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Die „Classic Rockers“ der 50er Jahre: Rebellen in einer konservativen Ära

Im Dokument Rockmusik in den 50er und 60er Jahren (Seite 35-45)

„The reason kids like rock ‘n’ roll is their parents don’t.”

Sänger und Produzent Mitch Miller Zu Beginn der 50er Jahre fingen Radiosender in Gegenden mit einem ho-hen Anteil an afroamerikanischer Bevölkerung an, vermehrt Rhythm and Blues zu spielen. Dadurch wurden auch weiße Jugendliche, die der zu-meist langweiligen Unterhaltungsmusik weißer Künstler überdrüssig wa-ren, über das Radio vermehrt auf schwarze Musik aufmerksam. Die entste-hende Nachfrage zwang zusehends „weiße“ Plattenläden, Rhythm and Blues in ihr Sortiment aufzunehmen, und veranlasste weiße Discjockeys, bei ihren Sendern schwarze Musik aufzulegen. Einer der ersten Discjo-ckeys, die diesen Schritt wagten, war der 1951 beim Sender WJW1 in Cleveland, Ohio, unter Vertrag stehende Alan Freed. Seine Nachmittags-sendung „Alan Freed’s Moon Dog Rock and Roll House Party“, bei der er ausschließlich Rhythm and Blues spielte, wurde bald auch von anderen Sendern übernommen. Aufgrund seines Erfolges wechselte Freed 1954 zu einem New Yorker Sender und später sogar zu Radio Luxemburg, das auf-grund seiner starken Sendeleistung zur Ausbreitung des Rhythm and Blues in vielen Teilen Westeuropas beitrug. Freed war es auch, der „Rock and Roll“ als ein Synonym für Rhythm and Blues prägte, wenngleich der Be-griff „Rock and Roll“ – ursprünglich ein umgangssprachlicher Ausdruck

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1 Amerikanische Radiosender werden seit 1927 mit einem Rufzeichen (call sign) aus drei oder vier Buchstaben identifiziert. Als die Zahl der Radiosender in den ausge-henden 20er Jahren dramatisch zunahm, erließ der Kongress 1934 den „Federal Communications Act“, der der amerikanischen Regierung das Recht gibt, jedem Sender ein solches Kürzel zuzuweisen, um Eindeutigkeit zu gewährleisten. Im in-ternationalen Radio-System hatte man den USA die Buchstaben „A“, „N“, „K“ und

„W“ zugewiesen, wobei „A“ und „N“ für behördliche und militärische Zwecke re-serviert wurden, während „K“ und „W“ kommerziellen Radiosendern zufielen. Mit wenigen Ausnahmen erhielten Sender östlich des Mississippi ein mit „W“ begin-nendes Kürzel, während Sendern westlich davon das „K“ als Anfangsbuchstabe zu-gewiesen wurde.

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für Beischlaf – schon in früheren Rhythm and Blues Titeln verwendet wor-den war.2

Musikalisch sind Rhythm and Blues und früher Rock and Roll kaum zu unter scheiden. Dominierend sind bei beiden gerade Taktarten, wobei eine starke Betonung auf der zweiten und vierten Zählzeit liegt – auch „Back-beat“ oder „Off„Back-beat“ genannt –, während andere Musikrichtungen zumeist die ungeraden Zählzeiten betonten. Charakteristisch ist zudem eine einfa-che Akkordfolge, die zumeist mit zwei oder drei Akkorden auskam, die ständig wiederholt wurden. Die Instrumente wurden zunächst in erster Li-nie für den Rhythmus und weniger für die Melodie eingesetzt, während sich die E-Gitarre mehr und mehr zum dominierenden Soloinstrument entwickelte. Der Gesang wurde hauptsächlich ruf- oder sprechartig vorge-tragen. Schließlich waren eine große Lautstärke und ein scharfer, dynami-scher Klang sowohl für Rock and Roll als auch für Rhythm and Blues kennzeichnend. Aufgrund der großen Ähnlichkeiten ist es kaum möglich, bestimmte Künstler Anfang und Mitte der 50er Jahren, wie etwa Chuck Berry oder Fats Domino, einem der beiden Genres zuzuordnen. Erst gegen Ende des Jahrzehnts, als der Rock and Roll zunehmend „weißer“ und Rhythm and Blues als Oberbegriff für schwarze Musikrichtungen wie Soul oder Funk beibehalten wurde, beschrieben beide Begriffe weitestgehend unterschiedliche Musikrichtungen.3

