Die S¨atze VII.1.12 und VII.1.13 gelten ¨ubrigens sinngem¨aß nicht nur f¨ur stetige, sondern allgemein f¨ur integrierbare Funktionen. Sie sind in diesem Kontext allerdings etwas schwieriger zu beweisen.
Zum Abschluß wollen wir uns noch ein Beispiel f¨ur eine beschr¨ankte, aber nicht integrierbare Funktion ansehen.
Beispiel VII.1.16. Sei f : [0,1] → R die Einschr¨ankung der Dirichlet-Funktion auf [0,1] (siehe Beispiel V.1.17), d. h. f(x) =χ(x) f¨ur x∈ [0,1].
Dann istf beschr¨ankt, aber nicht integrierbar.
Beweis. Zur Erinnerung: Es ist χ(x) = 1 f¨ur x ∈ Q und χ(x) = 0 f¨ur x∈R\Q. Also ist f nat¨urlich beschr¨ankt.
Sei nun ϕ∈ T[0,1] mit ϕ≤ f. Sei (xi)ni=0 eine Unterteilung von [0,1], so dass ϕauf (xi−1, xi) konstant ist mit Wert ci f¨ur i∈ {1, . . . , n}. Da jedes Intervall (xi−1, xi) eine irrationale Zahl enth¨alt, folgt ausϕ≤f auchci ≤0 f¨ur alle i ∈ {1, . . . , n}. Daher ist auch I(ϕ) = Pn
i=1ci(xi −xi−1) ≤ 0. Es folgt U(f) ≤0. Wegen 0 ≤f ist nat¨urlich auch U(f) ≥ 0, also U(f) = 0.
Analog zeigt man mit Hilfe der Dichtheit von Q in R, dass O(f) = 1 gilt.
Also ist U(f)6=O(f), daher ist f nicht integrierbar.
VII.2 Der Hauptsatz der Differential- und
negativen reellen Zahlen als Definitionsbereich.
3) Ist r∈R\ {−1} beliebig und f(x) :=xr f¨urx >0, so ist wiederum eine Stammfunktion gegeben durchF(x) :=xr+1/(r+ 1) (im Faller >0 kann man den Definitionsbereich auch aufx≥0 erweitern).
4) Sei f(x) := 1/xf¨urx >0. Dann ist der nat¨urliche Logarithmus log eine Stammfunktion vonf.
5) Seia∈R\{0}und seif(x) :=eaxf¨urx∈R. Dann ist eine Stammfunktion von f gegeben durchF(x) :=eax/a.
6) Sei wieder a∈R\ {0} und seienf(x) := sin(ax) undg(x) := cos(ax) f¨ur alle x∈R. SeienF(x) :=−cos(ax)/aundG(x) := sin(ax)/af¨ur allex∈R.
Dann istF eine Stammfunktion von f und Geine Stammfunktion von g.
7) Seif(x) := 1/cos2(x) f¨urx∈(−π/2, π/2). Dann ist die Tangens-Funktion tan eine Stammfunktion vonf.
Es gibt auch Funktionen, die keine Stammfunktion besitzen, wie das folgende Beispiel zeigt.
Beispiel VII.2.2. Die Heaviside-Funktionθ:R→R(siehe Beispiel V.1.16) besitzt keine Stammfunktion.
Beweis. Zur Erinnerung: Es ist θ(x) = 1 f¨ur x ≥ 0 und θ(x) = 0 f¨ur x <0. Angenommen nunF :R→Rw¨are eine Stammfunktion von θ, also F0(x) =θ(x) f¨ur alle x∈R.
Nach dem Mittelwertsatz der Differentialrechnung existiert zu jedem h <0 einξ ∈(h,0) mit
F(0)−F(h)
0−h =F0(ξ) =θ(ξ) = 0.
Also ist
F(h)−F(0)
h = 0 ∀h <0.
Daraus folgtF0(0) = 0. Andererseits m¨usste F0(0) = θ(0) = 1 gelten, was nat¨urlich ein Widerspruch ist. Also kannθkeine Stammfunktion besitzen.
Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung wird insbesondere zeigen, dass jede stetige Funktion eine Stammfunktion besitzt. Bevor wir den Satz formulieren k¨onnen ben¨otigen wir aber noch ein paar Vorbereitungen.
Ist I ⊆R ein Intervall undf :I → Reine stetige Funktion, so wissen wir bereits, dass das Integral Rb
a f(x) dx f¨ur alle a, b ∈ I mit a < b existiert.
Im Falle a > bsetzen wir nun noch Rb
af(x) dx:=−Ra
b f(x) dx. Schließlich setzen wir noch Ra
a f(x) dx:= 0 f¨ur alle a∈I. Mit diesen Konventionen gilt dann das folgende allgemeine Prinzip der Intervalladditivit¨at (c muss hier nicht mehr zwischena undb liegen).
