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Dexippos und Thukydides

Im Dokument Empire in Crisis: (Seite 147-159)

Im späten 5. und wohl in den ersten Jahren des 4. Jh. v. Chr. verfasste der Athener Thukydides ein nach antiker und heutiger Sicht äußerst anspruchsvolles Geschichts-werk über den Peloponnesischen Krieg, das unmittelbar nach seiner Veröffentlichung die uneingeschränkte Akzeptanz sowohl bei den Fachgenossen als auch beim allge-meinen Lesepublikum gewann.1 Diese Anerkennung führte in späterer Zeit dazu, dass seine Geschichte des Peloponnesischen Krieges mehrere griechische und römische Historiker beeinflusste.

In diesem Beitrag möchte ich zum einen auf die strukturellen, sprachlichen und stilistischen Elemente aufmerksam machen, welche in den Scythica Vindobonensia begegnen2 und auf den Einfluss von Thukydides zurückzuführen sind, und zum ande-ren möchte ich zeigen, dass der Autor des Wiener Palimpsests, der höchstwahrschein-lich mit dem Athener Historiker Dexippos zu identifizieren ist, Thukydides in Sprache, Stil und teilweise Gedankengut bewusst imitierte.3 Die Studie soll darüber hinaus auch zur Erforschung des literarischen Charakters der neuen Fragmente dienen sowie zur Identifizierung ihres Autors beitragen. Im folgenden habe ich die Gemeinsam-keiten zwischen den beiden Texten in zwei Kategorien gruppiert: a) strukturelle Ele-mente, b) einzelne Sprach- und Stilelemente. Innerhalb jeder der beiden Kategorien wird das Material in weitere Unterkategorien eingeteilt.

1 Bezeichnend für die Akzeptanz von Thukydides bei seinen Fachgenossen ist die Rezep-tion des thukydideischen Werkes in der nachklassischen Antike und in Byzanz (zu Beispielen s. Hornblower 2002, Sp. 511). Für das allgemeine Lesepublikum sei auf die sehr große Anzahl von bereits edierten Papyri und antiken Pergamenten verwiesen; hierzu s. Bouquiaux-Simon / Mertens 1991; Pellé 2010; Pellé 2012; Bravo 2012 und Papathomas 2016. Die aktuellste Liste von Belegen (insgesamt 93 Zeugnisse bis heute) ist im letztgenannten Beitrag (S. 217–274) zu finden.

2 Vgl. die vorläufige Transkription im Anhang I dieses Bandes, S. 543–548. Im folgen-den wird der Text in normalisierter Form, entsprechend modernen Textausgaben, gegeben.

3 Zum Einfluss von Thukydides auf Dexippos s. bereits Stein 1957, 8–71; Martin 2006, 210–256; Martin / Grusková 2014b, bes. 742; Martin / Grusková 2014a, bes. 114–116 sowie die Beiträge von Herbert Bannert und András Németh in diesem Band, passim. Das im letzt-genannten Beitrag neuedierte und kommentierte Proömium der Scythica erlaubt uns weitere thukydideische Einflüsse auf Dexippos zu erkennen, wie etwa das Konzept des Aufstiegs und des Niedergangs der politischen Macht und die Überzeugung, dass die geheimen Regeln, welche das ständige Wechseln im militärisch-politischen Geschehen oder in Naturphänomenen wie Epi-demien und Erdbeben bestimmen, von den Menschen erkennbar und analysierbar sind.

I. Strukturelle Elemente

Die strukturellen Elemente können in sieben Unterkategorien gruppiert werden:

1. Die Verwendung von Demegorien. 2. Die Verwendung von Gnomen. 3. Die Ver-wendung von Substantiven im Neutrum Singular als Kollektiva. 4. Die Schilderung einzelner Episoden. 5. Das Vorkommen von Äußerungen, die für die Weltanschauung des Thukydides charakteristisch sind. 6. Die Haltung zu den Göttern. 7. Die Auf-fassung der kriegerischen Auseinandersetzungen als Teile eines einzigen Krieges.

I.1. Demegorien

Die Demegorien, d.h. die großteils fiktiven Reden, mit denen Thukydides seine historische Darstellung geschmückt und ergänzt hat, sind typisch für seinen Stil und seine Erklärungsmethoden. Ähnlich wie er dekoriert auch der Autor der Scythica Vindobonensia sein Geschichtswerk mit Reden bedeutender Persönlichkeiten. Den beiden in den bereits edierten Fragmenten der Scythica Vindobonensia vorhandenen Fällen — der Rede des römischen Feldherrn Marianus vor der Versammlung seiner griechischen Soldaten bei den Thermopylen (Fol. 193r, 14ff.) und der Rede des Kaisers Decius vor der Versammlung seiner Soldaten in „Hamisos“ (?) von „Beroina“ (?) (Fol. 194v, 16ff.) — nach zu urteilen, hatten diese Reden den Charakter der thukydi-deischen Demegorien und spielten in der Darstellung der Ereignisse des 3. Jh. n. Chr.

