• Keine Ergebnisse gefunden

2.2 Begabtenförderung

2.2.1 Begabungsbegriff

2.2.1.6 Das Aktiotop-Modell nach Ziegler

Der systemische Ansatz widerspricht dem traditionellen Begabungsbegriff in zwei wesentli-chen Punkten. Der klassische Begriff kann als „individuelle[s] Potential für gute oder ausge-zeichnete Leistungen auf einem oder mehreren Gebieten“ gefasst werden (Stöger & Ziegler, 2009, S. 4). VertreterInnen des systemischen Ansatzes merken dazu erstens an, dass in die-sem traditionellen Verständnis das Potential zur Leistungsexzellenz als im Individuum selbst verankert gesehen wird, was aus systemischer Perspektive so nicht postuliert werden kann.

Zweitens wird im systemischen Ansatz Begabung nicht mehr als relativ statisches, sondern stark veränderliches Konstrukt aufgefasst. (vgl. Stöger & Ziegler, 2009, S. 4f.)

Ebenso ist der Betrachtungsfokus beim systemischen Ansatz ein anderer: Dieser lenkt den Blick nicht mehr so stark darauf, wer fähig ist, exzellente Leistungen zu vollbringen, son-dern welche Umstände die Emergenz solcher Performanz erlauben (vgl. Grigorenko, 2012, S. 65).

Die bisher in dieser Arbeit dargestellten Begabungsmodelle werden von VertreterInnen des systemischen Ansatzes als mechanistisch bezeichnet, da bei diesen das komplexe Phänomen Begabung in Einzelteile zerlegt und aus der Wirkung dieser Bauteile das Gesamtverhalten erklärt wird. Die systemtheoretische Sichtweise verlangt nunmehr die Umkehr des Denk-prozesses: Um die Realität zu verstehen, wird sie nicht mehr in Einzelvariablen zerlegt, die anschließend untersucht werden, sondern hier werden die Teile erst durch das Ganze verständlich. Systemisches Denken fokussiert somit nicht mehr die Elemente, sondern ihre Organisation zu einem Ganzen, dem System. Systemisches Denken ist somit immer ein kontextuelles Denken. (vgl. A. Ziegler & Phillipson, 2012, S. 4f.; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 6ff.)

Auf Basis dieser Kontextualität postuliert die systemische Perspektive, dass entwicklung mehr sei, als das bloße autokatalytische Ausführen einer inneren Begabungs-software, die sich von selbst oder durch geringe äußere Anregung von alleine aktiviert. Der systemische Ansatz begreift Exzellenzentwicklung vielmehr als sukzessive Anpassung an eine Talentdomäne und sieht diesen Prozess als funktionales Ineinandergreifen vielfältiger Systemkomponenten. So kann sich eine Person nicht alleine begaben, sondern das Indivi-duum wird vom und mit dem System begabt. (vgl. Rogl, 2014, S. 6; vgl. A. Ziegler, 2008, S. 51f.; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 13)

Das aktuell differenzierteste systemische Begabungsmodell stellt das Aktiotop-Modell (vgl.

A. Ziegler, 2005, vgl. 2008; vgl. A. Ziegler & Phillipson, 2012; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009) dar (vgl. B. Harder, 2012a, S. 2; vgl. B. Harder u. a., 2014, S. 88). Dieses Modell analysiert aus systemtheoretischer Perspektive den Erwerb, den Gebrauch und die bestmög-lichen Förderbedingungen eines exzellenten Handlungsrepertoires (vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 18). Der Begriff 'Aktiotop' wird von den AutorInnen des Modells eingeführt und beschreibt den „Ausschnitt der Welt, mit dem ein Individuum handelnd interagiert und an das es sich handelnd adaptiert“ (A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 18).

Abbildung 7: Das Aktiotop-Modell nach Ziegler (A. Ziegler, 2007, S. 1)

Intelligentes Handeln wird im Modell in vier Komponenten gegliedert: Handlungsreper-toire, subjektiver Handlungsraum, Ziele und Umwelt. Im Folgenden sollen die Elemente umrissen werden.

