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Die Herkunftsfamilie als Risiko- und Schutzfaktor

2 THEORETISCHER HINTERGRUND

2.2 Familie und Substanzabhängigkeit

2.2.3 Die Herkunftsfamilie als Risiko- und Schutzfaktor

Wie bereits erwähnt, ist die elterliche Substanzabhängigkeit ein herausragender Prädiktor für die spätere Substanzabhängigkeit von Kindern. Mittels verschiedener Untersuchungsmetho-den kann man das Risiko für eine Substanzabhängigkeit von Kindern, deren Eltern substanz-abhängig sind, feststellen. Studien zum Verwandtschaftsgrad untersuchen die familiale Häu-figkeit der Erkrankung. Die Tatsache der erhöhten Substanzabhängigkeitsrate bei Kindern substanzabhängiger Eltern sagt allerdings für sich betrachtet noch nichts über den Pfad der Weitergabe aus. Diese kann einerseits auf genetischem Weg, andererseits über soziale Trans-mission7 erfolgen. Mit Studien zum Verwandtschaftsgrad können Anlage- und Umweltein-flüsse nicht unabhängig geschätzt werden. Dies bleibt in der Literatur gelegentlich unerwähnt und die familiale Häufung wird fälschlicherweise als reiner Beleg für eine genetische Disposi-tion zu Sucht interpretiert.

Eine unabhängige Schätzung genetischer und sozialer Anteile bei der Prädisposition zu Sub-stanzabhängigkeit ist durch Zwillings- und Adoptionsstudien möglich. Bei Zwillingsstudien werden die Konkordanzraten, d.h. die Grade der Übereinstimmung in der Diagnose, von mo-nozygoten und dizygoten Zwillingspaaren miteinander verglichen. Da monozygote Zwillinge identisches Erbmaterial haben, wird davon ausgegangen, dass alle Unterschiede zwischen ihnen durch Umwelteinflüsse entstanden sind. Dizygote Zwillinge sind dagegen nur zu 50%

genetisch identisch. Liegt die Konkordanzrate der monozygoten Zwillinge über denen der dizygoten, wird dies als Nachweis der genetischen Vererbung der Prädisposition einer Krank-heit verstanden. In Adoptionsstudien wird die Übereinstimmung zwischen adoptierten Kin-dern und ihren biologischen Eltern ermittelt; überzufällige Ähnlichkeiten werden auf geneti-sche Einflüsse zurückgeführt.

Für Substanzabhängigkeit liegen die Konkordanzraten monozygoter Zwillinge deutlich über denen von dizygoten Zwillingen und auch Adoptionsstudien ergaben ein erhöhtes Risiko für Kinder, die in einer nicht durch Substanzabhängigkeit belasteten Umwelt aufwuchsen, deren biologische Eltern jedoch substanzabhängig sind (Maier, 1997). Dies belegt eine genetische Disposition zu Substanzabhängigkeit.

Die familiale Häufung von Alkoholabhängigkeit wurde bisher hauptsächlich unter geneti-schen Gesichtspunkten betrachtet, Umweltfaktoren fanden weniger Beachtung. Der

7 Soziale Transmission kann direkt über Modelllernen stattfinden oder indirekt durch Drittvariablen, wie elterli-ches Desinteresse, Vernachlässigung sowie Instabilität im Familienleben und im Erziehungsstil, erfolgen.

menhang von Kindheitserlebnissen und -traumata mit psychischer Erkrankung ist für Depres-sion gut untersucht; für Angststörungen ist er weniger gut belegt und im Zusammenhang mit Substanzabhängigkeit wurden negative Kindheitserlebnisse kaum erforscht (Kendler et al., 1996).

Nach Stand der bisherigen Forschung gelten als familiale Risikofaktoren für Substanzabhän-gigkeit und -missbrauch: Vernachlässigung, sexueller Missbrauch, der von bis zu 75% der weiblichen Substanzabhängigen angegeben wird, Gewalterfahrung und körperliche Misshand-lung, die bei männlichen Substanzabhängigen häufiger anzutreffen ist (Kessler, Davis &

Kendler, 1997; Sheridan, 1995; Triffleman, Marmar, Delucchi & Ronfeldt, 1995) sowie elter-liche Psychopathologie (Kessler et al., 1997). Diese Faktoren werden unter dem Stichwort ‚ Adverse childhood experience’ (ACE) zusammengefasst. Allgemein lässt sich feststellen, dass ACEs additiv sind, d.h. das Risiko für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit mit zu-nehmender Anzahl einzelner ACEs steigt (Kessler et al., 1997; Dube, Anda, Felitti, Edwards

& Croft, 2002). In einem Survey mit rund 18.000 Probanden wurde festgestellt, dass der posi-tive Zusammenhang zwischen früheren ACEs und späterem Alkoholmissbrauch unabhängig von der elterlichen Sucht ist, diese jedoch das Risiko noch erhöht. Außerdem zeigte sich, dass ACEs häufiger in Familien vorkamen bei denen ein oder beide Elternteile substanzabhängig waren (Dube et al., 2002).

