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Die französische Schullandschaft im Libanon 1909

Im Dokument Orte der (Seite 94-136)

Im ersten Kapitel wurden die Ausgangsvoraussetzungen der Schulen, die in der zentralen Bedeutung der mission civilisatrice für die französische Gesellschaft lagen, herausgestellt. Nun folgt die Studie dem Weg der hier untersuchten Akteure und richtet den Blick auf die Arbeit der Organisatio-nen im Libanon am Ende des Osmanischen Reiches. Dabei lautet die zen trale Frage dieses Kapitels, inwiefern es um 1909 zu einer Neuausrichtung der Schullandschaft im Libanon kam. Die antiklerikalen Schulgesetze in Frank-reich und die Jungtürkenrevolution im Osmanischen Reich begünstigten die Ankunft der Mission laïque française in Beirut, die ein ganz neues Modell französischer Bildung anbot. Wie integrierte sich diese Organisation als Teil der expandierenden und von Konkurrenz geprägten Erziehungseinrichtun-gen in der Stadt, und wie reagierten die bestehenden Schulen auf den Neu-ankömmling? Vereinigten sich die antiklerikalen und klerikalen französi-schen Kräfte nun zu »Une France en Méditerannée«1 oder bestanden »Les Deux France«2 auch im Libanon weiter? Das Kapitel macht anhand der Eta-blierung der laizistischen Organisation deutlich, dass es zum einen zu einer Neuausrichtung der französischen Schullandschaft im Libanon kam, dass diese aber auch von Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten der ideologisch so unterschiedlichen französischen Bildungseinrichtungen geprägt war. Die konkreten Bedingungen und Faktoren für die Niederlassung der Schulen in der Region sollen erstens anhand des diskursiven Rückgriffs auf die Tradi-tion der französischen Präsenz in der Region, zweitens durch die Unterstüt-zung der Schulen auf Regierungsebene, drittens mithilfe der Offenheit in der libanesischen Gesellschaft und viertens anhand der Abgrenzungsprozesse zu bestehenden Schulen im Libanon untersucht werden.

Mit der Betonung dieser Rahmenbedingungen stützt sich die Analyse auf die Herangehensweise der Transferforschung, welche besonders die Vo raussetzungen des Transferprozesses innerhalb der »aufnehmenden«

Gesellschaft betont. In der Tat war nicht nur, wie manche Autoren

darstel-1 Vgl. Patrick caBanel (Hg.), Une France en Méditerranée. Écoles, langue et culture françaises, XIXe–XXe siècles, Paris 2006.

2 Dieser ursprünglich von Jules Michelet verwendete Begriff für die Beschreibung der franzö-sischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert zwischen den konkurrierenden Einflüssen von Katho-lischer Kirche und Französischer Revolution wurde auch für die Frage der französischen aus-wärtigen Kulturpolitik prägend. Vgl. daughton 2006.

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len3, die steigende politische, wirtschaftliche und kulturelle Vormachtstel-lung Frankreichs im Osmanischen Reich verantwortlich für die Niederlas-sung französischer Schulen. Im Sinne der neuesten Studien zu Bildung in imperialen Kontexten betont diese Arbeit darüber hinaus die vorhandene Offenheit innerhalb der osmanischen Gesellschaft gegenüber diesen Schu-len, die allerdings auch, zum Teil heftige, Kritik einschloss, als notwendige Voraussetzung für die Arbeit der Schulen. Diese Offenheit betraf sowohl Regierungskreise, die sich von französischen Ideen und Bildungseinrichtun-gen inspirieren ließen, als auch die Zivilgesellschaft. Unter Einbeziehung der oben erläuterten Kritik am Konzept des Transfers sollen deshalb die multi-plen Dynamiken aufgezeigt werden, die sowohl französische als auch liba-nesische Akteure in ihrer Auseinandersetzung mit eigener und fremder Kul-tur bewegten.