„Das Handlungsrepertoire ist das Gesamt an Handlungen, zu dem eine Person zu einem ge-gebenen Zeitpunkt theoretisch in der Lage wäre“ (A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 19). Dieses unterscheidet sich einerseits stark zwischen einzelnen Individuen, andererseits sind auch interpersonale Differenzen zu beobachten, denn das Handlungsrepertoire eines Individuums entwickelt sich im Laufe des Lebens und erweitert sich durch Lernprozesse. Der Progress hin zur Leistungsexzellenz kann somit als umfangreicher Lernprozess gefasst werden, bei dem eine Person ein exzellentes Handlungsrepertoire erwirbt. (vgl. A. Ziegler & Phillipson, 2012, S. 17; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 19)

Zur Erreichung eines exzellenten Handlungsrepertoires ist es von Relevanz zu erkennen, welche Ziele dafür funktional sind. Diese müssen einerseits so anspruchsvoll sein, dass eine Exzellenzentwicklung angeregt wird, andererseits aber auch integriert in das eigene Zielsys-tem der Person, da sich das Individuum ansonsten im Laufe des Exzellenzentwicklungspro-zesses möglicherweise gegen die Ziele aufl ehnen wird. Drittens ist die Weiterentwicklung des Zielsystems selbst relevant, da dieses mit der Erweiterung des Handlungsrepertoires ausgeweitet und adaptiert werden muss. (vgl. A. Ziegler & Phillipson, 2012, S. 17f.; vgl. A.

Ziegler & Stöger, 2009, S. 20)

Der systemische Ansatz fußt auf der Annahme, dass Individuen und der Kontext, in dem sie verankert sind, nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können, sondern als Gesamtsystem analysiert werden müssen. Allerdings bestehen bei der Miteinbeziehung von Umweltkomponenten Freiheitsgrade. In Bezug auf die Begabtenförderung ist insbesondere die Einbeziehung von Familie und Schule in die Umweltbetrachtung von Belang, ebenso gilt es, die Talentdomäne in den Fokus zu nehmen, da der Prozess der Exzellenzentwicklung im Aktiotop-Modell als fortschreitende Adaption an diese gefasst wird. (vgl. A. Ziegler &

Phillipson, 2012, S. 18; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 20)

Der subjektive Handlungsraum einer Person ist jeweils auf bestimmte Soziotope bezogen.

Unter Soziotopen werden die Gemeinschaft betreffende Orte verstanden, die einen objek-tiven Handlungsraum eröffnen. Beispielsweise bietet eine Flötenstunde die Möglichkeit, dort Flöte zu spielen, prinzipiell wäre es aber auch möglich, zu tanzen oder andere Tätig-keiten auszuführen. Alle dort möglichen Handlungen werden somit unter dem Begriff des objektiven Handlungsraumes zusammengefasst. Bestimmte Handlungen sind jedoch in den jeweiligen Soziotopen institutionalisiert, d.h. sie werden dort sachlogisch begründet vor-nehmlich ausgeführt (z.B. Flöte spielen in der Flötenstunde) und dann auch positiv

sankti-oniert. Nicht-institutionalisierte Handlungen werden negativ sanktioniert (z.B. telefonieren während der Flötenstunde), wobei durch diese (positiven wie negativen) Sanktionen ein normativer Handlungsraum entsteht. Während der Sozialisation lernen Individuen, welche Handlungen in welchen Soziotopen wie sanktioniert werden. Dieser Prozess wird als Inter-nalisierung bezeichnet und mündet in einem subjektiven Handlungsraum. (vgl. A. Ziegler &

Phillipson, 2012, S. 19f.; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 21)

Wird Begabtenförderung mit Hilfe des Aktiotop-Modells betrachtet, so ist das Konzept der Koevolution der Komponenten von zentraler Bedeutung. Darunter wird ein dynamischer Prozess verstanden, bei dem sich die Elemente des Systems gemeinschaftlich weiterentwi-ckeln und anpassen. So muss nach dem Vollzug eines Lernschritts das erweiterte Handlungs-repertoire im subjektiven Handlungsraum Abbildung fi nden, ebenso wie ein neues Lernziel gesetzt werden muss, das sich auf den erforderlichen neuen Lernschritt bezieht. Zusätzlich muss auch die Lernumwelt so gestaltet werden, dass dieser nächste Lernschritt möglich wird. (vgl. A. Ziegler, 2008, S. 56; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 24ff.)

