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Das religiöse Ritual

Im Dokument HEILUNG DURCH GLAUBEN (Seite 97-100)

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rinnertes Wohlbefi nden macht das religiöse Ritual zu einem sehr wirkungsvollen Mechanismus.

Ein Ritual wiederzubeleben, an dem Sie als Kind zum erstenmal teilgenommen haben, die Ner-venbahnen zu regenerieren, die sich ausgebildet haben, als Sie in der Kindheit den religiösen Glauben erlebten, hat eine sehr starke Wirkung. Das hat sich in meiner medizinischen Praxis als wahr erwie-sen, sogar bei Erwachsenen, die sich von der Religion ihrer Kindheit abgewandt haben. Auch wenn Sie das Ritual aufgrund Ihrer heutigen Reife und Lebenserfahrung ganz anders bewerten, werden die Worte, die Sie lesen, die Lieder, die Sie singen, und die Gebete, die Sie sprechen, Sie doch in der gleichen Weise trösten, wie sie es früher, in einer vielleicht einfacheren Phase Ihres Lebens, ver-mochten. Selbst wenn Sie meinen, daß dieses Ritual heute keine emotionale Bedeutung mehr für Sie hat, bewahrt das Gehirn doch die Erinnerung an die mit dem Ritual verbundenen Aktivitäten. Es hat gespeichert, welcher emotionale Wert dem Ritual damals beigemessen wurde, welche Nervenzellen in Aktion traten, welche chemischen Prozesse abliefen.

Seit ich Menschen die Entspannungsreaktion beibringe und sie dazu ermutige, Konzentrationstech-niken den persönlichen Bedürfnissen anzupassen, indem sie Worte, Sätze oder Mantras benutzen, die ihnen etwas bedeuten, beeindruckt es mich immer wieder, wie wirkungsvoll dabei aus der Kindheit vertraute Rituale sind. Vor Jahren erkrankte Sally Nash, eine wohlhabende Frau, die das Mind/Body Medical Institute großzügig unterstützt hatte, ohne selbst seine Dienste in Anspruch zu nehmen, an Eierstockkrebs. Sie weigerte sich, vor dem Krebs zu kapitulieren, und ignorierte für einige Monate jene Behandlungsmöglichkeiten, die die moderne Medizin ihr bot. Statt dessen unterzog sie sich ei-ner streng makrobiotischen Diät. Doch eines Tages bekam sie einen durch Metastasen verursachten Darmverschluß, und ich verlangte, als Arzt und Freund, daß sie sich sofort operieren ließ. Ohne Ope-ration hatte sie keine Überlebenschance. Trotzdem stimmte sie dem Eingriff nur sehr zögernd und unter einer Bedingung zu: Ich sollte sie ins Krankenhaus begleiten und bei ihr bleiben, während sie ihre Narkose erhielt.

Später an diesem Nachmittag war ich bei ihr im Deaconess Hospital in Boston, während sie für die Operation vorbereitet wurde. Der Anästhesist, der ihre Narkose einleiten sollte, hatte die große, mas-sige Statur eines Football-Spielers und ging sehr ruhig und geschäftsmäßig ans Werk. Er trug bereits seine Maske und signalisierte mir, daß er bereit sei, Mrs. Nash zu anästhesieren. Sie bat mich, ihre Hand zu halten und sie in die Entspannungsreaktion zu führen. Dazu sollte ich die gleichen Worte benutzen wie sie selbst – den Anfang des 23. Psalms: »Der Herr ist mein Hirte.«

Als der Anästhesist mit der Einleitung des Narkosemittels begann, widerholte ich, jedesmal wenn sie ausatmete, laut, was sie selbst immer wieder still vor sich hinsagte: »Der Herr ist mein Hirte... der Herr ist mein Hirte... der Herr ist mein Hirte.« Dann begann die Narkose zu wirken, und Mrs. Nash verlor das Bewußtsein. Als ich aufblickte, sah ich, daß der Anästhesist, den ich kurz zuvor noch für hart und abgebrüht gehalten hatte, zitterte und seine Maske tränenüberströmt war. Für Mrs. Nash war der vertraute Psalm, von einem Arzt gesprochen, dem sie vertraute, eine Quelle des Friedens gewesen.

Aber die Macht des Rituals hatte, ohne daß ich es hätte vorhersehen können, bei diesem nüchternen, pfl ichtbewußten Anästhesisten eine tiefe emotionale Reaktion bewirkt.

Die Autorin Karen Armstrong schreibt über die von ihr sehr hoch eingestufte Bedeutung religiöser Rituale:

Viele Menschen, die in unserer Kultur an religiösen Feiern teilnehmen, interessieren sich nicht für Theologie, wollen nichts allzu Exotisches und sind wenig aufgeschlossen gegenüber Neuerungen.