1. Rückbezug auf die französische Tradition im Libanon

Im Folgenden wird der diskursive Rückgriff der Schulen auf die Tradition französischer Präsenz im Libanon als zentraler Faktor für ihre dortige Nie-derlassung analysiert. Auf diese Weise konnten die Bildungseinrichtungen zum einen ihre eigene Existenz und Aktivität legitimieren und zum ande-ren ihr Handeln vor den politischen Instanzen rechtfertigen. Außerdem wird deutlich, dass trotz der Betonung ihrer Unterschiedlichkeit die verschiede-nen französischen Schulen dieser gemeinsame diskursive Bezug verband.

So bediente sich die Mission laïque trotz ihrer Kritik an der starken Prä-senz der katholischen Schulen in der Levante genau derselben Argumenta-tion. Auch die jüdischen und protestantischen Institutionen formulierten den Diskurs der französischen Tradition im Libanon. Wie die im ersten Kapitel analysierte mission civilisatrice fungierte das Argument als ein »leerer Sig-nifikant«, den alle Schulen für sich beanspruchten. Indem sie den Diskurs der französischen Tradition in der Levante aufnahmen, erhoben sie seinen Wahrheitsanspruch und banden ihn an konkrete politische Machtverhältnisse an: Die Schulen versuchten zum einen, ihre Position als die »wahre franzö-sische Position« zu präsentieren und konstruierten gleichzeitig ihre Zuge-hörigkeit zu dem Gesamtprojekt französische Zivilisierungsmission. Damit betonten sie ihre Bindung an die französischen, aber, oft unbewusst, auch an die osmanischen Machtverhältnisse, von denen dieses Projekt abhängig war. Den sich ändernden Machtverhältnissen mussten die Schulen ihren Dis-kurs anpassen, da sich, um mit Michel Foucault zu sprechen, die

Dispositi-3 Vgl. z.B. Jacques thoBie, Les intérêts culturels français dans l’empire ottoman finissant.

L’enseignement laïque et en partenariat, Paris 2008, S. 43.

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onen des Wissens änderten4. Das meint nicht einfach eine Veränderung des erkennenden Subjekts (die Franzosen) und des zu erkennenden Objektes (die Frage der französischen Tradition im Libanon), sondern der »jeweiligen Erfahrungsstruktur«5, die Subjekt und Objekt umgreift. Im vorliegenden Fall bedeutet das, dass sich die äußeren politischen Rahmenbedingungen (jung-türkische Revolution, steigende Abhängigkeit des Osmanischen Reiches von Frankreich) wandelten und damit eine neue Positionierung der französischen Akteure vor Ort und in Frankreich sowie eine Legitimierung ihres Handelns gegenüber den unterschiedlichen französischen und osmanischen Instanzen erforderlich machten.

Während die Vertreter der Mission laïque sich ebenso wie die anderen Ins-titutionen auf den jahrhundertealten Einfluss Frankreichs im Orient beriefen, stellten sie gleichzeitig die Position der katholischen französischen Orden im Nahen Osten in Frage. Sie versuchten einerseits, deren Bedeutung herunter-zuspielen, indem sie nicht die katholischen Orden, sondern die Politik der französischen Regierungen und die französischen Wissenschaftseinrichtun-gen allgemein an die erste Stelle der Faktoren setzten, die für Frankreichs Einfluss im Orient verantwortlich seien:

La France jouit depuis des siècles en Orient d’une situation privilégiée. […] Tout en rendant hommage aux écoles congrégationistes pour la diffusion de notre langue, il y aurait donc injustice à ne vouloir considérer que ce facteur dans l’établissement de notre influence6.

Andererseits mussten sie auch anerkennen, dass diese Symbiose zwischen

»katholisch« und »französisch« im Nahen Osten sehr wirkmächtig war:

Ce serait à notre avis une erreur dangereuse […] que de croire que ces deux mots: Fran-çais et catholiques, s’ils ont été longtemps synonymes doivent le rester toujours, et de lier les destinées de l’influence française en Orient aux destinées de l’idée catholique7. Damit kritisierte die Mission laïque auch die ambivalente Außenpolitik der Dritten Republik, die im Ausland die katholischen Orden unterstützte, im Inland deren Rechte aber gleichzeitig massiv einschränkte8. Diese

Poli-4 Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blickes, Frankfurt am Main 1988, S. 150 f., hat in diesem Buch die Veränderung der Diskurse an der Beziehung zwischen Arzt und Patienten analysiert.

