Zu den meistdiskutierten Szenen zählt die Aufnahme mit dem ehemaliInszenierun-gen Lokführer Henrik Grawkowski, der auf einem von Lanzmann gemieteten Zug in Treblinka einfährt. Grawkowski beugt sich aus der Lokomotive, und als der Zug am Bahnschild von Treblinka hält, zeigt er (aus eigenem Antrieb, wie Lanzmann versichert) gestisch das Hals-abschneiden an, so wie er es den Deportierten gegenüber immer getan hätte.15 Lanzmann inszeniert die Wege, die Abläufe, die Gesten von damals im Heute. Er bezeichnet diese Methode als „Fiktion des Reellen“, und das ist für ihn ein entscheidender Unterschied.16 Damit werden die Zeitzeugen als Protagonisten des Films zu Akteuren. Noch eindrück-licher wird diese mise-en-scène in einer weiteren bekannten, vielleicht der berühmtesten Szene17: Der Friseur von Treblinka, Abraham Bomba, der in Treblinka den Frauen nach der Ankunft die Haare schneiden musste, wurde von Lanzmann in Israel in einem gemieteten Friseursalon wieder in die Friseurposition versetzt, obwohl er seit längerer Zeit pensioniert war. In einer völlig alltäglichen Friseurumgebung verfügte Bomba über die Utensilien, die

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ihn die identischen Gesten von damals imitieren ließen. Lanzmann interpretiert sein Vorge-hen der gestiscVorge-hen Rekonstruktivität als „Irrealisieren“:

„[A]uf gewisse Weise musste man diese Leute in Schauspieler verwandeln. Sie erzäh-len ihre eigene Geschichte, aber Erzäherzäh-len alleine genügte nicht. Sie mussten sie spie-len, das heißt, sie mussten irrealisieren. So definiert sich das Imaginäre: irrealisieren.

Das ist die ganze Geschichte des Paradoxes des Komödianten. Man musste sie nicht nur in eine bestimmte seelische Verfassung bringen, sondern auch in eine bestimmte körperliche Verfassung. Nicht um sie zum Sprechen zu bringen, sondern damit das Gesagte vermittelbar wird und durch eine andere Dimension ergänzt wird.“18

Sven Kramer hat festgehalten, dass Lanzmann damit versuchte, jene Momente zu evozieren,

„in denen die unwillkürliche Zeichensprache des Körpers freigesetzt wird. Shoah macht die Zuschauer zu Zeugen dieser Artikulation.“19 In diesem Sinn ist der Film auch eine Doku-mentation, da er, wie James Young es formulierte, „die Erzeugung des Zeugnisses“ doku-mentiert, indem der Prozess des Erinnerns, des Wiederzusammenfügens und Suchens von Vergangenheit dargestellt wird.20Shoah verfolgt somit ein Authentizitätsprinzip, das nicht darin besteht, Vergangenheit authentisch zu repräsentieren, sondern ihre Gegenwärtigkeit an den Orten der Shoah und in der Sprache (verbal und nonverbal) der ZeugInnen aufzu-spüren.

Ein letztes kinematografisches Verfahren, das die minimalistische Ästhetik komplet-tiert, besteht in einem bewussten und konstant verwendeten Wechsel von on-voice und off-voice. ZeitzeugInnen sind im Bild, sie erzählen, das Bild wechselt an die authentischen Orte (Landschaften, Züge), während die Personen weitersprechen, die Kamera kehrt zurück zum Sprecher. Diese Methode des on/off-Wechsels verwendete Lanzmann zum Beispiel beharr-lich bei Filip Müller, der das Massaker im Lager der tschechischen Familien von Auschwitz erzählt. Auf diese Weise wollte Lanzmann die Orte zum Sprechen bringen und gleichzeitig dem gesprochenen Wort eine visuelle Dimension verleihen: „[D]ie Stimme beginnt in dieser Landschaft zu existieren und beide verstärken einander, die Landschaft gibt dem Wort eine neue Dimension und das Wort erweckt die Landschaft zum Leben.“21 Lanzmann legte damit zwei Gegenwärtigkeiten in der Montage übereinander, jene der scheinbaren Normalität der Orte mit jener des traumatisierten Schreckens des Zeitzeugen, sodass der/die ZuschauerIn den Schrecken in die Naturlandschaften projiziert.22

