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Deutungsmuster im justizvollzugspraktischen Kontext

2. Theoretischer Hintergrund

2.4. Angehörige und Angehörigenarbeit: Bestehende Deutungsmuster im

2.4.1. Deutungsmuster im justizvollzugspraktischen Kontext

Im justizvollzugspraktischen Kontext werden Angehörige in erster Linie als Personen wahrgenommen, die eine wichtige Ressource im Resozialisie-rungsprozess darstellen. Intramurale Angehörigenarbeit wird demnach defi-niert als Einbezug der Angehörigen in den Resozialisierungsprozess. Die seit 2016 aufgebauten Beratungsangebote für Angehörige weisen aber darauf hin, dass die Angehörigen auch im deutschschweizerischen Justizvollzug zuneh-mend als Personen wahrgenommen werden, die Belastungen ausgesetzt sind und deshalb unterstützt werden müssen.

61 2.4.1.1. Intramurale Angehörigenarbeit

In der Westschweiz ergibt sich durch den Guide des Prisons von REPR (REPR, n.d.) ein Überblick über die Angebote im Bereich der intramuralen Angehörigenarbeit der Westschweizer Justizvollzugsanstalten. In der Deutschschweiz fehlt eine solche Übersicht bisher. Als gutes Beispiel für in-tramurale Angehörigenarbeit wird wiederholt das Vater-Kind Projekt der Straf-anstalt Saxerriet thematisiert (z. B. Brand, 2018, S. 24; Niedermann, 2020).

Die theoretische und fachliche Grundlage des Projekts wurde im Rahmen der Bachelor-Thesis in der Fachrichtung Soziale Arbeit von Sabrina Spitz erarbei-tet (Spitz, 2015). In einer 2018 durchgeführten Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) wurden Leitungspersonen von Jus-tizvollzugsanstalten und Justizvollzugsbehörden der Deutschschweiz zum Thema Angehörigenarbeit interviewt (Manzoni & Hofer, 2018, S. 269). Dabei zeigte sich, dass sich die Befragten in der Arbeit mit Angehörigen eng am zentralen Vollzugsziel des künftigen deliktfreien Lebens orientieren (S. 269).

Die Angehörigenarbeit bietet aus Sicht der Befragten in erster Linie ein gros-ses Potential für eine bessere Resozialisierung. Die Sicht der Angehörigen, einschliesslich der Kinder, ist hingegen kaum im Blick (S. 269). Nach Aussage der Befragten liegen die Chancen der Angehörigenarbeit darin, dass Angehö-rige die Einstellung und das Verhalten von inhaftierten Personen positiv be-einflussen können indem sie ihnen Halt geben, ihr Selbstwertgefühl stärken und den Haftentlassenen ein stabiles System von Partnerschaft und Familie bieten (S. 276). Angehörigenarbeit ermögliche es, dass die inhaftierte Person Perspektiven für die Zeit nach dem Vollzug habe, sich der Vollzugsverlauf verbessere und bestenfalls Rückfälle vermindert werden (S. 276). Demge-genüber wurden auch Risiken der Angehörigenarbeit formuliert. So bestehe die Gefahr, dass die inhaftierte Person den Einbezug von Angehörigen durch den Justizvollzug als Kontrollinstrument deuten würde oder sie selbst ihre An-gehörigen instrumentalisiere, indem sie ihnen eine zu grosse Mitverantwor-tung bei der Resozialisierung aufbürde (S. 275). Die Befragten wiesen zudem darauf hin, dass die Angehörigen die inhaftierte Person auch negativ beein-flussen können (S. 275). Die Autoren der Studie stellten fest, dass die

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tor*innen von geschlossenen Vollzugsanstalten im Unterschied zu Direk-tor*innen von offenen Vollzugsanstalten nur wenig Bedarf an intensiverer An-gehörigenarbeit haben und dass die AnAn-gehörigenarbeit für ausländische in-haftierte Personen fast völlig fehlt (S. 277). Weiter betonen die Befragten, dass der Sinn und Zweck von Angehörigenarbeit geprüft werden müsse und Abklärungen nötig sind, welcher Bedarf die inhaftierten Personen an dieser Arbeit haben und welche Auswirkungen die Angehörigenarbeit auf die inhaf-tierten Personen sowie auf die Angehörigen hat. Es wurde darauf hingewie-sen, dass ein positiver Nutzen der Angehörigenarbeit wissenschaftlich nach-gewiesen werden müsse und der Erfolg messbar sein sollte (S. 277). „Egal welche Form und welche Struktur diese Angehörigenarbeit hat, sie müsse laut einigen Interviewpartnern zwingend in der Institution, den Strafvollzugsämtern und vor allem in die Strafvollzugskonkordate eingebettet und von diesen auch gestützt und getragen werden“ (S. 277 f).

2.4.1.2. Extramurale Angehörigenarbeit

In Bezug auf extramurale Beratungsstellen für Angehörige von inhaftierten Personen zeigt sich in der Schweiz ein grosser Unterschied zwischen den Sprachregionen. In der Westschweiz besteht bereits seit 1995 das mittlerwei-le flächendeckende Beratungsangebot der Stiftung REPR. Die Stiftung setzt sich dafür ein, dass die Haftanstalten in der Schweiz die Rechte der Kinder der inhaftierten Personen beachten. Im Rahmen ihrer Tätigkeit unterstützt die Stiftung Familien und Angehörige von Personen, die in der Schweiz inhaftiert sind, betreut Kinder, damit sie ihre Beziehungen zum inhaftierten Elternteil aufrechterhalten können und sensibilisiert die Öffentlichkeit für die Auswir-kungen des Freiheitsentzugs auf die Familie (REPR, 2021). Eine externe Eva-luation der Stiftung durch die Prison Research Group hat gezeigt, dass REPR im Justizvollzug als professionelle, zuverlässige und anerkannte Akteurin be-trachtet wird (Prison Research Group, 2018, S. 7). Es wurde jedoch auch festgehalten, dass die optimale Umsetzung der von REPR angebotenen Dienstleistungen von den finanziellen Leistungen der Kantone abhängig ist (S. 7).

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In jüngster Zeit haben sich auch in der Deutschschweiz Beratungsangebote für Angehörige von inhaftierten Personen etabliert. Dabei handelt es sich um staatliche und nicht staatliche sowie um lokale und online verfügbare (sprich ortsunabhängige) Beratungsangebote. Träger der Angebote sind die Heilsar-mee, das Amt für Justizvollzug des Kantons Thurgau, die forio AG, der Verein Neustart, das Team72 sowie humanrights.ch. Im persönlichen Gespräch mit den Angebotsleitenden stellte sich heraus, dass einige der Angebote bisher noch nicht in dem Ausmass von Angehörigen genutzt werden, wie dies ge-mäss dem in der Literatur beschriebenen Bedarf vermutet wurde (Vernet-zungsanlass, 2021). Hypothesen der Angebotsleitenden beziehen sich unter anderem darauf, dass die Angebote bisher bei der Zielgruppe noch kaum be-kannt sind (Vernetzungsanlass, 2021). Weiter verweist der Verein Reform 91 auf seiner Website auf das Angebot „Hilfe für Angehörige von Strafgefange-nen“ (Reform 91, n.d.) und auch die Organisation Prison Fellowship Schweiz (n.d.) schreibt auf ihrer Website, dass sie sich um Angehörige von inhaftierten Personen kümmert. Über die Aktivitäten und den Zugang zur Zielgruppe der letztgenannten Angebote ist der Autorin nichts bekannt.