Die wohlvertrauten Rituale geben ihnen ein Gefühl der Traditionsverbundenheit und Sicherheit. Sie erwarten keine brillanten neuen Ideen von der Predigt und empfi nden Änderungen in der Liturgie

als störend. Auf die gleiche Weise liebten es die Heiden der Spätantike, ihre alten Götter anzubeten wie Generationen vor ihnen. Mit den alten Ritualen feierten sie die örtlichen Traditionen. Sie vermit-telten ihnen ein Identitätsgefühl und die Sicherheit, daß die Dinge so bleiben würden, wie sie immer gewesen waren

.

Aus diesem Grund tun sich viele Gemeindemitglieder so schwer mit Änderungen in der Liturgie.

Selbst wenn die Rituale dem modernen Denken steif und antiquiert erscheinen, sind sie dennoch geheimnisvoll, wecken Ehrfurcht und hinterlassen unauslöschliche Eindrücke in unserem Gehirn.

Vielen meiner katholischen Patienten, die mit einer Religion aufwuchsen, die sehr reich an Ritualen ist, fällt es besonders leicht, die Entspannungsreaktion zu erlernen. Ich rate ihnen, wenn ihnen das angenehm ist, den Rosenkranz oder ein anderes Gebet zu verwenden, und zwar in der Sprache, in der sie es als Kind zuerst gehört haben, sei es Latein, Spanisch, Italienisch oder eine andere. Auch wenn sie heute überwiegend Englisch sprechen, steigert die Erinnerung an ihre Muttersprache die Wirkung des Gebets und motiviert sie dazu, regelmäßig zu üben.

Diese Erkenntnisse können für andere religiöse Gemeinschaften eine wichtige Hilfe bei ihrem Bemühen sein, das empfi ndliche Gleichgewicht zwischen Ritual und Modernisierung zu bewahren, sinnvolle Traditionen zu pfl egen und sich gleichzeitig von Praktiken zu trennen, die überholt und nicht länger attraktiv sind. Religiöse Rituale sind besonders bewegend, doch auch patriotische und andere weltliche Traditionen wirken auf die gleiche Weise. Das Gehirn bewahrt aus der Kindheit eine physiologisch aktive Erinnerung an die Lieder, Symbole, Worte und Gesten, so daß der Körper durch das erneute Erleben dieser Rituale angeregt und gestärkt wird.

Gemeinschaft

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ie Gemeinschaft, die Menschen in religiösen Vereinigungen erleben, wirkt gleichfalls heilsam und stärkend. Laut Dr. Levin deutet die Geschichte der epidemiologischen Studien darauf hin, daß soziale Unterstützung, Zusammengehörigkeitsgefühle und Geselligkeit, wie sie in religiösen Ge-meinden anzutreffen sind, »als Puffer gegen die schädlichen Auswirkungen von Streß und Ärger dienen, vielleicht über psychoneuroimmunologische Effekte«. Er vermutet, daß religiöse Aktivitäten

»vielfältige biologische Prozesse in Gang setzen, die zu einer besseren Gesundheit führen«.

Natürlich gibt es neben religiösen Gruppierungen noch viele andere Möglichkeiten, Gemeinschaft und soziale Unterstützung zu erfahren. Aber die Religion ist für viele Menschen ein wichtiger Raum für soziale Begegnungen. Eine im American Journal of Epidemiology veröffentlichte Studie mit 7000 Männern zwischen 30 und 69 Jahren im kalifornischen Alameda County kam zu dem Ergebnis, daß soziale Isolation weitreichende gesundheitliche Folgen hat. Ein höherer Grad von sozialer Integration bewirkt eine deutlich niedrigere Sterblichkeit, unabhängig davon, ob diese Integration im Rahmen von Familie und Freundeskreis erlebt wird, durch aktive Mitgliedschaft in Vereinen oder in einer Kir-chengemeinde. Dr. Lisa F. Berkman von der Yale University und Dr. Leonard S. Syme von der Uni-versity of California in Berkeley stellten in dieser sehr wichtigen Studie fest, daß die Sterberate, eine klar und eindeutig bestimmbare Größe, dadurch beeinfl ußt wird, in welchem Maße die Menschen soziale Unterstützung erfahren.

Jean-Paul Sartre sagte einmal, die Hölle seien die anderen Menschen. Wenn es aber um die körper-liche Gesundheit geht, um unsere Fähigkeit, Krankheiten zu überwinden und länger zu leben, sind menschliche Kontakte für uns sehr wichtig. Die Medizin weiß schon lange, daß Verheiratete gesünder sind als alleinstehende, geschiedene oder verwitwete Menschen. Über ein Jahrzehnt beobachteten Wissenschaftler der University of Michigan 2754 Personen im Gebiet von Tecumseh, Michigan. Da-bei stellte sich heraus, daß Männer, die weniger ehrenamtlich engagiert waren und weniger soziale

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Kontakte hatten, eine deutlich höhere Sterblichkeit aufwiesen als solche Männer, die sich regelmäßig in Vereinen und anderen ehrenamtlichen Gruppen engagierten und mehr soziale Kontakte pfl egten.

