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D EFINITION UND B ESCHREIBUNG , K LASSIFIKATION , P RÄVALENZ

1.1.1 Definition und Beschreibung, Abgrenzung von nichtschmerzhaften Phantomempfindungen sowie Stumpfschmerz und Stumpfempfindungen

Phantomschmerz wurde erstmals von Ambroise Paré (1554), einem französischen Militärchirurgen, beschrieben (Keil, 1990). In einer hermeneutischen Analyse des Postamputationssyndroms unterschied er zwischen präamputativem Schmerz ("la douleur est parties mortes") und postamputativen Phänomenen. Bei den postamputativen Phänomenen unterschied er Stumpfschmerz von Empfindungen im Phantom ("faux sentiments"). Er unterschied auch die Empfindungen im Phantomglied: so wurden nichtschmerzhafte exterozeptive Empfindungen sowie Phantomschmerz ("la douleur est parties amputées") als getrennte Entitäten beschrieben. Paré charakterisierte Phantomschmerz als psychogenes Schmerzsyndrom mit verschlepptem, intermittierendem und verzögertem Beginn ("se plaigner fort") und Modifizierbarkeit durch exogene Faktoren wie z.B. Wettereinflüsse ("les causes froides") und psychologische Faktoren. Er riet ab von chirurgischen Manipulationen am Stumpf als Behandlung des Phantomschmerzes und bot zwei ätiologische Modelle neurologischer Natur als Erklärung der Entstehung des Phantomschmerzes an: periphere Veränderungen im Stumpf sowie ein Gedächtnis, das einen zerebralen Entstehungsort indiziert, und eine Algogenesis im Hirn annimmt (Keil, 1990).

Im vergangenen Jahrhundert wurden Phantomempfindungen ebenfalls von Bell (1830) beschrieben und der Begriff „Phantom“ für diese Phänomene von Mitchell (1872) eingeführt. Seit der erstmaligen Erwähnung des Phantomphänomens wurden 4 voneinander zu unterscheidende klinische Entitäten beschrieben, die nach einer Amputation auftreten können: Phantomschmerz, nichtschmerzhafte Phantomempfindungen (beide können spontan auftreten oder durch Berührung ausgelöst werden, s.u.), Stumpfschmerz und nichtschmerzhafte Stumpfempfindungen.

Phantomschmerz ist ein noxisches sensorisches Phänomen eines fehlenden Gliedes. Die Internationale Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (International Association for the Study of Pain (IASP), 1986) definiert Phantomschmerz als „Schmerz, der sich auf ein

chirurgisch entferntes Glied oder Teil eines Gliedes bezieht“.

Für den Phantomschmerz gibt es keinen typischen Schmerzcharakter – es wurden verschiedene Schmerzqualitäten berichtet (Döbler & Zenz, 1993). Die Qualität von Phantomschmerz ist variabel - 2 Typen sind allgemein vorherrschend. Ein Typ ist brennend oder klopfend, der andere wird als abnorme ischämische Mißempfindung im Phantomglied beschrieben, die von mild bis fürchterlich reicht (Carlen, Wall, Nadvorna &

Steinbach, 1978). Häufig beschreiben die Patienten ihren Schmerz als brennend, kribbelnd, pochend, verkrampft, stoßend oder schießend (Melzack, 1992; Sherman, 1993). Qualität, Intensität, Häufigkeit und Dauer des Phantomschmerzes variieren individuell (Sherman &

Arena, 1992; Döbler & Zenz, 1993). Bei 75% der Fälle tritt er attackenförmig und verstärkt im distalen Bereich des amputierten Gliedes auf. Katz und Melzack (1990) berichten, daß bei 57% der Patienten der Phantomschmerz im Charakter und in der Lokalisation mit dem Schmerz unmittelbar vor der Amputation übereinstimmt. Patienten mit präamputativem Schmerz entwickelten auch häufiger Phantomschmerz. Jensen und Rasmussen (1995) fanden eine solche Übereinstimmung bei 36% der Patienten. Der Phantomschmerz gilt als relativ behandlungsresistent – nur etwa 7% der Patienten berichten eine bedeutsame Linderung des Schmerzes nach einer Behandlung (Sherman, 1989).