Die traditionellen Begabungs-Modelle werden von VertreterInnen des systemischen Ansat-zes mit Fördermaßnahmen wie Enrichment und Akzeleration konnotiert. Diese sind jedoch nach deren Ansicht durch einen wesentlichen Makel gekennzeichnet, nämlich durch eine Se-lektions- und Platzierungsorientierung, bei der die begabten Lernenden zumeist aus einem SchülerInnenpool herausgenommen und einer Fördermaßnahme zugeführt werden. Dabei sollen die Begabten von widrigen äußeren Einfl üssen (beispielsweise dem niedrigeren Lern-tempo Gleichaltriger) geschützt werden. Diese defensive Haltung (also das bloße Abschir-men der Begabten) wird dahingehend kritisiert, dass hierbei Begabung als autokatalytisch gefasst wird, also als Eigenschaft, die sich entfaltet, sobald man die Hindernisse dafür besei-tigt. Ebenso wird kritisiert, dass klassische Fördermaßnahmen oft nur auf wenige oder ledig-lich eine Variable fokussiert sind (z.B. Wissen, Motivation, Lernen, Kreativität etc.). Diese Engführung wird aus systemischer Perspektive als unzureichend betrachtet. Daher muss aus dieser Sicht Begabtenförderung über punktuelle Ratschläge oder Interventionen hinausge-hen und vielmehr eine dauerhafte Interaktion etabliert werden, in der sich FörderInnen als Teil des sich weiterentwickelnden Aktiotops der Begabten wahrnehmen und entsprechend handeln. Im Fokus der systemischen Begabtenförderung steht letztlich die Konstruktion ei-nes Lernpfades, der von BegabtenförderInnen begleitet und immer wieder adaptiert wird.

(vgl. Sontag & Steinbach, 2009, S. 40; vgl. Stöger & Ziegler, 2009, S. 8ff.)

Begabtenförderung aus systemischer Sicht fokussiert daher auf Individualisierung, also das zur Verfügung Stellen von individuellen, angepassten Lernpfaden für die einzelnen be-gabten Lernenden. Dies wird als aktiver Prozess aufgefasst und im Kontrast zur passiven Abschirmung Begabter vor hemmenden Einfl üssen gesehen. Aus systemischer Sicht kann Begabtenförderung also als das Etablieren und ständige Weiterentwickeln eines

individuel-len Support-Systems für alle begabten Lernenden betrachtet werden, in dem die Lehrperson zentral beteiligt ist. Bezogen auf die schulische Förderung wird also das individuelle, aktive Fördern durch die Lehrkräfte noch stärker in den Fokus gerückt. (vgl. Sontag & Steinbach, 2009, S. 40ff.; vgl. A. Ziegler & Phillipson, 2012, S. 5ff.)

Somit ist aus systemischer Perspektive die Förderung von Begabten jedenfalls als funda-mental anzusehen, damit Expertise erreicht werden kann, und eine passive Haltung, in der davon ausgegangen wird, dass Begabte sich alleine ihren Weg in Richtung Exzellenz bah-nen, muss aus systemischer Sicht klar verneint werden.