Der Rhythm and Blues bzw. Rock and Roll mit seinen teils sexuellen Anspielungen und seiner Ausgelassenheit war eine willkommene Ab-wechslung für viele Teenager, die sich nicht mit den moralischen Werten und dem konservativen Umfeld ihrer Eltern identifizieren konnten. Die Wirtschaftskrise in den 30er Jahren, der Zweite Weltkrieg und der Krieg in Korea hatten ihre Spuren bei den Erwachsenen hinterlassen, die sich in den 50er Jahren eine Rückkehr zur Normalität wünschten und aufgrund der Entbehrungen während der „Great Depression“ und der Kriegsjahre nach materiellem Wohlstand und Sicherheit strebten. Damit einher gingen die Betonung klassischer Geschlechterrollen und eine Idealisierung der Fa-milie. Die sozialen, moralischen und religiösen Werte der weißen Mittel-schicht, der „WASPs“, wurden auch durch das stark an Bedeutung gewin-nende Medium Fernsehen vermittelt. Diese scheinbare Konformität und der Konservativismus ihrer Eltern erregten ein Gefühl des Aufbegehrens unter den Jugendlichen. Das Sicherheitsdenken der Erwachsenen und die

2 Bereits 1934 hatten die Boswell Sisters ein Lied mit dem Titel „Rock and Roll“ auf-genommen.

3 Friedlander, Rock and Roll – A Social History, 22–23.

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Fokussierung auf materielle Werte war für sie, die die wirtschaftliche Not nicht bewusst miterlebt hatten, weder nachzuvollziehen noch erstrebens-wert.

Der Wunsch, sich von den Erwachsenen abzugrenzen, fand zu Mitte der 50er Jahre Ausdruck in Film und Musik. Aufsässige Anti-Helden wie Mar-lon Brando oder James Dean wurden zu Idolen und ihre Filme – Der Wilde (1954, OT: The Wild One), Die Faust im Nacken (1954, OT: On the Water-front), ...denn sie wissen nicht, was sie tun (1955, OT: Rebel Without a Cause) oder Jenseits von Eden (1955, OT: East of Eden) – zur Ausdrucksmöglichkeit jugendlicher Rebellion. Dean und Brando unterschieden sich maßgeblich von den früheren Kinohelden, wie der Historiker Todd Gitlin beschreibt:

„Unlike Clark Gable, Gary Cooper, or Humphrey Bogart, say, heroes who knew what they wanted and went after it, Brando and Dean went looking for trouble because they had nothing better to do.“4

Ein weiterer Film, der zu Mitte der 50er Jahre für Aufsehen sorgte, war Die Saat der Gewalt (1955, OT: Blackboard Jungle) mit Glenn Ford, Sidney Poitier und Vic Morrow in den Hauptrollen. Der Film thematisierte den Generationenkonflikt, Kriminalität sowie ethnische und soziale Probleme an Schulen in den USA. Seine aggressive Machart führte häufig zu Randale durch jugendliche Kinobesucher, die die Kinosäle im Anschluss an den Film verwüsteten. In die Filmgeschichte eingegangen ist Die Saat der Ge-walt auch, weil er dem Titelsong „Rock Around the Clock“ von Bill Haley zu weltweitem Erfolg verhalf und dem Rock and Roll den Weg zur populä-ren Jugendmusik ebnete.