mehr oder weniger dieselbe strukturelle Rolle, welche die Demegorien des Thukydides bei der Erzählung des Peloponnesischen Krieges spielten. Dabei dürfte es sich um Reden von bedeutenden politischen und militärischen Persönlichkeiten handeln, die bei besonders wichtigen Gelegenheiten gehalten wurden, um eine große politische oder militärische Menschenversammlung zu beraten oder zu ermutigen. Ähnlich wie bei Thukydides dürften diese Demegorien auch in den Scythica Vindobonensia dazu gedient haben, die wirklichen Gründe der Ereignisse und die tieferen Motive und Motivationen der Politiker, der Militärs, der Bürger und der diversen Volksgruppen zu beleuchten. Die Reden von Marianus und Decius finden zahlreiche Parallelen in den Demegorien von Strategen aus Athen, Sparta, Syrakus und vielen anderen Städten vor wichtigen Schlachten. Die Adoption eines so markanten Charakteristikums der thukydideischen Darstellung durch den Historiker der skythischen Kriege weist deut-lich darauf hin, dass die Nachahmung des Historikers des Peloponnesischen Krieges einen programmatischen Charakter hat. Dass schon dem antiken bzw. dem mittel-alterlichen Leser klar war, dass die Rede des Decius strukturell dieselbe Rolle wie die thukydideischen Demegorien spielte, ergibt sich deutlich aus der Verwendung des Terminus δημηγορία in einem Scholion zu Beginn der Rede, das am linken Rand des Blattes 194v, 15–16, angebracht ist: „Δε]κίου | [δ]ημη|[γ]ορί|α: -“.

I.2. Gnomen (vor allem in Demegorien)

Ein zweites strukturelles Element, das den Stil beider Werke prägt, ist die systema-tische Verwendung von Gnomen. Vor allem die Demegorien — allen voran die thuky-dideischen Demegorien — sind durch den Gebrauch von Gnomen gekennzeichnet.

Man könnte zwar diesbezüglich darauf aufmerksam machen, dass die gnomologische

Rede sich einer großen Verbreitung in der griechischen Literatur erfreute und auch bei anderen Autoren und Literaturgattungen, z.B. dem Drama, des öfteren begegnet.

Trotzdem kann man davon ausgehen, dass es sich hier um eine alte historiographische Tradition handelt, deren Anfänge bis zum Beginn der Geschichtsschreibung zurück-verfolgt werden können, die sich bei Thukydides jedoch als ein wichtiges Element des historiographischen Stils etablierte.

Ein schönes Beispiel für die Verwendung von Gnomen liefern Scyth. Vindob., Fol. 194v, 20–22: ἀνδρῶν ἂν εἴη σωφρόνων δε̣χομένους τὰ συμβαίνοντα μὴ χείρους εἶναι τα̣ῖς γνώμαις und Thuk. I 120, 3: ἀνδρῶν γὰρ σωφρόνων μέν ἐστιν, εἰ μὴ ἀδικοῖντο, ἡσυχάζειν, ἀγαθῶν δὲ ἀδικουμένους ἐκ μὲν εἰρήνης πολεμεῖν (man be-achte, dass es auch weitere Gnomen bei Thukydides gibt, die sich mit dem Verhalten der besonnenen Männer [σώφρονες ἄνδρες] befassen, wie etwa Thuk. IV 18, 4). Inter-essanterweise erscheint eine vergleichbare Gnome über das Verhalten von besonnenen Männern auch in den durch die mittelalterliche Überlieferung schon lange bekannten Dexippos-Fragmenten (F3b Martin = F2b Mecella [F32b Jacoby]): Σωφρόνων δὲ ἀνδρῶν τοῖς τε ἐκ τῆς τύχης προφαινομένοις εὖ χρήσασθαι καὶ ἅμα συνέσει ἐς τὰς πράξεις ἰόντας μὴ παριέναι τῶν καιρῶν τὸ ἐφεστηκὸς μηδὲ μεταστάντων εἰς μετα-μέλειαν ἥκειν τοῦ παροφθέντος.

Bei der Auswertung des Befunds ist jedoch auf eine weitere, noch frühere histo-riographische Parallele hinzuweisen, nämlich auf das Proömium von Herodot (Ι 4, 2):

τὸ μέν νυν ἁρπάζειν γυναῖκας ἀνδρῶν ἀδίκων νομίζειν ἔργον εἶναι, τὸ δὲ σέων σπουδὴν ποιήσασθαι τιμωρέειν ἀνοήτων, τὸ δὲ μηδεμίαν ὤρην ἔχειν ἁρπασθει-σέων σωφρόνων.

Dazu sollte man auf zwei Parallelen aus dem Werk des Athener Historikers Xenophon aufmerksam machen, nämlich Hellenika VI 3, 5: καὶ σωφρόνων μὲν δήπου ἐστὶ μηδὲ εἰ μικρὰ τὰ διαφέροντα εἴη πόλεμον ἀναιρεῖσθαι und Oikonomikos 7, 15:

ἀλλὰ σωφρόνων τοί ἐστι καὶ ἀνδρὸς καὶ γυναικὸς οὕτω ποιεῖν, ὅπως τά τε ὄντα ὡς βέλτιστα ἕξει καὶ ἄλλα ὅτι πλεῖστα ἐκ τοῦ καλοῦ τε καὶ δικαίου προσγενήσεται.