Lemma VII.2.3. Sei I ⊆R ein Intervall und seif :I →R stetig. Dann gilt
Z b a
f(x)dx= Z c
a
f(x)dx+ Z b
c
f(x)dx f¨ur allea, b, c∈I.
Beweis. Das folgt leicht durch Fallunterscheidung aus Satz VII.1.13 (Details als ¨Ubung).
Nun kommen wir zum Hauptsatz.
Satz VII.2.4(Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung). SeiI ⊆R ein Intervall und sei f :I →Rstetig. Sei a∈I. Wir setzen
Fa(x) :=
Z x a
f(t)dt ∀x∈I.
Dann ist Fa eine Stammfunktion von f.
Um diesen Satz beweisen zu k¨onnen ben¨otigen wir noch den sogenannten Mittelwertsatz der Integralrechnung, der auch von unabh¨angigem Interesse ist.
Satz VII.2.5 (Mittelwertsatz der Integralrechnung). Sei f : [a, b] → R stetig. Dann existiert ein ξ∈[a, b] mit
f(ξ) = 1 b−a
Z b a
f(x)dx.
Anschaulich gesprochen bedeutet diese Aussage, dass der Fl¨acheninhalt unter dem Graphen von f (also geradeRb
af(x) dx) gleich dem Fl¨acheninhalt des Rechtecks mit Grundseite der L¨angeb−aund H¨ohef(ξ) ist.
Beweis. Daf stetig auf [a, b] ist, existierenM := max{f(x) :x∈[a, b]}und m := min{f(x) :x∈[a, b]}. Wegen m ≤f(x) ≤M f¨ur alle x ∈ [a, b] folgt aus Teil (iii) von Satz VII.1.12
m(b−a) = Z b
a
mdx≤ Z b
a
f(x) dx≤ Z b
a
Mdx=M(b−a), also
m≤ 1
b−a Z b
a
f(x) dx≤M.
Daf stetig ist, gilt nach dem Zwischenwertsatz [m, M]⊆Im(f), also existiert einξ∈[a, b] mit
f(ξ) = 1 b−a
Z b a
f(x) dx.
Jetzt k¨onnen wir den Hauptsatz beweisen.
Beweis des Hauptsatzes. Es sei x ∈ I beliebig. Wir wollen Fa0(x) = f(x) nachweisen. Sei D:={h∈R\ {0}:x+h∈I}. Zun¨achst gilt wegen Lemma VII.2.3 f¨ur alle h∈D:
Fa(x+h)−Fa(x)
h = 1
h
Z x+h a
f(t) dt− Z x
a
f(t) dt
= 1 h
Z x+h a
f(t) dt+ Z a
x
f(t) dt
= 1 h
Z x+h x
f(t) dt.
Isth∈Dmith >0, so existiert nach dem Mittelwertsatz der Integralrech-nung ein ξh∈[x, x+h] mit
1 h
Z x+h x
f(t) dt=f(ξh).
Ist h ∈ D mit h < 0, so existiert ebenfalls nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung ein ξh ∈[x+h, x] mit
1 h
Z x+h x
f(t) dt= 1
−h Z x
x+h
f(t) dt=f(ξh).
Also ist
Fa(x+h)−Fa(x)
h =f(ξh) ∀h∈D.
Daξh stets zwischenx undx+h liegt, folgt limh→0ξh =x. Weilf stetig ist, folgt daraus limh→0f(ξh) =f(x). Also gilt
Fa0(x) = lim
h→0
Fa(x+h)−Fa(x)
h = lim
h→0f(ξh) =f(x).
Zur besseren Anwendbarkeit formulieren wir den Hauptsatz noch einmal auf etwas andere Weise.
Korollar VII.2.6. Sei I ⊆R ein Intervall und seif :I →Rstetig. Dann gilt:
1) f besitzt eine Stammfunktion.
2) F¨ur jede Stammfunktion F von f und alle a, b∈I gilt Z b
a
f(t)dt=F(b)−F(a).
Beweis. 1) ist klar nach dem Hauptsatz.
2) Sei F eine Stammfunktion von f und seien a, b∈I. Sei Fa definiert wie im Hauptsatz. Dann gilt
Z b a
f(t) dt=Fa(b)−Fa(a).
Da aberFa undF beide Stammfunktionen vonf sind, ist F−Fa konstant.
Also giltFa(b)−Fa(a) =F(b)−F(a).
Eine unmittelbare Konsequenz daraus ist die folgende sogenannte Newton-Leibniz-Formel.