In einer oft zitierten Studie wiesen Dr. David Spiegel und seine Mitarbeiter von der Stanford Uni-versity School of Medicine und der UniUni-versity of California nach, daß an Brustkrebs erkrankte Frauen in einem Beobachtungszeitraum von zehn Jahren nach der Operation durchschnittlich 18 Monate län-ger lebten, wenn sie regelmäßig an Treffen von Selbsthilfegruppen teilnahmen. In der von mir bereits erwähnten Studie der Dartmouth Medical School mit Herzpatienten zeigte sich, daß solche Patienten, die aktiv am Gemeindeleben und in sozialen Gruppen mitwirkten, sowie jene mit religiösem Glauben eine dreifach höhere Überlebensrate aufwiesen. Jene aber, die sowohl an sozialen wie an religiösen Aktivitäten teilnahmen, hatten eine zehnfach höhere Überlebensrate!

Dennoch können Krankenhäuser und Kliniken ihren Kommunen nicht ein so reichhaltiges An-gebot an sozialen Aktivitäten anbieten wie die meisten Kirchen und religiösen Organisationen.

Seien es wöchentliche Gottesdienste, tägliche Messen oder Gebetsstunden, Bibelkreise oder Bingo-Abende, Konfi rmationsunterricht, Vorbereitungen zu Bar-Mizwa oder Bat-Mizwa, Wohltätigkeitsba-sare oder Jugendgruppen, Eheberatung oder Zeltlager, Sonntagsschulen oder Suppenküchen: religiö-se Institutionen sorgen dafür, daß ihren Mitgliedern nicht nur Glauben, sondern auch gesunde soziale Kontakte in hoher Dosis verabreicht werden.

Altruismus

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ie traditionelle Religion hat die Gläubigen immer dazu ermuntert, anderen Menschen zu helfen, altruistisch zu sein, den Zehnten zu geben und die frohe Botschaft zu verbreiten. Daß sie ihren Wohlstand mit anderen teilten, verhalf den Gläubigen aber auch zu einer besseren Gesundheit.

Mein Freund Alan Luks ist heute Direktor von Big Brothers/Big Sisters in New York. Wir lernten uns kennen, als er noch das Institute for the Advancement of Health leitete. Luks schrieb ein Buch mit dem Titel The Healing Power of Doing Good, in dem er dokumentiert, wie gut es für die Gesundheit ist, Gutes zu tun. Bei einer Umfrage unter Hunderten von ehrenamtlichen Helfern im ganzen Land fand Luks heraus, daß Menschen, die anderen Menschen helfen, sich durchweg gesundheitlich besser fühlen als andere Personen ihrer Altersgruppe. Viele sagen auch, daß ihr Gesundheitszustand sich spürbar verbesserte, als sie damit begannen, sich als ehrenamtliche Helfer zu engagieren.

Luks nennt dieses Phänomen das »Helfer-Hoch«. 95 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, daß es ihr körperliches Wohlbefi nden steigert, wenn sie anderen Menschen auf einer regelmäßigen, persönlichen Basis helfen. Neun von zehn beschrieben die dabei auftretenden körperlichen Empfi n-dungen als plötzliche Wärme, gesteigerte Energie und ein Gefühl der Euphorie. Auch berichteten sie, dauerhaft entspannter und ruhiger geworden zu sein.

Nicht nur die gute Tat selbst bewirkt dieses »Helfer-Hoch«. Acht von zehn Befragten gaben an, daß die positive gesundheitliche Wirkung auch einsetzte, wenn sie sich später an ihre helfende Handlung erinnerten (also erinnertes Wohlbefi nden praktizierten). Dabei ist zu beachten, daß sich die in Luks Umfrage ermittelten positiven Effekte bei der Hilfe für fremde Menschen ebenso einstellten wie innerhalb der Familie oder des Freundeskreises. In jedem Fall führte die selbstlose Hilfe für andere immer dazu, daß die Gesundheit des Helfers sich verbesserte. Das macht Altruismus zu einer wir-kungsvollen Form der Selbstfürsorge.

Krankenhauspatienten und andere Pfl egebedürftige profi tieren in körperlicher Hinsicht von der Betreuung durch professionelle Sozialarbeiter wie Krankenhauspfarrer und andere Seelsorger, aber auch vom Mitgefühl ihrer Mitmenschen. Wie eine Studie aus dem Jahr 1986 zeigt, bewirkt eine gute seelsorgerische Betreuung, daß Patienten früher entlassen werden können, bestimmte Medi-kamente weniger benötigt und Ängste abgebaut werden. So wird die dritte Komponente erinnerten

Wohlbefi ndens – der durch die positive, vertrauensvolle Beziehung zwischen Heiler und Patient aus-gelöste Glaube – erneuert und gestärkt.

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