Es ist offensichtlich, dass sich alle vier Historiker, die übrigens entweder Athener oder mit Athen eng verbunden waren, eines gemeinsamen Motivs über das Benehmen des Weisen bedienen. Dieses Motiv, das in der Historiographie bis Herodot zurück-verfolgt werden kann, ist in einen didaktischen Kontext einzuordnen, der auch einen wichtigen Aspekt der antiken Geschichtsschreibung darstellt.

I.3. Substantive im Neutrum Singular als Kollektiva

Die Verwendung von Substantiven im Neutrum Singular als Kollektiva gehört zu den typischen Merkmalen der Sprache des Thukydides. Es gibt sogar mehrere Kollektiva, die sich sowohl bei Thukydides als auch in den Scythica Vindobonensia nachweisen lassen. Zwei charakteristische Beispiele liefern die Wörter τὸ στρατιωτι-κόν und τὸ ὑπήκοον.

a) τὸ στρατιωτικόν: vgl. Scyth. Vindob., Fol. 194v, 2: τὸ στρατιωτικόν und Thuk.

VIII 83, 3: καὶ ξυνιστάμενοι κατ’ ἀλλήλους οἷάπερ καὶ πρότερον οἱ στρατιῶται ἀνελογίζοντο καί τινες καὶ τῶν ἄλλων τῶν ἀξίων λόγου ἀνθρώπων καὶ οὐ μόνον τὸ

στρατιωτικόν, ὡς οὔτε μισθὸν ἐντελῆ πώποτε λάβοιεν, τό τε διδόμενον βραχὺ καὶ οὐδὲ τοῦτο ξυνεχῶς.

b) τὸ ὑπήκοον: vgl. Scyth. Vindob., Fol. 194v, 16–17: ἥ τε στρατιωτικὴ σύνταξις

καὶ πᾶν τὸ ὑπήκοον und Thuk. VI 69, 3: τὸ δ’ ὑπήκοον τῶν ξυμμάχων μέγιστον μὲν περὶ τῆς αὐτίκα ἀνελπίστου σωτηρίας.

I.4. Die Schilderung einzelner Episoden

Trotz des relativ kleinen Umfangs der bereits publizierten Fragmente der Scythica Vindobonensia kann man meines Erachtens thukydideische Einflüsse bei der Schil-derung von zwei einzelnen Episoden des Krieges erkennen: a) die Belagerung von Philippopolis (Fol. 195rv) erinnert an Belagerungen, die Thukydides in seinem Werk schildert, wie etwa die Belagerung von Potidaia zu Beginn des Peloponnesischen Krieges (Thuk. I 56–II 70); b) die Rede des römischen Kaisers Decius vor der Ver-sammlung seiner Soldaten in „Hamisos“ (?) von „Beroina“ (?) (Fol. 194v, 16–30) erinnert an die Reden bedeutender Feldherrn vor entscheidenden Schlachten, wie etwa die letzte Rede des Athener Strategen Nikias vor der Heeresversammlung bei Syrakus kurz vor der endgültigen Niederlage der Athener (Thuk. VII 77). Selbstverständlich wäre eine These wie etwa, dass die Belagerung von Potidaia der primäre Subtext für die Schilderung der Belagerung von Philippopolis ist oder dass die Nikiasrede die wichtigste Inspirationsquelle für die Deciusrede war, nicht zu beweisen.

I.5. Für die Weltanschauung von Thukydides charakteristische Äußerungen Das Vorkommen von typisch thukydideischem Gedankengut in den Scythica Vin-dobonensia kann manchmal überraschend wirken, vor allem wenn der thukydideische Gedanke keine allgemeine Geltung besitzt, sondern zeitspezifisch ist und mit der Welt des 3. Jh. n. Chr. wenig zu tun hat. Das beste Beispiel dafür liefert die etwas un-geschickte Übernahme der bei Thukydides häufigen abwertenden Äußerungen über das Benehmen der Menge. In Fol. 195r, 11 der Scyth. Vindob. liest man: οἷα ἐν ὁμίλῳ φιλεῖ συμβαίνειν,4 eine Formulierung, die in leicht abweichender Form an vier thu-kydideischen Stellen vorkommt: Thuk. II 65, 4: ὕστερον δ’ αὖθις οὐ πολλῷ, ὅπερ φιλεῖ ὅμιλος ποιεῖν, στρατηγὸν εἵλοντο καὶ πάντα τὰ πράγματα ἐπέτρεψαν und ferner IV 28, 3: οἷον ὄχλος φιλεῖ ποιεῖν; VI 63, 2: οἷον δὴ ὄχλος φιλεῖ θαρσήσας ποιεῖν und VIII 1, 4: ὅπερ φιλεῖ δῆμος ποιεῖν. Die stark politisch gefärbten Äußerungen des Thukydides werden in einem — mindestens teilweise — abweichenden Kontext übernommen (die Rede ist hier vom menschlichen Verhalten unter dem Einfluss von Habgier, insbesondere bei den Thrakern). Der Autor müsste sich der Tatsache bewusst sein, dass die Übernahme der Formulierung des Thukydides (selbst in leicht modifi-zierter Form) nicht ganz geglückt ist, da es sich bei Thukydides um eine abwertende

4 Vgl. auch das Proömium der Scythica im Codex Vat. gr. 73, f. 54r (p. 107), Z. 17–18 (vgl. A. Németh in diesem Band, S. 126): ἅπερ ὁ μὲν | πολὺς ὅμιλος· ὤιετο τῶν ἐσ̣ομένων φέρειν ἐς προδήλωσιν.