Bill Haley

William Haley wurde am 6. Juli 1925 in Highland Park, Michigan, gebo-ren und wuchs in Chester, Pennsylvania, auf. Er entstammte einer musika-lischen Familie. Seine Mutter gab Klavierunterricht, und sein Vater, ein Schiffsbauer, spielte Mandoline. Haley brachte sich mit sieben Jahren selbst das Gitarrespielen bei und trat bald bei Amateurwettbewerben auf.

Mit 15 wurde er bereits ein professioneller Country- Musiker und spielte in der Band „Cousin Lee“, die eine eigene Radioshow in Wilmington,

Dela-4 Todd Gitlin, The Sixties – Years of Hope, Days of Rage (New York: Bantam Books, 1993) 33.

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ware, hatte.5 1944 trat er der Country-Band Down Homers bei und bereis-te mit ihr den Mittleren Wesbereis-ten, wo die traditionell eher konservative und patriotisch angehauchte Countrymusic auf große Resonanz stieß. Zwei Jahre später, nachdem er zwischenzeitlich geheiratet hatte, zog er zurück nach Chester, um dort als Discjockey zu arbeiten. Nach kurzer Zeit erhielt er bei seinem Sender WPWA eine eigene Show, in der er live spielte. Au-ßerdem begann er, in lokalen Clubs kleinere Auftritte zu geben. Haley trat auch in schwarzen Clubs auf, was Anfang der 50er Jahre durchaus noch eine Seltenheit war und im Süden der USA undenkbar gewesen wäre.

„Back then, we [Haley und seine Band] worked colored nightclubs and there was no problem with either the musicians or the patrons. And I worked on the same bill at Pep’s Music Barn with B. B. King, Fats Domino, Lloyd Price, Ray Charles, Nat King Cole – no hang-up whatsoever.”6

1951 nahmen Haley und seine Band The Saddlemen Coverversionen von Jackie Brenstons „Rocket 88” und Jimmy Prestons „Rock the Joint“

auf, die durchaus schon wie spätere Rock-and-Roll-Hits klangen und kom-merzielle Achtungserfolge wurden. Sie brachten Haley zu der Überzeu-gung, dass er mit einem neuen Musikstil erfolgreich sein könnte: „I felt then that if I could take, say, a Dixieland tune and drop the first and third beats, and accentuate the second and fourth, and add a beat the listeners could clap to as well as dance this would be what they were after.”7 Haley unterlegte Country- und Bigband-Sound mit Elementen des Boogie und integrierte Bestandteile des Rhythm and Blues, allen voran den im Offbeat gespielten Viervierteltakt. Country-Instrumente wie das Akkordeon oder die Mundharmonika wichen elektrischen Gitarren und dem Saxofon.

Nach der Transformation umfasste Haleys Ensemble zwei E-Gitarren, ein Schlagzeug, einen Bass, ein Klavier, eine Stahlgitarre und ein Tenorsaxo-fon. Mit der musikalischen kam auch eine optische Veränderung. Traditio-nelle Wildlederjacken sowie Cowboyhüte und -stiefel wurden gegen Ein-heitsanzüge und Lackschuhe eingetauscht, um modern und „chic“ zu wir-ken. Schließlich fand eine Namensänderung statt, die das Cowboyimage vollends beseitigen sollte. Aus Bill Haley and the Saddlemen wurden Bill Haley and His Comets.8

5 Arnold Shaw, The Rockin’ 50s: The Decade That Transformed the Pop Music Scene (New York: Hawthorne Books, 1974) 139.

6 Zitiert nach ibid, 143.

7 Zitiert nach Gillett, The Sound of the City – The Rise of Rock & Roll, 24.

8 Friedlander, Rock and Roll – A Social History, 31.

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1953 gelang Haley und seinen Kometen schließlich der Durchbruch mit