5 Michael maset, Diskurs, Macht und Geschichte: Foucaults Analysetechniken und die histori-sche Forschung, Frankfurt am Main 2002, S. 126.

6 MLF/Paris, Bulletin de la Mission laïque française 1906, S. 66.

7 Ebd., S. 66–67.

8 Vgl. trimBur 2006; daughton 2006, S. 5–21.

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tik war stark von dem berühmten Bonmot inspiriert, das dem Politiker Gambetta zugeschrieben wird, das aber eigentlich von Paul Bert stammte:

»L’anticléricalisme n’est pas un article d’exportation«9. Trotz ihrer Kritik unterstützten die Verantwortlichen der Mission laïque diese Haltung und erklärten sie zum Prinzip ihrer Institution. So nahm der Präsident der Mis-sion laïque, Aulard, 1907 bei einem Vortrag in Thessaloniki, wo die Orga-nisation ihre erste Schule gegründet hatte, bewusst auf den Satz Gambettas Bezug und betonte:

Qu’il soit bien entendu d’abord, a-t-il dit, que nous n’apportons ici aucune hostilité con-tre personne. Si souvent qu’ait été cité le mot de Gambetta: ›l’anticléricalisme n’est pas un article d’exportation‹, la Mission laïque le peut reprendre à son compte10.

Die Mission laïque passte somit ihr Programm dem neuen kulturellen Kon-text an und betonte, im Gegensatz zu ihren Aussagen in Frankreich, dass sie keinerlei Kritik an der Religion der Menschen in der Levante übe. Die Akteure der Mission laïque mussten sich zudem sehr um das Vertrauen der Menschen bemühen, da sie auf keine jahrhundertealte Präsenz in der Region bauen konnten und der Laizismus oder Säkularismus in seiner europäischen Form nur von einer Minderheit von Intellektuellen vertreten wurde11. Ferner waren die ersten Versuche einer laizistischen französischen Schule in Beirut, die offiziell noch nicht unter ihrer Schirmherrschaft gestanden hatten, kläg-lich gescheitert und hatten diesen Schultyp stark diskreditiert12.

Die jahrhundertealte Tradition aber war gerade das Gewicht, das die katholischen Schulen in die Wagschale werfen konnten, um ihre Präsenz in der Region zu rechtfertigen. Deswegen betonten sie auch, dass die Mission laïque erst sehr viel später als sie selber in die Levante gekommen war. So wird in der Geschichte der Frères des Écoles chrétiennes der Erfolg der fran-zösischen Schulen im Orient, den 1912 ein französischer Inspektor attestierte, bewusst auf die katholischen Schulen konzentriert: »Les religieux français

9 Um den ursprünglichen Autor und Kontext dieses Satzes rankt eine rege wissenschaftliche Dis-kussion. Vgl. Jean-Louis triaud, Une laïcité coloniale. L’administration française et l’islam en Afrique de l’ouest (1860–1960), in: Christine Peyrard (Hg.), Politique, religion et laïcité, Aix-en-Provence 2009, S. 121–143, S. 121.

10 MAE/Nantes, »Beyrouth Consulat Général«, 359, »Notes de Salonique«, in: Stambul, 25.10.1907.

11 Vgl. yared 2002; Azzam tamini, The Origins of Arab Secularism, in: Azzam tamini / John esPosito (Hg.), Islam and Secularism in the Middle East, New York 2000, S. 13–28, S. 17.

12 Für die laizistischen Schulprojekte Oliviers (1896–1904) und Augiers (1903–1909) vgl. Jacques thoBie, La Préhistoire de l’enseignement laïque français à Beyrouth (1897–1909), in: Walid arBid / Simone dreyFus / Edmond Jouve (Hg.), La Francophonie au Liban. Actes du sixième colloque international francophone du Canton de Payrac et du Pays du Quercy, Paris 1997, S. 159–197.