Äußerung über das politische Benehmen der Menge handelt, die im Rahmen des poli-tischen Diskurses des späten 5. Jh. v. Chr. zu verstehen ist, während er selbst eine politisch neutrale Beobachtung über die menschliche Habgier macht. Trotzdem konnte er dem Versuch nicht widerstehen, die Phrase seines berühmten Vorgängers zu ver-wenden, um ihn nachzuahmen und dadurch etwas von seinem Ruhm zu „stehlen“.

I.6. Die Haltung zu den Göttern

Anders als bei Homer, wo die Götter omnipräsent sind, und bei Herodot, wo die Gottheit (τὸ θεῖον) als abstrakter Ausdruck des Göttlichen immer wieder eine bedeu-tende Rolle spielt, ist das göttliche Element in der Geschichtserzählung von Thukydi-des vollkommen abwesend. Dies ist auch bei den erhaltenen Fragmenten der Scythica Vindobonensia der Fall, wo weder Götter noch τὸ θεῖον auftauchen. Ähnlich wie bei Thukydides (und bei vielen späteren Historikern, die dem Beispiel von Thukydides folgten) sind die Menschen auch in diesem Werk die einzige treibende Kraft der Ge-schichte.5

I.7. Die Auffassung der kriegerischen Auseinandersetzungen als Teile eines einzigen Krieges

In seinem berühmten zweiten Proömium (V 26, 1–3) erklärt Thukydides, dass man die verschiedenen Phasen des Peloponnesischen Krieges als einen einzigen Krieg auf-fassen sollte und dass der Nikias-Friede eigentlich nur eine ungewisse Waffenruhe war: ἔτη δὲ ἐς τοῦτο τὰ ξύμπαντα ἐγένετο τῷ πολέμῳ ἑπτὰ καὶ εἴκοσι. καὶ τὴν διὰ μέσου ξύμβασιν εἴ τις μὴ ἀξιώσει πόλεμον νομίζειν, οὐκ ὀρθῶς δικαιώσει … ὥστε ξὺν τῷ πρώτῳ πολέμῳ τῷ δεκέτει καὶ τῇ μετ’ αὐτὸν ὑπόπτῳ ἀνοκωχῇ καὶ τῷ ὕστε-ρον ἐξ αὐτῆς πολέμῳ εὑρήσει τις τοσαῦτα ἔτη κτλ. Ähnlich scheint der Autor der Scythica Vindobonensia, soweit die Fragmente eine Aussage zu dieser Thematik erlauben, die gotischen Einfälle als Einzelepisoden eines und desselben Krieges zu behandeln. Dieser Eindruck wird jetzt durch das im vorliegenden Band von András Németh neuedierte Proömium der Scythica verstärkt; vgl. bes. den Singular in Z. 11–

12: ὅσ̣α συνηνέχθη γενέσθαι ἐν παντὶ τῷ πολέμῳ τούτῳ (S. 125).

II. Einzelne Sprach- und Stilelemente Typisch thukydideische sprachliche Elemente

Neben diesen strukturellen Gemeinsamkeiten begegnen im Text der Scythica Vindobonensia auch viele vereinzelte Sprachelemente, die entweder typisch für oder sehr beliebt bei Thukydides sind. Dabei handelt es sich vor allem um: 1) syntaktische Konstruktionen, 2) typische einzelne Wendungen und 3) markante Einzelwörter.

5 Ähnlich ist der Befund auch im neuedierten Proömium der Scythica anhand des Codex Vat. gr. 73, f. 54r und f. 54v, Z. 1–3 (pp. 107–108) (vgl. A. Németh in diesem Band, S. 125–127): Auch dort sind die Götter und das göttliche Element völlig abwesend.

II.1. Syntaktische Konstruktionen

An vielen Stellen der Scythica Vindobonensia findet der Leser syntaktische Kon-struktionen, die an Thukydides erinnern und eventuell von ihm beeinflusst sind, ohne dass man natürlich über die Quelle absolut sicher sein kann. Ein charakteristisches Beispiel stellt die Wendung ὥρμηντο + Infinitiv dar, die in Fol. 192v, 14–16 der Scythica Vindobonensia vorkommt: συ̣ν̣ῄ̣ε̣σα̣ν̣ ἐ̣ς Πύλας καὶ κατὰ τα̣ὐ̣τόθι στεν̣ὰ̣ τῶν̣

π̣α̣ρόδων̣ ἐξείργειν αὐτοὺς ὥρμηντο. Die Konstruktion begegnet bei Thukydides etwa im bekannten Passus II 59, 2, wo von der feindseligen Haltung der Athener gegen-über Perikles nach dem Anfang des Krieges und der ersten Invasion der Spartaner in Attika die Rede ist sowie von ihrem Plan, zu einem Frieden mit den Spartanern zu kommen: καὶ τὸν μὲν Περικλέα ἐν αἰτίᾳ εἶχον ὡς πείσαντα σφᾶς πολεμεῖν καὶ δι’