Einige VertreterInnen systemischer Begabtenförderung gehen so weit zu postulieren, dass individuelle Begabungen zur Erreichung von Exzellenz nicht notwendig seien. Vielmehr komme es vor allem auf das System an, ob Hochleistung auf einem bestimmten Gebiet erreicht werden könne. Als Konsequenz wird dann auch eine vorliegende Leistungsexzel-lenz als nicht im 'Besitz' einer begabten Person gesehen, sondern als Leistung des Systems diesem zugeschrieben. (vgl. Pérez & Beltrán, 2012, S. 94; vgl. A. Ziegler & Stöger, 2011, S. 132f.)

Dies kann allerdings auch kritisch gesehen werden: So merken Pérez und Beltrán an, dass die Aussage, Begabung sei keine persönliche Charakteristik, oder dass eine Person nicht als begabt bezeichnet werden könne, dazu führe, dass das Subjekt verschwimme und unter dem Kontext verschüttet werde (vgl. Pérez & Beltrán, 2012, S. 94). Das Postulat, dass eine Per-son ihre Begabung nicht 'besitzen' könne, da diese auf das System zurückzuführen sei, führt die Diskussion ganz an den Anfang der Genese des Begriffs Begabung, bei dem sich Per-sonen auch ihre Begabung nicht selbst zuschreiben konnten, da diese als von Gott gegeben aufgefasst wurde. In dem hier vorliegenden Fall wird eine Person nunmehr nicht von Gott begabt, sondern vom System. Wenn allerdings Leistung nicht als die eigene gesehen werden darf, wirft dies die Frage auf, ob damit nicht auch die Motivation, Leistung zu erbringen, stark gedämpft wird.

AutorInnen, die eine moderatere Auffassung zu dieser Frage haben, betrachten Begabung auch aus einer systemischen Perspektive heraus weiterhin als Ressource, die für die Meiste-rung bestimmter Lernschritte notwendig oder zumindest von großem Vorteil ist. Allerdings betonen auch diese AutorInnen, dass dem System eine zentral determinierende Rolle zu-komme, inwieweit eine Person Exzellenz erreichen kann. (vgl. A. Ziegler & Stöger, 2009, S. 143)

Betrachtet man das Aktiotop-Modell aus einer kritischen Perspektive, so wird in der Litera-tur wiederholt hervorgehoben, dass es den multifaktoriellen Interaktionsmodellen (MMG,

Münchner Begabungsprozessmodell und DMGT) sehr stark ähnelt. Denn auch diese Mo-delle betrachten den Exzellenzentwicklungsprozess nicht als allein durch das begabte Indi-viduum determiniert, sondern als eingebettet in die Umwelt und von ihr beeinfl usst. Ebenso wird auch bei diesen Modellen die Prozesshaftigkeit der Entwicklung betont. (Gagné, 2012, S. 55; vgl. Heller, 2012, S. 74f.; vgl. Lee, 2012, S. 81f.)

Des Weiteren wird angemerkt, dass die empirische Forschungslage zum Modell und zur sys-temischen Begabtenförderung noch unzureichend ist, Aussagen über die Validität also noch spärlich sind (vgl. B. Harder, 2012b, S. 70; vgl. Heller, 2012, S. 75). Wiederholt wird auch die Nützlichkeit des Modells für die praktische Anwendung durch Lehrpersonen bezweifelt, da das Modell als sehr theoretisch bezeichnet wird und dieses außerdem voraussetzt, dass Lernende von den Lehrpersonen in ihrer Gesamtheit erfasst und holistisch betrachtet wer-den, um einen optimalen Lernpfad und die optimale Förderung sicherzustellen (vgl. Garces-Bacsal, 2012, S. 58f.; vgl. Sarouphim, 2012, S. 102; vgl. Tao & Shi, 2012, S. 114).

In den bis hier dargestellten Abschnitten wurde die Entwicklung dessen, was unter Bega-bung verstanden werden kann, dargelegt, indem die Evolution des BegaBega-bungsbegriffs von früher Forschung bis zu heute gängigen Modellen erläutert wurde. Im folgenden Kapitel soll nun noch auf die oft synonym verwendeten Begriffl ichkeiten in der Begabungsdiskussion und deren Unterscheidung eingegangen werden.