6.1.3. Kontroversen und Rezeption

Shoah hatte am 30. April 1985 in Paris Premiere, wo er gemäß dem Wunsch Lanzmanns in zwei Teilen zu 274 bzw. 292 Minuten gezeigt wurde. Anlässlich des Kinostarts berichte-ten die französischen Medien ausführlich über das Monumentalwerk. Die Tageszeitung Le Figaro brachte am Tag der Premiere ein großes Interview mit dem Regisseur. In Le Monde erhielt Lanzmann Unterstützung von prominenter Seite. In einem langen Artikel nahm die

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Wegbegleiterin Simone de Beauvoir auf der Titelseite ausführlich Stellung zum Film Shoah, den sie abschließend als „pures Meisterwerk“ würdigte.23 Außergewöhnlich wie der Film war auch die Rezension, insofern die Autorin ihre emotionale Betroffenheit nicht verbarg und Shoah bereits jenen sakralen Status verpasste, mit den die Kritik in den folgenden Jah-ren dieses Werk umkreiste: „Es ist nicht leicht über Shoah zu sprechen. Es liegt eine Magie in diesem Film, und Magie lässt sich nicht erklären.“24 Auch in jüdischen Medien wie der Monatszeitschrift L’Arche hinterließ Shoah Spuren einer unmittelbaren Wirkung. Zur Prä-sentation des Films fand sich Lanzmann auf der Titelseite und einem Dossier vertreten.

In der folgenden Ausgabe erschienen erste Reaktionen auf den Film.25 Insgesamt blieb die Rezeption unmittelbar um den Kinostart in Frankreich in den Medien überschaubar. In den beiden führenden Tageszeitungen Le Monde und Le Figaro gab es nach dem Kinostart keine weiteren Berichte.26 Die geringe kommerzielle Vermarktung des Films mit 46.000 Kino-besucherInnen (davon 34.000 im Großraum Paris) bestätigt, dass es sich nicht um einen unmittelbar durchschlagenden Publikumserfolg handelte.27 In Deutschland zeigten die dritten Sender Shoah (entgegen dem Wunsch Lanzmanns in vier Teilen) bereits im März und April 1986. Die durchschnittliche Einschaltquote lag dort zwischen mageren 2 Prozent im Bayerischen Rundfunk und 6 Prozent im Hessischen Rundfunk.28 Im österreichischen Fernsehen lief die Doku zwischen 30. Oktober und 2. November desselben Jahres, nach-dem sie bereits vom 30. Mai bis zum 3. Juni 1986 in vier Teilen im Wiener Votiv-Kino zu sehen gewesen war.29 In Frankreich ließ die TV-Ausstrahlung hingegen überhaupt mehr als zwei Jahre auf sich warten, bis ab 29. Mai 1987 schließlich der nationale Fernsehsender TF1 ab 22 Uhr 30 Shoah an vier aufeinander folgenden Abenden ausstrahlte. Ab da stellte sich jedoch die erfolgreiche Verbreitung des Films ein, die, wie zu sehen sein wird, auch in einem seriösen Medium wie der Tageszeitung Le Monde von bemerkenswertem Hang zu einem eigentümlichen Patriotismus durchtränkt war. Die Einschaltquoten wurden auch von der Presse genau beobachtet und wie ein nationaler Erfolg gegenüber anderen Ausstrah-lungsländern gefeiert. Stolz berichtete Le Monde am 2. Juli 1987: „Der Beweis ist erbracht, falls er denn nötig war, dass die französische Öffentlichkeit ein wertvolles Werk zu schät-zen weiß und es einer angelsächsischen Spionageserie vorzuziehen weiß.“30 Bereits dem Titel des Artikels war die Information zu entnehmen, dass fünf Millionen Franzosen Shoah sahen. Die Autorin nahm die Seherzahl als Beleg für das öffentliche Interesse am Thema, nicht ohne auf anti-angelsächsische Untertöne zu verzichten. Im Detail saßen zu Beginn ca. 6,5 Millionen Menschen vor den Fernsehgeräten, im Verlauf der Ausstrahlung blieb die Seherzahl bei rund fünf Millionen, was einem prozentuellen Durchschnitt von 10,7 Prozent entsprach. Die Ausstrahlung verlief parallel zum Ende des Barbie-Prozesses in Frankreich, der in der Öffentlichkeit große Resonanz erzeugte und somit eine große Präsenz des The-menkomplexes Shoah, Kollaboration und Vichy gegeben war. Dementsprechend verstanden manche KommentatorInnen die Ausstrahlung von Shoah auch als Antwort auf revisionis-tische Tendenzen in der Öffentlichkeit.31 Die TV-Ausstrahlung war erstmals von einer grö-ßeren Medienpräsenz des Films begleitet, die, insbesondere in der Tageszeitung Le Monde, ein positives Sprachrohr fand und kaum kritische Stimmen zu Wort kommen ließ. Am Tag vor dem ersten Teil publizierte Le Monde in seiner Fernsehbeilage ein Interview mit Claude