ἐκεῖνον ταῖς ξυμφοραῖς περιπεπτωκότες, πρὸς δὲ τοὺς Λακεδαιμονίους ὥρμηντο ξυγχωρεῖν. Der Autor der Scythica Vindobonensia könnte eine berühmte Stelle wie diese auch durch den Schulunterricht gekannt und verinnerlicht haben. Aus Platz-mangel verzichte ich auf weitere Beispiele; vgl. nur die Konstruktion οἱ ἀμφὶ τὸν Personennamen im Akk. + Partizip in Scyth. Vindob., Fol. 195v, 17–18: οἱ ἀμφὶ τὸν Κνίβαν πολὺ ἐπιρρωσθέντες καὶ συνέντες τοῦ συνθήματος κτλ. und bei Thuk. VIII 65, 1: οἱ δὲ ἀμφὶ τὸν Πείσανδρον παραπλέοντές τε, ὥσπερ ἐδέδοκτο, τοὺς δήμους ἐν ταῖς πόλεσι κατέλυον.6

II.2. Einzelne Ausdrücke

In den Scythica Vindobonensia kommen des öfteren Ausdrücke vor, die charak-teristisch für die Sprache des Thukydides sind und die in demselben Kontext wie bei Thukydides erscheinen. Um nur zwei Beispiele zu nennen, vgl. die Wendungen: a) μὴ κάτοπτος (o.ä.) εἶναι in Scyth. Vindob., Fol. 195r, 7–8: ἀπε̣ί̣χοντο δὲ νύκτωρ πῦρ ἀν̣ακαίειν δέει τοῦ μὴ κάτοπτοι εἶναι und bei Thuk. VIII 104, 5: τῷ δὲ μέσῳ, τοιού-του ξυμβαίνοντος, ἀσθενέσι καὶ διεσπασμέναις ταῖς ναυσὶ καθίσταντο, ἄλλως τε καὶ ἐλάσσοσι χρώμενοι τὸ πλῆθος καὶ τοῦ χωρίου τοῦ περὶ τὸ Κυνὸς σῆμα ὀξεῖαν καὶ γωνιώδη τὴν περιβολὴν ἔχοντος, ὥστε τὰ ἐν τῷ ἐπέκεινα αὐτοῦ γιγνόμενα μὴ κάτ-οπτα εἶναι; b) ἐπιβουλὴν παρασκευάζειν in Scyth. Vindob., Fol. 195r, 6–7: ὡς ἐξ ὀλίγου τὴν ἐπιβουλὴν παρασκευασθῆναι und bei Thuk. IV 77, 1: ἡ μὲν οὖν ἐπι-βουλὴ τοιαύτη παρεσκευάζετο. Obwohl nicht beweisbar, scheint mir die Annahme möglich, dass es sich dabei um Entlehnungen aus Thukydides handelt.

Sollte dies der Fall sein, so könnte man in Fällen, wo der Ausdruck nur einmal bei Thukydides vorkommt, genau bestimmen, von welcher thukydideischen Stelle sich der Verfasser der Scythica Vindobonensia beeinflussen ließ. Dies ist z.B. an den fol-genden sechs Stellen der Fall:

6 Zur hier diskutierten Thematik und weiteren sowohl syntaktischen als auch lexikali-schen Parallelen vgl. ferner die Aufsätze von Mallan / Davenport 2015 (bes. 207–209), Lucarini 2016 (bes. 43) und den Beitrag von C. M. Lucarini in diesem Band, S. 73–94.

a) Scyth. Vindob., Fol. 192v, 4–7: ὡς δὲ ο̣ἵ τε ἀπὸ τοῦ τείχου̣ς ε̣ὐ̣ρ̣ώ̣στ̣ως ἠ̣μ̣ύ̣-νοντ̣ο̣ πολυ̣χε̣ιρίᾳ τὰς τάξεις ἀμύν̣οντε̣ς καὶ προ̣υ̣χώρ̣ει οὐ̣δὲν ἐς ἐλπίδας; vgl. Thuk.

VI 103, 2: ἦλθον δὲ καὶ τῶν Σικελῶν πολλοὶ ξύμμαχοι τοῖς Ἀθηναίοις, οἳ πρότερον περιεωρῶντο, καὶ ἐκ τῆς Τυρσηνίας νῆες πεντηκόντοροι τρεῖς. καὶ τἆλλα προυχώρει αὐτοῖς ἐς ἐλπίδας.7

b) Scyth. Vindob., Fol. 195r, 10–11: καί τι καὶ στασιασμοῦ ἐς τοὺς δυνατοὺς ἐμπεσόν; vgl. Thuk. IV 130, 1: τῇ δ’ ὑστεραίᾳ οἱ μὲν Ἀθηναῖοι περιπλεύσαντες ἐς τὸ πρὸς Σκιώνης τό τε προάστειον εἷλον καὶ τὴν ἡμέραν ἅπασαν ἐδῄουν τὴν γῆν οὐδενὸς ἐπεξιόντος (ἦν γάρ τι καὶ στασιασμοῦ ἐν τῇ πόλει) κτλ.