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ont acquis ces résultats en un temps où les travaux, d’ailleurs méritoires, de la

›Mission laïque‹ sur le pourtour de la Méditerranée orientale commençaient à peine«13. In der Tat setzten die katholischen Schulen oftmals, wie von der Mission laïque kritisiert, französische und katholische Präsenz gleich, wenn sie davon sprachen, dass Frankreich seit vier Jahrzehnten großen Einfluss in Syrien habe: »Rappelons-nous d’autre part l’influence réelle et constante que la France exerce depuis quatre siècles en Syrie«14.

Um weiterhin als Vertreter dieses Einflusses agieren zu können, wehrten sich die katholischen Orden Anfang des 20. Jahrhunderts vehement gegen die Ankunft der Mission laïque. Sie konstruierten eine Parallele zwischen Frankreich und dem Libanon, die beide von dem Schreckensgespenst des Laizismus heimgesucht würden: »Le Liban, comme notre pauvre France, est à un tournant de l’histoire; les esprits se montrent poussés par la secte maudite; l’indifférence religieuse gagne […]«15, schrieb ein Lazarist 1907 nach Paris. Ein wichtiger Grund für die Betonung der Tradition französi-scher Präsenz im Libanon lag für die katholischen Orden auch in der Sicher-heit, die ihnen die militärische und politische Einflussnahme Frankreichs immer gab. Dies wurde ihnen besonders deutlich in Zeiten, in denen die-ses Gewicht nicht mehr garantiert schien, wie im Zuge der antiklerikalen Gesetzgebung in Frankreich Amfang des 20. Jahrhunderts. In solchen Situ-ationen verwiesen sie verstärkt auf die Tradition des französischen Einflus-ses in Syrien und Libanon16. Die Verbundenheit mit der militärischen und politischen Präsenz Frankreichs führte allerdings auch manchmal zu einem Gefühl der Scham, wenn Frankreich nach Ansicht der Orden nicht energisch genug für die Christen des Libanons eintrat17.

Während die katholischen Orden die französische Präsenz im Libanon mit dem Christentum gleichsetzten, stellten auch die Verantwortlichen der Alli-ance israélite universelle ihre traditionelle Rolle als Mediatoren Frankreichs

13 Georges rigault, Histoire de l’Institut des Frères des Écoles chrétiennes, Bd. VIII, Paris 1937, S. 481.

14 SJ/Vanves, RPO, 62, »L’Enseignement à l’université Saint-Joseph. Le point de vue de l’élève«, 30.10.1931 (Autor P. J. Honiskiss).

15 Vgl. LAZ/Paris, »Tripoli Correspondance 1892–1913«, Brief von Thomas aus Tripoli, 31.05.1907: »Le Liban, comme notre pauvre France, est à un tournant de l’histoire; les esprits se montrent poussés par la secte maudite; l’indifférence religieuse gagne […]«.

16 Vgl. LAZ/Paris, »Beyrouth Correspondance 1896–1918«, Brief von Boury, Beirut, 14.09.1903:

»Au point de vue de l’existence de nos œuvres, l’avenir paraît sombre. Nous vivons ici des secours de la France. Qu’elle vienne à nous manquer, et je ne sais trop ce que nous deviendrons, surtout nos sœurs«.

17 Ebd.: »La France lâche la Syrie! le Liban! les Maronites. Le moment est très critique pour notre influence. Si la France n’intervient pas énergiquement, les Maronites vont faire appel aux Ang-lais. On dit que le patriarche est décidé à en finir avec une protection dont il ne retire que des déboires«.

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im Libanon heraus. So unterstrich eine Publikation des Kongresses der Alli-ance israélite 1960 in Paris, dass die jüdische Organisation »von Anfang an dabei gewesen sei«:

[A]ppuyés par la représentation diplomatique et consulaire de la France, dont ils appelaient l’attention sur la situation des juifs du pays chaque fois que la nécessité s’en présentait, les directeurs étaient devenus des agents de liaison entre la communauté juive et les autorités consulaires et autochtones. Ils sont parvenus ainsi à être considé-rés comme des personnalités diplomatiques18.