„Crazy Man Crazy“, das mit einer Goldenen Schallplatte ausgezeichnet wurde. Ein Jahr später hatte die Band mit einer Coverversion von Joe Tur-ners Bluessong „Shake, Rattle and Roll“ ihren zweiten großen Hit. Den-noch wagte es Haley nicht, Turners Text vollständig zu verwenden, da die-ser einige versteckte Anzüglichkeiten, wie etwa „get outta that bed, wash your face and hands“, beinhaltete. Anspielungen auf Sex oder, wie in die-sem Fall, die Zeit danach waren für schwarzen Blues durchaus üblich. Ha-ley änderte die erwähnte Textzeile in das fast absurde „get out from that kitchen, and rattle those pots and pans“, weil er befürchtete, der Original-text würde die Toleranzgrenze des weißen Publikums überschreiten, auf das er abzielte. Im Falle Haleys war es also in erster Linie das musikalische und nicht das textliche Element, das die Jugendlichen begeisterte. Den-noch muss angemerkt werden, dass es häufig die sexuellen Anspielungen in den Texten schwarzer Rockmusiker wie Little Richard oder Chuck Berry waren, die eine große Faszination auf weiße Jugendliche ausübten und der Rebellion gegen elterliche Moralvorstellungen Ausdruck verliehen.

Bereits im Frühjahr 1954 hatte Haley, nachdem er einen Vertrag bei Dec-ca – neben Columbia und RCA eine der drei führenden Plattenfirmen – unterschrieben hatte, „Rock Around the Clock“ aufgenommen, das zu-nächst jedoch nur ein mäßiger Verkaufserfolg wurde.9 Der Durchbruch für Haleys größten Hit sollte erst kommen, als der Regisseur von Blackboard Jungle, Richard Brooks entschied, den Vorspann mit diesem Lied zu hinter-legen.10 Nach seiner Wiederveröffentlichung im Jahr 1955 wurde „Rock Around the Clock“ ein Nummer-Eins-Hit in den USA, Australien, Groß-britannien und Deutschland, wo es in der Jahreshitparade das einzige nicht deutschsprachige Lied war.

Bestärkt von diesen Erfolgen begannen Bill Haley and His Comets 1958 ihre erste Europatournee mit Konzerten in Frankreich, Italien und Deutschland. Während die Auftritte – alle Ende Oktober 1958 – in Frank-furt, Wiesbaden, Wuppertal, Düsseldorf, Mannheim, Karlsruhe und Stutt-gart friedlich verliefen, demolierten die aufgepeitschten Jugendlichen in Essen, Hamburg und im Berliner Sportpalast die Halleneinrichtungen, was dem Ruf des Rock and Roll in Deutschland erheblich schadete und zu Haleys Image als „Jugendverderber“ beitrug.

9 Gillett, The Sound of the City – The Rise of Rock & Roll, 24.

10 Peter Ford, Rock Around the Clock and Me, http://www.peterford.com/ratc.html [17.07.05].

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Ende der 50er Jahre konnte der bereits über dreißigjährige, stark beleib-te und wenig attraktive Haley jedoch immer weniger Jugendliche in seinen Bann ziehen und musste mehr und mehr dem ungekrönten König des Rock and Roll, Elvis Presley, weichen. Haley ging noch viele Jahre auf Tournee, ehe er sich in den 70er Jahren, geplagt von Alkohol- und finan-ziellen Problemen, weitestgehend aus dem Musikgeschäft zurückzog und am 9. Februar 1981 in Harlingen, Texas, starb. Trotz des schnellen Verglü-hens des „Haleyschen Kometen“ Ende der 50er Jahre, war Haleys Einfluss auf die Entwicklung des Rock and Roll maßgeblich. Er war der erste weiße Musiker, der Rhythm and Blues mit weißen Musikrichtungen mischte und Rock and Roll einem weißen Publikum zugänglich machte.