c) Scyth. Vindob., Fol. 195r, 19–20: ἐξάγγελος γίγνεται τῶν κατὰ τὴν πόλιν τῷ Κνίβᾳ οὗτος; vgl. Thuk. VIII 51, 1: αὐτὸς προφθάσας τῷ στρατεύματι ἐξάγγελος γίγνεται ὡς οἱ πολέμιοι μέλλουσιν … ἐπιθήσεσθαι τῷ στρατοπέδῳ.

d) Scyth. Vindob., Fol. 195v, 2–3: ἐπεὶ δὲ πορευόμενοι κατὰ φῶς σεληναῖον; vgl.

Thuk. II 3, 4: φυλάξαντες ἔτι νύκτα καὶ αὐτὸ τὸ περίορθρον ἐχώρουν ἐκ τῶν οἰκιῶν ἐπ’ αὐτούς, ὅπως μὴ κατὰ φῶς θαρσαλεωτέροις οὖσι προσφέροιντο καὶ σφίσιν ἐκ τοῦ ἴσου γίγνωνται, ἀλλ’ ἐν νυκτὶ φοβερώτεροι ὄντες ἥσσους ὦσι τῆς σφετέρας ἐμπειρίας τῆς κατὰ τὴν πόλιν.

e) Scyth. Vindob., Fol. 195v, 5–6: προσέβαλλον τῷ τείχει; vgl. Thuk. II 25, 1: Οἱ δ’ ἐν ταῖς ἑκατὸν ναυσὶ περὶ Πελοπόννησον Ἀθηναῖοι … ἐς Μεθώνην τῆς Λακωνικῆς ἀποβάντες τῷ τείχει προσέβαλον ὄντι ἀσθενεῖ καὶ ἀνθρώπων οὐκ ἐνόντων, Thuk. III 22, 5: καὶ ἅμα οἱ ἐν τῇ πόλει τῶν Πλαταιῶν ὑπολελειμμένοι ἐξελθόντες προσέβαλον τῷ τείχει τῶν Πελοποννησίων und Thuk. III 52, 2: προσέβαλλον αὐτῶν τῷ τείχει, οἱ δὲ οὐκ ἐδύναντο ἀμύνεσθαι.

f) Scyth. Vindob., Fol. 195r, 1–2: ὠπισθοφυλάκουν ἀρετῆς μεταποιούμενοι καὶ δόξαν ἔχοντες ὡς ἀλκιμώτατοι; vgl. Thuk. II 51, 5: εἴτε προσίοιεν, διεφθείροντο, καὶ μάλιστα οἱ ἀρετῆς τι μεταποιούμενοι (auch diese aus der Beschreibung des λοιμός stammende Parallele weist darauf hin, dass der Autor der Scythica Vindobonensia aus bekannten Thukydides-Stellen schöpft).

Ähnliche Ausdrücke erscheinen manchmal in den Scythica Vindobonensia in leicht abweichenden Versionen. Als Beispiele seien folgende Stellen genannt:

a) Scyth. Vindob., Fol. 194v, 13–14: ἔγν̣ω̣ δεῖν το̣ῦ καιροῦ ἐνδιδόντος θαρσῦναι8 τοὺ̣ς στρατ̣ιώτας; vgl. Thuk. V 8, 4: ξυγκαλέσας δὲ τοὺς πάντας στρατιώτας καὶ βουλόμενος παραθαρσῦναί τε καὶ τὴν ἐπίνοιαν φράσαι, ἔλεγε τοιάδε.

b) Scyth. Vindob., Fol. 194v, 19–20: κα̣τὰ τὸν τοῦ θνητοῦ λόγον παντ̣οίας πη-μονὰς ἐπιφέρουσιν; vgl. Thuk. V 18, 4: ὅπλα δὲ μὴ ἐξέστω ἐπιφέρειν ἐπὶ πημονῇ μήτε Λακεδαιμονίους καὶ τοὺς ξυμμάχους ἐπ’ Ἀθηναίους καὶ τοὺς ξυμμάχους μήτε Ἀθηναίους καὶ τοὺς ξυμμάχους ἐπὶ Λακεδαιμονίους καὶ τοὺς ξυμμάχους und Thuk.

V 47, 2: ὅπλα δὲ μὴ ἐξέστω ἐπιφέρειν ἐπὶ πημονῇ μήτε Ἀργείους καὶ Ἠλείους καὶ

7 Hierzu vgl. Mallan / Davenport 2015, bes. 208–209, und den Beitrag von Herbert Bannert in diesem Band, S. 57–58.

8 θαρσύναι Palimpsest.