Daneben wird Separation von einem Elternteil durch Scheidung als Risikofaktor für Sub-stanzabhängigkeit diskutiert (Kendler et al., 1996; Kessler et al., 1997), wobei sich die simple dichotome Erfassung von Scheidung als zu grobes Maß für die Heterogenität der Folgen er-wies (vgl. Uchtenhagen, 1982). Zum frühen Elternverlust gibt es widersprüchliche Ergebnis-se: Kendler, Shet, Gardner und Prescott (2002) konnten ihn als Risikofaktor für Alkoholab-hängigkeit belegen, andere Autoren hingegen nicht (Hope, Power & Rodgers, 1998; Furuka-wa et al., 1998).

Eine mögliche neurophysiologische Erklärung für diesen Zusammenhang lieferten Volpicelli, Balaraman, Hahn, Wallace und Bux (1999). Sie wiesen auf den erhöhten Alkoholkonsum nach einer traumatischen Erfahrung und den hohen Anteil (30-60%) von Komorbidität mit PTBS bei substanzabhängigen Frauen hin (siehe auch Dierker & Merikangas, 2001), den sie mit der erhöhten Endorphinaktivität, die durch Alkoholkonsum ausgelöst wird, in Zusam-menhang brachten. Während der traumatischen Situation steigt der Endorphinlevel rasch an und dämpft dadurch den emotionalen und physischen Schmerz. Nach dem traumatischen Er-lebnis sinkt der Endorphinlevel allmählich ab, der Schmerz wird spürbar und die PTBS-

Symptomatik zeigt sich. Die Endorphin-Kompensations-Hypothese besagt, dass der erhöhte Alkoholkonsum nach einer traumatischen Erfahrung den Versuch darstellt, den Endorphin-rückgang und somit das Schmerzerlebnis zu vermeiden. Wird diese Copingstrategie über ei-nen längeren Zeitraum beibehalten, kann sich eine Abhängigkeit entwickeln.

Soziale Risikofaktoren für Substanzabhängigkeit und -missbrauch außerhalb der Familie sind der Einfluss der Peergruppe, die Verfügbarkeit der Droge und Substanzcharakteristika sowie psychologische Merkmale der abhängigen Person, wie frühe psychische Störungen und frühes deviantes oder delinquentes Verhalten (vgl. Klein, 2004). Die Risikofaktoren streuen also breit über den mikrosozialen bis makrosozialen Bereich.

Als protektive Faktoren gelten intrapsychische Merkmale, wie Kontrollüberzeugung, Selbst-wirksamkeitserwartung, Copingfähigkeiten und Kommunikationsfertigkeiten. Klein (2004) sieht den Erwerb eines angemessenen Umgangs mit Substanzen als Entwicklungsaufgabe von Jugendlichen in unserer Gesellschaft (vgl. auch Weichhold, 2003). Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Entwicklungsphase sind nach Klein ein positives Selbstwertgefühl, affek-tive Selbststeuerungsfähigkeit und ein insgesamt hohes Ausmaß an Lebenskompetenz (Klein, 2004). Nach einer repräsentativen Längsschnittstudie sind familiale Schutzfaktoren vor allem Beziehungs- und Kommunikationsmerkmale, wie Verständnis der Eltern, Interesse am Schul-leben der Kinder, gemeinsame Freizeitaktivitäten und auf Kooperation basierendes, positives Familienklima (eine Übersicht über die Forschung zu protektiven Faktoren gibt Eickhoff, 2000).

Bei den Studien zu Risikofaktoren muss beachtet werden, dass es sich in den meisten Fällen um retrospektive Querschnittsuntersuchungen handelt und die gefundenen Zusammenhänge Korrelationen darstellen. Es gibt nur wenige prospektive Längsschnittstudien, die kausale Schlüsse erlauben (z.B. Hope et al. 1998; Kendler et al., 1996). Wie bereits erwähnt werden Risikofaktoren – aber auch Schutzfaktoren – erst in der Kumulation wirksam und sind kon-textabhängig, d.h. je nach Alter oder Geschlecht können sie unterschiedlich stark oder sogar gegensätzlich wirken (Eickhoff, 2000). Daneben hängen verschiedene Merkmale von einan-der ab bzw. stehen in Wechselwirkung miteinaneinan-der (vgl. Sheridan, 1995; Weichhold, 2003).

Anzumerken ist zudem, dass Risikofaktoren oft unspezifisch sind und mit verschiedenen psy-chischen Störungen ebenso wie mit Verhaltensauffälligkeiten oder riskantem Gesundheitsver-halten in Verbindung gebracht werden. Risiko- und Schutzfaktoren kommen besonders in Entwicklungsphasen, wie z.B. der Pubertät zum Tragen, in der die Familie zur Ressource für die Bewältigung, aber auch zur Belastung oder Behinderung werden kann.