Chuck Berry

Als 1986 die „Rock and Roll Hall of Fame“ in Cleveland, Ohio, gegründet wurde, war Chuck Berry der erste Künstler, den man dort ehrte. Dies ge-schah nicht zu Unrecht, denn obwohl Haley der erste weltweit erfolgreiche Rock-and-Roll-Hit gelang, hat kein anderer Musiker den Rock and Roll in seiner frühen Zeit stärker geprägt als Chuck Berry. John Lennon unter-strich diese Bedeutung Berrys: „If you tried to give rock and roll another name, you might call it Chuck Berry.”11 Auch Berrys Zeitgenossen wie Jerry Lee Lewis erkannten trotz einer gewissen Konkurrenzsituation sein außer-gewöhnliches Talent an: „My mama said, ‘You and Elvis are pretty good, but you’re no Chuck Berry’”.12 Dennoch konnte Chuck Berry zu keiner Zeit an den kommerziellen Erfolg von Elvis anknüpfen, was zum einen da-ran lag, dass der Thron des Rock and Roll einem Weißen vorbehalten war, zum anderen aber auch an der Häufigkeit mit der Berry in Konflikt mit dem Gesetz geriet.

Charles Edward Anderson Berry wurde am 18. Oktober 1926 in St.

Louis, Missouri, geboren. Sein Vater arbeitete als Bauträger und war Dia-kon der Baptistengemeinde „The Ville“, eine der wenigen Gemeinden im Süden der USA, in denen es Afroamerikanern erlaubt war, Land zu erwer-ben. So wuchs Berry in soliden wirtschaftlichen Verhältnissen als drittes von sechs Kindern auf. Mit sieben begann er, Klavier zu spielen, und mit 13 brachte er sich selbst Gitarre bei. Außerdem sang er im Kirchenchor, in

11 Zitiert nach The Official Chuck Berry Homepage, http://www.chuckberry.com/abo ut/quotes.html [25.7.2005].

12 Zitiert nach ibid.

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dem auch seine Eltern aktiv waren. Berrys Einzigartigkeit lag in seinen her-vorragenden Fähigkeiten als Sänger und als Gitarrist. Seine gesanglichen Vorbilder waren Nat King Cole und Frank Sinatra, deren klare Stimmen er bewunderte. Was die Gitarre anbelangt, orientierte er sich an Musikern wie T-Bone-Walker und Muddy Waters, wenngleich Berry gestand, tief in seinem Innersten nie ein wahrer Blues-Musiker gewesen zu sein: „[...] I ride right on Muddy, too, ‘cause I can feel Muddy’s music. But really and truth-fully, blues is not my bag. I don’t know what it is, but I know it isn’t blues.”13

Seinen ersten musikalischen Erfolg hatte Berry bei einem Nachwuchs-wettbewerb in seiner Schule, den er mit einer Coverversion des Bigband-Songs „Confessin’ the Blues“ gewann. Aufgrund der geographischen Nähe zu Kansas City, dem Zentrum des Bigband-Jazz in den 30er und 40er Jah-ren, war der Einfluss von Bigband-Musik auch in St. Louis sehr stark. St.

Louis war zudem eine wichtige Durchgangsstation für viele Blues-Musiker aus dem Süden der USA, die dort auf ihrer Reise nach Chicago oder De-troit einen kürzeren oder längeren Aufenthalt machten. So kam Berry ne-ben der im Mittleren Westen populären Countrymusic auch mit Blues, Swing und Jazz in Berührung und kombinierte diese Richtungen später in seinem Rock and Roll.14

1944 geriet er in Kansas City erstmals in Konflikt mit dem Gesetz und wurde wegen Autodiebstahls und weiterer Vergehen zu drei Jahren Ju-gendreformanstalt verurteilt. Nach seiner Entlassung nahm er Gelegen-heitsjobs an, blieb aber auch weiterhin der Musik treu und wollte eigene Platten aufnehmen. 1955 reiste er nach Chicago, um dort einen Auftritt von Muddy Waters zu sehen. Dieser verwies Berry in einem Gespräch nach dem Konzert an Leonhard Chess von Chess Records, der namhafte Blues-Musiker wie Howlin’ Wolf, Willie Dixon und Waters selbst unter Vertrag hatte. Berry schickte Chess ein Demotape mit vier Liedern, darunter „Ida May“, für das sich der Produzent interessierte, da er die zunehmende Nach-frage nach schnellerer Unterhaltungsmusik erkannt hatte. Sein Geschäfts-sinn sollte Chess nicht trügen, denn im Sommer 1955 erreichte das in

„Maybellene“ umgetaufte „Ida May“ den ersten Platz der Rhythm and Blues und den fünften Platz der Pop-Charts.