Μαντινέας καὶ τοὺς ξυμμάχους ἐπὶ Ἀθηναίους καὶ τοὺς ξυμμάχους ὧν ἄρχουσιν Ἀθηναῖοι μήτε Ἀθηναίους καὶ τοὺς ξυμμάχους <ὧν ἄρχουσιν Ἀθηναῖοι> ἐπὶ Ἀρ-γείους καὶ Ἠλείους καὶ Μαντινέας καὶ τοὺς ξυμμάχους.

c) Scyth. Vindob., Fol. 195r, 13–14: ἐπὶ λύσει τοῦ πολέμου. Thukydides verwen-det normalerweise die Ausdrücke κατάλυσις τοῦ πολέμου oder, seltener, διάλυσις πολέμου, vgl. aber die von ihm verwendete Phrase λύω τὸν πόλεμον: Thuk. V 31, 2:

πολέμου γὰρ γενομένου ποτὲ πρὸς Ἀρκάδων τινὰς Λεπρεάταις καὶ Ἠλείων παρα-κληθέντων ὑπὸ Λεπρεατῶν ἐς ξυμμαχίαν ἐπὶ τῇ ἡμισείᾳ τῆς γῆς καὶ λυσάντων τὸν πόλεμον Ἠλεῖοι τὴν γῆν νεμομένοις αὐτοῖς τοῖς Λεπρεάταις τάλαντον ἔταξαν τῷ Διὶ τῷ Ὀλυμπίῳ ἀποφέρειν.

d) Scyth. Vindob., Fol. 195v, 6: καθότι ὁ ἐνδιδοὺς σφίσιν ἐξηγεῖτο; vgl. Thuk. IV

66, 3 βουλόμενοι ἐνδοῦναι τὴν πόλιν. Die Parallele ist bereits im Kommentar zur

vorläufigen Transkription vermerkt.

Schließlich sollte man auf Fälle aufmerksam machen, in denen der Verfasser der Scythica Vindobonensia mit großer Kreativität separat erscheinende thukydideische Sprachelemente verbindet und dadurch neue Synthesen schafft. Diese bestehen manchmal aus leicht modifizierten Einzelelementen. Ein gutes Beispiel dafür liefert der Passus Fol. 195r, 17–19: ἤτοι κατὰ ἔχθος τὸ πρός τινα τῶν ἐν τέλει ἢ καὶ μισθῶν μεγάλων ἐλπίδι, wo die bei Thukydides häufige Wendung κατὰ ἔχθος mit der Phrase μισθῶν μεγάλων ἐλπίδι kombiniert wird, welche wohl die leicht modifizierte Formu-lierung einer Stelle bei Thukydides ist; zum Ausdruck κατὰ ἔχθος bzw. κατὰ (τὸ) ἔχθος vgl. Thuk. IV 1, 2: οἱ δὲ Λοκροὶ κατὰ ἔχθος τὸ Ῥηγίνων, βουλόμενοι ἀμφοτέ-ρωθεν αὐτοὺς καταπολεμεῖν, Thuk. VII 57, 5: οὗτοι δὲ Αἰολῆς Αἰολεῦσι τοῖς κτίσασι Βοιωτοῖς <τοῖς> μετὰ Συρακοσίων κατ’ ἀνάγκην ἐμάχοντο, Πλαταιῆς δὲ καταντικρὺ Βοιωτοὶ Βοιωτοῖς μόνοι εἰκότως κατὰ τὸ ἔχθος und Thuk. VII 57, 7: Κερκυραῖοι δὲ οὐ μόνον Δωριῆς, ἀλλὰ καὶ Κορίνθιοι σαφῶς ἐπὶ Κορινθίους τε καὶ Συρακοσίους, τῶν μὲν ἄποικοι ὄντες, τῶν δὲ ξυγγενεῖς, ἀνάγκῃ μὲν ἐκ τοῦ εὐπρεποῦς, βουλήσει δὲ κατὰ ἔχθος τὸ Κορινθίων οὐχ ἧσσον εἵποντο; zur Phrase μισθῶν μεγάλων ἐλπίδι vgl.

Thuk. VIII 48, 3: διὰ τὸ εὔπορον τῆς ἐλπίδος τοῦ παρὰ βασιλέως μισθοῦ ἡσύχαζεν.

II.3. Markante Wörter

Schließlich gibt es viele einzelne markante Wörter, die in beiden Werken erschei-nen. Ein Beispiel für viele liefert das Wort πολυχειρία; vgl. Scyth. Vindob., Fol. 192v, 4–6: ὡς δὲ ο̣ἵ τε ἀπὸ τοῦ τείχου̣ς̣ ε̣ὐ̣ρ̣ώσ̣τ̣ως̣ ἠμ̣ύ̣νοντ̣ο̣ πολυ̣χε̣ιρίᾳ τὰς τάξεις ἀμύν̣ον-τε̣ς̣ und Thuk. II 77, 3: φοροῦντες δὲ ὕλης φακέλους παρέβαλον ἀπὸ τοῦ χώματος ἐς τὸ μεταξὺ πρῶτον τοῦ τείχους καὶ τῆς προσχώσεως, ταχὺ δὲ πλήρους γενομένου διὰ πολυχειρίαν ἐπιπαρένησαν καὶ τῆς ἄλλης πόλεως ὅσον ἐδύναντο ἀπὸ τοῦ μετεώρου πλεῖστον ἐπισχεῖν, ἐμβαλόντες δὲ πῦρ ξὺν θείῳ καὶ πίσσῃ ἧψαν τὴν ὕλην.