Korollar VII.2.7. Sei I ⊆ R ein Intervall und sei f : I → R stetig differenzierbar. Dann gilt
Z b a
f0(t)dt=f(b)−f(a) f¨ur allea, b∈I.
Beweis. Wende einfach das vorige Korollar auf die stetige Funktionf0an.
Hier noch eine Notation: Die oben auftretende Differenz F(b)−F(a) schreibt man h¨aufig auch als [F(x)]ba.
Mit Hilfe des Hauptsatzes und unserer kleinen Sammlung von Stamm-funktionen (siehe weiter oben) k¨onnen wir nun auch leicht einige Integrale explizit berechnen.
Beispiele:
1) F¨ur alle reellen Zahlen b > a und alle n∈N gilt Z b
a
xndx= xn+1
n+ 1 b
a
= bn+1−an+1 n+ 1 . 2) Es gilt
Z 1 0
√xdx= 2
3x3/2 1
0
= 2 3. 3) Es ist
Z π 0
sin(x) dx= [−cos(x)]π0 =−cos(π) + cos(0) =−(−1) + 1 = 2.
4) F¨ura >0 gilt
Z a 0
e−xdx= [−e−x]a0 = 1−e−a. 5) F¨ur alle b > a >0 gilt
Z b a
1
xdx= [log(x)]ba= log(b)−log(a) = log(b/a).
6) Wegen der schon zuvor bewiesen Eigenschaften des Integrals (Satz VII.1.12) lassen sich auch durch Summen und Vielfache zusammengesetzte Beispiele leicht berechnen, z. B.
Z 1 0
(4x2+ 2ex) dx= 4 Z 1
0
x2dx+ 2 Z 1
0
exdx
= 4 1
3x3 1
0
+ 2[ex]10 = 4
3+ 2(e−1).
Bei komplizierteren Funktionen kann man allerdings eine Stammfunktion nicht ohne weiteres “sehen”. In der Tat gibt es sogar stetige Funktionen, deren Stammfunktionen sich ¨uberhaupt nicht in Form einer geschlossenen Formel mit Hilfe von “elementaren”Funktionen ausdr¨ucken lassen. Das Stan-dard Beispiel hierf¨ur ist die durch f(x) = e−x2 gegebene Funktion.5 Im n¨achsten Abschnitt werden wir aber dennoch einige raffiniertere Techniken zur Integration/Stammfunktionsfindung kennenlernen.
Diesen Abschnitt beschließen wir, indem wir der Vollst¨andigkeit hal-ber noch den sogenannten erweiterten Mittelwertsatz der Integralrechnung formulieren und beweisen.
Satz VII.2.8(Erweiterter Mittelwertsatz der Integralrechnung). Seienf, g: [a, b]→R stetig und sei g≥0 oder g≤0. Dann existiert einξ ∈[a, b] mit
Z b a
f(x)g(x)dx=f(ξ) Z b
a
g(x)dx.
F¨ur g= 1 ist das gerade die Aussage des gew¨ohnlichen Mittelwertsatzes der Integralrechnung. Der Satz gilt ¨ubrigens auch dann noch, wenn g nur integrierbar (und nicht notwendig stetig) ist, allerdings muss man dann erst die Integrierbarkeit von f gnachweisen, worauf wir verzichten wollen.
Beweis. Ohne Einschr¨ankung nehmen wir g ≥ 0 an. Wie im Beweis des gew¨ohnlichen Mittelwertsatzes setzen wirM := max{f(x) :x∈[a, b]} und m:= min{f(x) :x∈[a, b]}. Wegen g≥0 folgtmg(x)≤f(x)g(x)≤M g(x) f¨ur alle x∈[a, b] und daher auch
m Z b
a
g(x) dx≤ Z b
a
f(x)g(x) dx≤M Z b
a
g(x) dx.
Wegen g ≥ 0 ist auch S := Rb
a g(x) dx ≥ 0. Im Falle S = 0 folgt aus der obigen Ungleichung Rb
af(x)g(x) dx = 0 und man kann jedes beliebige
5Man kann tats¨achlich mathematisch pr¨azisieren, was genau “ausdr¨uckbar mittels elementarer Funktionen”bedeutet und die obige Aussage ¨uber e−x2 dann auch formal beweisen. Das geht allerdings weit ¨uber die M¨oglichkeiten dieser Vorlesung hinaus.
ξ∈[a, b] w¨ahlen. Ist dagegenS >0, so folgt m≤ 1
S Z b
a
f(x)g(x) dx≤M
und wegen der Stetigkeit vonf gilt nach dem Zwischenwertsatz [m, M]⊆ Im(f). Also gibt es ein ξ∈[a, b] mit
f(ξ) = 1 S
Z b a
f(x)g(x) dx.