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Das Feuilleton als Reiseführer durch die imaginierte Stadt

Im Dokument Stadt – Frau – Amerika (Seite 32-35)

Das Genre des Feuilletons bildete sich im 18. Jahrhundert in Frankreich heraus. Bei seiner frühesten Erscheinungsform handelte es sich um ein Annoncenbeiblatt, später entwickelte sich daraus die Sparte Unter dem Strich, die „wechselnd mit Annoncen, Mitteilungen, Rätseln oder politischen und literarischen Kommentaren gefüllt worden war, ausschließlich der Pariser Theaterberichterstattung vorbehal-ten“51. Schon das französische Feuilleton war ein städtisches Genre, das in erster

48 Siebenhaar, Klaus (Hrsg.) Nachwort. In: Wilder, Billy; Der Prinz von Wales geht auf Urlaub. Berliner Reportagen, Feuilletons und Kritiken der zwanziger Jahre. Fannei & Walz Berlin, 1996, S. 150.

49 Zitiert nach Gabler, Neal: Das Leben, ein Film. Die Eroberung der Wirklichkeit durch das Entertainment. Berlin Verlag Berlin, 1999, S. 90.

50 Ebenda, S. 152.

51 Todorow, Almut: Das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. a. a. O., S. 9.

Linie das kulturelle Leben in Paris schilderte. Es war der Flaneur52, der begann, seine Beobachtungen des Stadtalltags im Feuilleton niederzuschreiben. Am Anfang jener Stadtbeschreibung steht das 1782 entstandene und von Louis Sébastien Mercier verfasste Werk Tableau de Paris. Mercier behauptete sogar: „Für das Tableau de Paris bin ich so viel herumgelaufen, daß ich mit Recht sagen kann, es mit den Beinen geschrieben zu haben.“53 Das Interesse Merciers galt dem ganz-heitlichen Wesen und Geschehen der Stadt:

„Ihre sämtliche Bevölkerungsklassen durchforschte ich, und um das widerspruchsvolle moralische Profil der gigantischen Kapitale besser zu treffen, scheute ich auch nicht vor den durch Abgründe von jeglichem Überfluß getrennten Schattenseiten des Lebens zurück.“54 Und Mercier gelang es in der Tat, mit seinem Werk ein facettenreiches Bild der Großstadt Paris zu zeichnen.

In Deutschland ist es die Köllnische Zeitung, die 1838 erstmals das Genre Unter dem Strich übernimmt. Als Forschungsgegenstand wird das Feuilleton dagegen erst 1876 von Ernst Eckstein entdeckt. Insgesamt setzten sich „[k]lare Prinzipien der Stoffanordnung durch die interne Zeitungsorganisation für den ganzen Zeitungs-inhalt […] endgültig erst gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch.“55 Zu dieser Zeit begannen das Feuilleton und andere Textformen, die das Besondere und Aktuelle der Großstadt einfingen, eine immer bedeutendere Rolle im Zusammenhang mit der Stadtwahrnehmung zu spielen.

„At the end of the nineteenth century, feuilleton sketches, short stories, line drawings, motion pictures, and ‚real life‘ eyewitness accounts became increasingly popular, since these formats caught so well the occasional and surprising aspects of the metropolis.”56

In den 1920er-Jahren schließlich bringt Franz Hessel, der von Walter Benjamin als

„Vorzeigeflaneur“ bezeichnet wurde, die Kunst des Flanierens und des deutschen Stadtfeuilletons zu einer Blüte. Mit seinen Beobachtungen, die er 1929 in seinem Buch „Ein Flaneur in Berlin“ festhielt, schuf er eine „ergangene“ Stadtbeschreibung

52 Prigge, Walter: Geistesgeschichte und Stadtgeschichte: Wien, Frankfurt, Paris. Eine Skizze. In: Prigge, Walter: Städtische Intellektuelle. Urbane Milieus im 20. Jahrhundert.

Fischer Verlag Frankfurt am Main, 1992, S. 35.

53 Wellmann, Angelika: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes. Würzburg, 1991, S. 131.

54 Ebenda, S. 130.

55 Todorow, Almut: Das Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ in der Weimarer Republik. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung. a. a. O., S. 11.

56 Fritzsche, Peter: a. a. O., S. 9.

Berlins im Sinne Merciers. Er charakterisiert den Spaziergänger, den Flaneur als einen „Leser“, „der ein Buch nur zu seinem Zeitvertreib und Vergnügen liest“.57 Das Flanieren, der Vorgang des ziellosen Spazierengehens und Beobachtens, scheint auf den ersten Blick gar nicht in das moderne Berlin jener 20er-Jahre zu passen. Und Hessel selbst klagte, dass das Flanieren58 in Deutschland nicht üblich sei, denn er werde nicht für einen Beobachter, sondern eher für einen Taschendieb gehalten. Die Impressionen von der Stadt fügte Hessel zu einem Textgewebe von bildhafter Qualität zusammen und schuf somit „[e]in Lehrbuch der Kunst, in Berlin spazieren zu gehen, ganz nahe dem Zauber der Stadt von dem sie selbst nichts weiß. Ein Bilderbuch in Worten.“59

Der Stadtraum ist der Entstehungsort und zugleich der Bezugspunkt des Feuille-tons. Sein Verfasser, der Flaneur, begab sich zunächst als Müßiggänger, später wie ein Detektiv auf Entdeckungstour durch den urbanen Raum. Beim Schreiben ver-band er das Gesehene mit dem Wissen über die Stadt, die er selbst erlebte und hinter deren Oberfläche er blickte. Im Sinne Hessels wurde das Schreiben zum Ent-decken und das Feuilleton zum Stadtführer nicht nur durch die wirkliche bzw.

gelebte Stadt, sondern auch durch die imaginierte Stadt. Daher sind diese Texte als Geschichts- und Gesellschaftsführer zugleich zu verstehen. Das Feuilleton ist ein interaktives Genre, macht das Lesen zur Suche. Es bezieht den Leser mit ein, mit all seinem Vorwissen und seiner Erfahrung, und gestattet ihm somit, sich seine eigene Wirklichkeit zu konstruieren. Gleichzeitig verbindet das Feuilleton Alt und Neu in Form und Stil, schafft eine Brücke zwischen Hoch- und Massenkultur. Ihm gelingt das Kunststück, eine zeitlose Aussage über die jeweilige Zeit zu treffen, obwohl es an eine konkrete Zeit und einen konkreten Ort gebunden ist.

57 Hessel, Franz: Die Kunst, spazieren zu gehen. In: Hessel, Franz: Ermunterungen zum Genuß. Arsenal Berlin, 1987, S. 107 - 111.

58 Vgl. Prigge, Walter: a. a. O., S. 35. Vgl. zum Thema Flaneur auch: Köhn, Eckhardt:

Straßenrausch. Flanerie und die kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Arsenal Berlin, 1989. Voss, Dietmar: Die Rückseite der Flanerie. Versuch über ein Schlüsselphänomen der Moderne. In: Scherpe, Klaus R. (Hrsg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Rowohlt Reinbek, 1998, S. 37 – 60. Plath, Jörg: Liebhaber der Großstadt: Ästhetische Konzeptionen im Werk Franz Hessels. Igel Verlag Paderborn, 1994.Und: Landgrebe, Christiane; Kister, Cornelia:

Flaneure, Musen, Bohemiens. Literaten in Berlin. Ullstein Buchverlage Berlin, 1998.

59 Opitz, Michael; Plath, Jörg: „Genieße, was du nicht hast.“ Der Flaneur Franz Hessel.

Königshausen & Neumann Würzburg, 1997, S. 83.

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