Bei nichtschmerzhaften Phantomempfindungen handelt es sich dagegen um eine sensorische Wahrnehmung eines fehlenden Gliedes, die nichtschmerzhaft ist (Jensen &

Rasmussen, 1989) und bei fast allen Amputierten auftritt (siehe Kapitel 1.1.2. zur Prävalenz). Bei der Beschreibung der Qualität der nichtschmerzhaften Phantomempfindungen findet man einfache Wahrnehmungen von Berührung, Temperatur, Druck oder Kribbeln bzw. Jucken oder komplexere Wahrnehmungen wie ein Gefühl für Position, Länge, Volumen des Phantoms sowie die Empfindung spontaner, gewollter oder assoziierter Bewegungen des Phantoms. Drei klinische Charakteristika von Phantomphänomenen wurden beschrieben (Jensen & Rasmussen, 1989): Kinästhetisch (Position, Länge, Volumen), kinetisch (willkürliche, spontane und zusammenhängende Bewegungen) und exterozeptive/kutane Empfindungen (Berührung, Druck, Jucken). Die nichtschmerzhaften Phantomempfindungen sind ebenfalls lebhafter und stabiler im distalen Bereich des amputierten Gliedes (Jensen & Rasmussen, 1995). Eine spezielle nichtschmerzhafte Phantomempfindung ist das Teleskopphänomen. Es wurde erstmals beschrieben und benannt von Gueniot (1861). Dies ist ein Prozeß, bei dem die

Phantomempfindung schrumpft und die Finger der Phantomhand bzw. der Phantomfuß werden als direkt am Stumpf befestigt wahrgenommen. In den meisten Fällen wird eine subjektiv wahrgenommene Verkürzung des Phantomgliedes berichtet, in einigen Fällen sogar ein vollständiges Hineinwandern in den Stumpf (Weiss & Fishman, 1963; Spitzer, Böhler, Weisbrod & Kischka, 1995). Zuweilen wird auch eine Verkleinerung des Phantomgliedes, z.B. auf die Größe einer Kinderhand, wahrgenommen (Katz, 1992;

Spitzer et al., 1995). Dieser Prozeß erfolgt schrittweise mit einer Inzidenz von ca. 25-75%

und ist innerhalb der ersten Jahre nach der Amputation abgeschlossen. Es scheint häufiger bei Arm- als bei Beinamputierten aufzutreten (Henderson, 1948) und tritt gewöhnlich häufiger zusammen mit nichtschmerzhaften Phantomempfindungen auf. Die physiologische Erklärung des Teleskops ist unklar (Wesolowski & Lema, 1993).

Ein weiteres Phänomen sind die sogenannten übertragenen Phantomempfindungen („referred sensations“). Bei diesen handelt es sich um schmerzhafte und nichtschmerzhafte Empfindungen im Phantomglied, die durch taktile oder schmerzhafte Stimulation im Gesicht, Stumpf (Cronholm, 1951; Ramachandran, Rogers-Ramachandran & Stewart, 1992a; Ramachandran, Stewart & Rogers-Ramachandran, 1992b) als auch an anderen Bereichen des Körpers (Knecht, Henningsen, Elbert, Flor, Höhling, Pantev, Birbaumer &

Taub, 1995; Knecht, Henningsen, Elbert, Flor, Höhling, Pantev & Taub, 1996; Knecht, Henningsen, Höhling, Elbert, Flor, Pantev & Taub, 1998; Karl, Grüsser, Denke, Taub &

Flor, 1998) ausgelöst werden können. Bei einigen Patienten kann die Auslösung solcher übertragenen Empfindungen einem topographischen Muster folgen (Cronholm, 1951;

Knecht et al., 1995, 1996, 1998; Karl et al., 1998).

Von den Phantomempfindungen sind die Stumpfempfindungen zu unterscheiden.