Mit dieser Darstellung der Tradition französischer Präsenz im Libanon reproduzierten die verschiedenen Institutionen und ihre Akteure den Diskurs einer reichhaltigen französischen Literatur über den Orient, die in Frank-reich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zirkulierte und sehr populär war19. Die Forschung hat im Anschluss an Said zu Recht deutlich gemacht, wie stark die Beschreibung des Fremden auch Aufschluss über das Eigene gibt20. Diese Dimension steht aber im Folgenden weniger im Fokus als die starke Prägung der Schulvertreter in ihrer Wahrnehmung und Beschreibung des Libanons durch die Reiseliteratur.

Die Autoren dieser Reiseberichte über den Orient waren französische Schriftsteller des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts, die zum Kanon der französischen Literatur gehörten, und von denen viele ihre Reise in den Ori-ent schriftlich festgehalten hatten. ProminOri-ente Autoren wie Gustave Flaubert und Alphonse de Lamartine stellten die französische Präsenz im Libanon als selbstverständlich dar, auch wenn sie sie unterschiedlich beurteilten21. Dabei bedienten sie sich selber auch anderer Reiseberichte älterer Auto-ren und schrieben so die Kontinuität der französischen Präsenz im Libanon

18 Jacques Preciado, L’œuvre de l’Alliance Israélite Universelle au Liban, Congrès de l’AIU, Paris 1960, S. 2.

19 Bis heute hat dieser Diskurs in manchen Werken überlebt. Vgl. z. B. Pierre duFour, La France au Levant, Paris 2001, S. 13, der sogar von einer jahrtausendealten Präsenz Frankreichs in der Levante spricht: »La France, qui entretient depuis près d’un millénaire des rapports commerci-aux et culturels féconds avec les États du Levant, est maintes fois impliquée dans les problèmes du Proche-Orient […]«.

20 Vgl. KlinKenBerg 2009, S. 149; Felix Konrad, Von der ›Türkengefahr‹ zu Exotismus und Ori-entalismus: Der Islam als Antithese Europas (1453–1914)?, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010. URL: http://www.ieg-ego.eu/konradf-2010-de (14.03.2012).

21 Flaubert beschreibt in sehr kritischen Worten den französischen Konsul in Damaskus 1850.

Vgl. Gustave FlauBert, Reise in den Orient. Ägypten, Nubien, Palästina, Libanon. Aus dem Französischen von Reinhold Werner und André Stoll, Frankfurt am Main 1985, S. 284. Lamar-tine hingegen, der von 1830–1832 dort war, bewunderte den Orient, auch wenn er die kolo-nialen Absichten Frankreichs teilte. Vgl. Denise Brahimi, Volney et Lamartine. Les jeux de l’Orient et de la différence, in: Ilana zinguer (Hg.), Miroirs de l’Altérité et Voyages au Proche-Orient, Genf 1991, S. 289–293.

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fort22. Dieser Intertext wurde von den Schulen wiederum reproduziert. Bei-spielsweise zitiert die Chronik der Lazaristenschule in Ayntoura Lamartines Beschreibung ihrer Schule. Darin nahm er mehrmals Bezug auf die Reisebe-richte Constantin François Volneys aus dem 18. Jahrhundert:

[…] d’orangers magnifiques, cités déjà par Volney comme les plus beaux et les plus an-ciens de la Syrie; ils […] portent sur leurs troncs les noms de Volney et de voyageurs anglais qui avaient, comme nous, passé quelques moments à leurs pieds23.

Auch die Mission laïque und die anderen französischen Schulen rezipierten diese Werke, die sie in ihren Schulbibliotheken führten24. Damit reproduzier-ten die Schulen die Konstruktion Lamartines eines Bildes vom »imaginary Orient«, der nach Edward Said Europa gegenüber schwach und unterlegen war, »as if it were a personal (or at the very least a French) province ready to be disposed of by European powers«25.