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Lanzmann.32 Eine Woche später widmete sich an selber Stelle ein Leitartikel dem „Schock von ‚Shoah‘“.33 Darin wurden noch einmal die hohen Seherzahlen hervorgehoben, die der Film in Frankreich erreicht hatte. Die Zahl von fünf bis sechs Millionen, die vier Abende lang vor den Fernsehgeräten ausharrten, animierte den Autor zu einem sehr fragwürdigen Vergleich, der wiederum dazu angetan war, das französische Publikum zu loben: „Für jeden Juden, der während des Krieges vernichtet wurde, wachte ein Franzose, ergriffen, wie zu einer stummen Hommage. Für jeden Toten damals ein Lebender.“34 Zahlreiche Leserbriefe und Beiträge der regelmäßigen Rubrik „Débats“ auf Seite 2 der Tageszeitung beschäftig-ten sich in den Monabeschäftig-ten nach der Fernsehausstrahlung direkt mit dem Werk Lanzmanns oder inhaltlichen Aspekten des Genozids.35 Exakt sechs Jahre später, ab dem 2. Juli 1993, wird Lanzmanns Film auf France 2 zur Primetime um 20 Uhr 50 wieder ausgestrahlt.36 Auf dem deutsch-französischen Kultursender lief Shoah ein weiteres Mal in zwei Teilen am 3. und 5. Februar 1998.37 Anlässlich einer erneuten Projektion des Films im Kino Cinéma des cinéastes 1997 zog Jean-Michel Frodon in Le Monde Resümee über die zwölfjährige Wirkungsgeschichte eines außergewöhnlichen Filmes, die neben der Etablierung der Voka-bel Shoah im französischen Sprachgebrauch in einem nachhaltigen Echo bestand, das in künftigen Debatten um andere filmische und gesellschaftliche Repräsentationsformen der Shoah spürbar war.38

Dabei hat sich die ikonoklastische Position Lanzmanns speziell in Frankreich zum Leit-faden der Darstellungsfrage entwickelt, die bis heute im französischen Geistesleben Polemik hervorruft. An der Spitze sehr konträrer Positionen, die theoretisch aufgeladen die Medien Bild und Film in besonderer Weise betreffen, treffen Claude Lanzmann und der Psycho-analytiker Gérard Wajcman auf der einen sowie der Regisseur Jean-Luc Godard und der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman auf der anderen Seite unversöhnlich aufeinander.

Das international diskutierte Phänomen der Darstellungskritik soll hier in seiner spezifisch französischen Ausprägung im Kontext von drei diskursiven Medienereignissen nachverfolgt werden, die zum überwiegenden Teil bereits Gegenstand der Forschung waren, allerdings hier um neue Aspekte erweitert werden.39

6.2. Mediale Kontroversen um die Repräsentation der Shoah

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