13 Chuck Berry in einem Interview mit Patrick. W. Salvo (1972) abgedruckt in The Editors of Rolling Stone, The Rolling Stone Interviews: Talking With Legends of Rock

& Roll, 1967–1980 (New York: St. Martin’s Press/Rolling Stone Press, 1981) 224–

235, hier 228.

14 Friedlander, Rock and Roll – A Social History, 31.

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„Maybellene“ war ein Meilenstein in der Rockgeschichte, denn es war der erste größere Hitparaden-Erfolg eines schwarzen Künstlers im Bereich der Popmusik. Das Lied verblieb 16 Wochen in der Hitparade und verkauf-te sich besser als die Coverversionen, die weiße Musiker davon aufgenom-men hatten.15 Berry war dadurch zu einem Wegbereiter für andere schwar-ze Musiker geworden, die nun Zugang zu einem jugendlichen, weißen Pu-blikum fanden und sich über die Rhythm-and-Blues-Charts hinaus auch in den Popcharts platzieren konnten.

Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch Radio-DJs wie Alan Freed, die mehr und mehr schwarze Musik in ihre Sendungen aufnahmen, wenn-gleich häufig auch aus finanziellen Motiven. Als Gegenleistung dafür, dass er „Maybellene“ regelmäßig auf seinem New Yorker Sender spielte, erhielt Freed ein Drittel der Tantiemen, obwohl er in keiner Weise an der Kompo-sition beteiligt war. Berry schrieb diesen ihm missfallenden Umstand sein-er eigenen Unsein-erfahrenheit zu: „I suppose I can say it right quick – he [Freed] grabbed a third of the writing of ‘Maybellene’ in lieu of my rooki-ness.”16

Dabei war es in diesen Jahren keine Seltenheit, dass Discjockeys finanzi-ell oder materifinanzi-ell von Plattenfirmen entschädigt wurden, wenn sie deren Platten spielten und ihnen so zum kommerziellen Erfolg verhalfen. 1960 begann das Repräsentantenhaus mit einer Untersuchung dieser Geschäfts-praktiken, die als „Payola“-Skandal17 bekannt wurden. Bezeichnenderweise war Freed einer der im Zentrum der Ermittlungen stehenden Discjockeys.

Nachdem er der Bestechung für schuldig befunden wurde, nahm seine Karriere ein rasches Ende. Freed starb 1965 an den Folgen von Alkohol-missbrauch.

Die zunehmende Popularität schwarzer Musiker unter weißen Teen-agern war je doch keinesfalls nur die Folge unlauterer Geschäftspraktiken.

Vielmehr kam sie zustande, weil weiße Teenager zusehends nach den afro-amerikanischen „Originalen“ sowohl im Plattenladen als auch bei Konzer-ten und nicht mehr nach den weißen Covermusikern verlangKonzer-ten. Den Rock and Roll schwarzer Musiker zu hören, dem die Erwachsenen nicht nur aufgrund seiner „Herkunft“, sondern auch wegen seines Tempos und der Texte äußerst ablehnend gegenüberstanden, wurde zu einer

Ausdrucks-15 Bruce Pegg, Brown Eyed Handsome Man í The Life and Hard Times of Chuck Berry (New York: Routledge, 2002) 42.

16 Berry im Interview mit Salvo, 227.

17 „Payola“ ist eine Wortneuschöpfung aus „pay“ und der zweiten Silbe des Wortes

17 „Payola“ ist eine Wortneuschöpfung aus „pay“ und der zweiten Silbe des Wortes

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