Die Vertreter der französischen Schulen waren aber nicht nur Reprodu-zenten dieser Diskurse. Insbesondere die Jesuiten verfassten viele Reise- und Erfahrungsberichte sowie wissenschaftliche Abhandlungen über den Nahen Osten. Mit dem dreifachen Ziel, Unterstützung zu erlangen, Wissen zu ver-breiten und mit dem Orden beziehungsweise den Christen in der Heimat in Kontakt zu bleiben26, trugen die Jesuiten maßgeblich zur Verbreitung von Informationen über den Orient in Europa bei27.

Zu den ›orientalistischen‹ Autoren, die sowohl in Frankreich als auch von den Schulen im Libanon intensiv rezipiert wurden, zählte ferner der Schrift-steller und Wissenschaftler Ernest Renan. Auch wenn Renans Hauptinter-esse nicht der französischen Präsenz im Orient galt, sondern der wertenden Gegenüberstellung von Islam und westlicher Zivilisation und Wissenschaft28,

22 Wie Achim Landwehr in seinem Werk Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos 1570–1750, Paderborn u.a. 2007, deutlich gemacht hat, erklärt sich die oft wörtliche Wiederho-lung eines vormaligen Reiseberichts durch die Reisenden aus deren Bedürfnis heraus, sich und ihre Leserschaft dieses Wissens zu vergewissern.

23 Alphonse de lamartine, Voyage en Orient, zitiert in: Victor hachem, Antoura de 1657 à nos jours. Une histoire du Liban, Antoura 2003, S. 99.

24 Für die Mission laïque siehe AN/Paris, 60 AJ 123, »Commande bibliothèque«: Direktor Mathieu bestellte 1919–1920 Bücher von Nerval, Chateaubriand, Lamartine und Renan.

25 said 1978, S. 177–178.

26 Vgl. Bernard heyBerger / Chantal verdeil, Sprirituality and Scholarship: The Holy Land in Jesuit Eyes (Seventeenth to Nineteenth Century), in: Heleen murre-vanden Berg (Hg.), New Faith in Ancient Lands. Western Missions in the Middle East in the Nineteenth and Early Twen-tieth Centuries, Leiden / Boston 2006, S. 19–41, S. 20.

27 Besonders rührig und einflussreich war für Libanon und Syrien der belgische Jesuitenpater Henri Lammens, vgl. Kapitel 5.4.

28 Vgl. KlinKenBerg 2009, S. 509–516. In der berühmten Auseinandersetzung mit dem muslimi-schen Gelehrten Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī hatte Renan behauptet, es habe keine genuin arabi-sche Philosophie und Wissenschaft gegeben, weil die Philosophen keine Araber waren,

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präsentierte er sich als Teil und als Nutznießer der französischen Position im Orient. Im Vorwort seiner Mission de Phénicie von 1860 über die Ausgrabun-gen in Baalbek unterstreicht er die hilfreiche Präsenz der französischen Sol-daten für seine Grabungsarbeiten: »[…] ces commissions scientifiques que la France, en sa noble préoccupation des choses de l’esprit, a toujours asso ciées à ses expéditons militaires […]«29. Hier stellt sich Renan eindeutig in die Linie der Ägyptenexpedition Napoleons, die neben einer Armee auch viele Wissenschaftler mit sich geführt hatte30.

Ein besonders prominenter Vertreter der Betonung der französischen Tra-dition im Libanon war Anfang des 20. Jahrhunderts der Schriftsteller und politische Aktivist Maurice Barrès. Er träumte zwar von der Schaffung einer »franko-orientalischen Zivilisation«, war aber von der Überlegenheit Frankreichs überzeugt und sah im Orient nur die Inkarnation einer

Ein besonders prominenter Vertreter der Betonung der französischen Tra-dition im Libanon war Anfang des 20. Jahrhunderts der Schriftsteller und politische Aktivist Maurice Barrès. Er träumte zwar von der Schaffung einer »franko-orientalischen Zivilisation«, war aber von der Überlegenheit Frankreichs überzeugt und sah im Orient nur die Inkarnation einer

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