Schlusswort

Der relativ bescheidene Umfang der Scythica Vindobonensia verbietet eine um-fassende Analyse aller Gemeinsamkeiten der beiden Werke in Sprache, Stil und Welt-anschauung. Trotzdem erlaubt das vorhandene Material die Schlussfolgerung, dass

wir es mit einer bewussten Nachahmung zu tun haben, die — zumindest zu einem gewissen Grad — den Stil des Textes prägt, ohne aber servil zu werden. Der Ver-fasser arbeitet meist kreativ und weiß genau, wo er das übernommene Material ohne Änderungen einsetzen und wo er es leicht modifizieren soll. Über die vielen Varia-tionen hinaus lassen sich auch zahlreiche Neoterismen gegenüber Thukydides auf sprachlicher und stilistischer Ebene feststellen, die wegen des großen zeitlichen Abstands zwischen den beiden Werken ohnehin zu erwarten wären und für einen abwechslungsreichen Stil sorgen.

Das Vorkommen der thukydideischen Elemente in den Scythica Vindobonensia ist wohl auf eine programmatische Entscheidung des Autors zurückzuführen, den Athener Historiker in seinem Werk bewusst nachzuahmen. Diese Feststellung könnte auch für die Beantwortung der Frage nach der Identifizierung des Autors der Scythica Vindobonensia nützlich sein. Dexippos wurde in der Bibliothek von Photios explizit mit Thukydides verglichen; vgl. Bibliotheca, cod. 82, p. 64a11–20 (Dexippos T5 Martin = T5 Mecella [T5 Jacoby]): ἀνεγνώσθη Δεξίππου τὰ μετὰ Ἀλέξανδρον ἐν λόγοις τέσσαρσιν. Ἀνεγνώσθη δὲ αὐτοῦ καὶ ἕτερον σύντομον ἱστορικὸν μέχρι τῆς Κλαυδίου ἐπιτρέχον τὰς κεφαλαιώδεις πράξεις βασιλείας. ἀνεγνώσθη δὲ αὐτοῦ καὶ τὰ Σκυθικά, ἐν οἷς αἱ Ῥωμαίων αὐτῷ καὶ Σκυθῶν ἀναγράφονται πρὸς ἀλλήλους μάχαι τε καὶ ἀξιόλογοι πράξεις. ἔστι δὲ τὴν φράσιν ἀπέριττός τε καὶ ὄγκῳ καὶ ἀξιώματι χαίρων, καὶ (ὡς ἄν τις εἴποι) ἄλλος μετά τινος σαφηνείας Θουκυδίδης, μάλιστά γε ἐν ταῖς σκυθικαῖς ἱστορίαις. Photios zufolge formuliert also Dexippos „nicht breiter als nötig, erfreut sich an Schmuck und erhabenem Ausdruck und ist, so könnte man sagen, ein zweiter Thukydides mit einiger Klarheit, vor allem freilich in seiner Skythenge-schichte“ (Z. 17–20; Übers. von Gunther Martin). Die vielen Ähnlichkeiten zwischen dem Text der Scythica Vindobonensia und dem Werk des Thukydides, auf die der vorliegende Beitrag aufmerksam machen wollte, erwecken den Verdacht, dass unser Autor wie eben Dexippos ein zweiter Thukydides werden wollte.

Sollte der Verfasser der Scythica Vindobonensia in der Tat Dexippos sein, wie es mir unter anderem auch aufgrund der oben erwähnten Beobachtungen äußerst wahr-scheinlich erscheint, so könnte man von einem bewussten Versuch seinerseits spre-chen, seinem großen Landsmann und Vorgänger nachzueifern. In einer Zeit, in der Thukydides Ansehen genoss, und sich bereits bei griechischen und römischen Autoren wie Philistos, Polybios, Poseidonios und Tacitus einer gewissen Beliebtheit erfreute, fühlte sich Dexippos gut beraten, Materialien und Ideen von ihm zu entlehnen, um sich selbst als einen seiner Nachfolger zu stilisieren. Die Imitation von Elementen, die eigentlich im 3. Jh. n. Chr. nicht mehr aktuell waren, wie etwa die bereits erwähnte Übernahme der demokratie-feindlichen Äußerungen des Thukydides in einem wenig relevanten Kontext, zeigt, dass der Autor so großen Wert auf dieses Vorhaben legte, dass er mit seinem Nachahmungsversuch gelegentlich über das Ziel hinausschoss. In den meisten Fällen ist aber die Nachahmung erfolgreich. Dadurch ordnet sich unser Autor in eine große Reihe von griechischen Historikern ein, die von Thukydides bereits beeinflusst waren, und kündigt spätere Historiker wie Prokopios und Anna Komnena an, die Thukydides dann in byzantinischer Zeit nacheifern werden.

Literaturverzeichnis

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Amphilochios Papathomas Institut für Klassische Philologie Universität Athen

Panepistimiopolis Zographu GR-15784 Athen

papath@phil.uoa.gr

III. Historiographischer Kontext

Empire in Crisis: Gothic Invasions and Roman Historiography, Wien 2020, 147–157

K

A I

B

R O D E R S E N

Im Dokument Empire in Crisis: (Seite 147-159)