Stumpfschmerz ist eine schmerzhaftes sensorisches Phänomen, das im Amputationsgebiet wahrgenommen wird und entweder in einem eingegrenzten Gebiet lokalisiert sein kann oder diffuser erscheint. Es handelt sich dabei um Schmerzen, die nach der Heilung der Operationsnarbe am Stumpf auftreten. Sie müssen vom postamputativen Wundschmerz abgegrenzt werden. Stumpfschmerz wird oft als stechend, scharf, schießend oder elektrisiert oder bei leichter Berührung als brennend beschrieben. Oftmals tritt er gemeinsam mit Phantomschmerz auf. Häufig ist der Stumpf kalt, zyanotisch und atrophiert und reagiert oft sehr empfindlich auf Berührungen. Stumpfschmerz kann leicht durch mechanische Reizung ausgelöst werden (z.B. durch die Prothese), kann sich aber auch bei Ermüdung und Wetterwechsel verstärken (Sherman, 1983). Nichtschmerzhafte

Stumpfempfindungen äußern sich in den nichtschmerzhaften Phantomempfindungen vergleichbaren Gefühlsqualitäten (z.B. kribbeln, jucken). Bei etwa 50% der Amputierten treten gelegentlich spontane Bewegungen des Stumpfes auf („Stumpfschlagen“), deren Ausmaß von leichten Zuckungen bis zu schweren klonischen Kontraktionen reicht (Jensen

& Rasmussen, 1995).

1.1.2 Prävalenz von Phantomschmerz und anderen Wahrnehmungsphänomenen

Zur Prävalenz von Phantomschmerz gibt es in der Literatur unterschiedliche Angaben.

Diese variieren von 2-97 % (Jensen & Rasmussen, 1995). Die Mehrzahl der Autoren ist sich jedoch darüber einig, daß Phantomschmerz nach einer Amputation sehr häufig auftritt.

Nach Sherman (1989) leiden etwa 80% der Amputierten an Phantomschmerz. Döbler und Zenz (1993) berichten von 60-70% der Amputierten. Bei 5-10% tritt der Phantomschmerz häufiger als nur gelegentlich auf (Melzack, 1992). Bei 85% tritt der Phantomschmerz bereits kurz nach der Amputation auf (Gillis, 1964), aber auch ein verspäteter Beginn ist möglich (Melzack, 1992). Die unterschiedlichen Zahlenangaben sind wahrscheinlich auf Definitionsprobleme (z.B. Nichtunterscheidung von schmerzhaften und nichtschmerzhaften Phantomempfindungen), Unterschiede in der Stichprobenrekrutierung (Stannard, 1993) oder auf unterschiedliche Zeiten des Zurückliegens der Amputation in den Untersuchungen zurückzuführen, da direkt nach der Amputation beinahe bei jedem Patienten Phantomschmerzen auftreten und diese mit der Zeit schwächer werden können, d.h. die schmerzhaften Episoden nehmen ab (Jensen & Rasmussen, 1995). Sie fanden in einer Längsschnittuntersuchung, daß eine Woche nach der Amputation 72% der Amputierten unter Phantomschmerz litten, 6 Monate später 65% der Patienten, nach 2 Jahren 59% (wobei davon 21% unter täglichen Schmerzattacken litten).

Die Prävalenz der nichtschmerzhaften Phantomempfindungen liegt bei 80-100% - sie scheinen eine normale Folge der Amputation zu sein (Sherman, 1989). Bei Patienten, die zum Zeitpunkt der Amputation jünger als 6 Jahre waren, werden kaum Phantomempfindungen beobachtet (Jensen & Rasmussen, 1995). Das Teleskopphänomen tritt bei etwa 30% der Amputierten auf (Katz, 1992; Spitzer et al., 1995).

Die Prävalenz von Stumpfschmerz nach einer Amputation liegt bei etwa 60 % (Döbler &

Zenz, 1993). Im Verlauf fanden Jensen und Rasmussen (1995) Stumpfschmerz eine Woche

nach der Amputation bei 57% der Patienten, zwei Jahre später nur noch bei 21%.

Über die Prävalenz der übertragenen Empfindungen gibt es keine einheitlichen Daten. Es scheint sich dabei um ein relativ seltenes Phänomen zu handeln mit einer Inzidenz von ca.

20-87 % (Flor, Mühlnickel, Karl, Denke, Grüsser & Taub, 1998; Knecht et al., 1995, 1996;

Karl et al., 1998). Topographisch auslösbare übetragene Empfindungen scheinen noch seltener aufzutreten – mit einer Inzidenz von 5-20 % (Flor et al., 1998; Knecht et al., 1995, 1996; Karl et al., 1998).

1.2 Ansätze zur Ätiologie und Mechanismen der Aufrechterhaltung des