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Charakteristika häuslicher Pflegearrangements

Im Dokument Pflege-Report 2020 (Seite 68-72)

der Pflegeversicherung 59

4.4 Erwartungen an zukünftige Unterstützungsmöglichkeiten durch die Pflegeversicherung 61

Literatur 63

© Der/die Autor(en) 2020

K. Jacobs et al. (Hrsg.),Pflege-Report 2020,https://doi.org/10.1007/978-3-662-61362-7_4

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56 Kapitel 4Bedarfslagen in der häuslichen Pflege

2Zusammenfassung

Ein erklärtes Ziel der Pflegeversicherung besteht in der Priorität der häuslichen gegenüber der sta-tionären Pflege. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht die Pflegeversicherung eine Reihe von Leistungen vor, die in Ergänzung der Pflege durch Angehöri-ge den Verbleib des pfleAngehöri-gebedürftiAngehöri-gen Menschen in der häuslichen Umgebung ermöglichen sollen.

Die Betrachtung einiger Charakteristiken häus-licher Pflegearrangements verdeutlicht, dass die Bedarfslagen oftmals komplexer sind als die vor-gesehenen Leistungen und diese nur für Teile davon angemessen erscheinen. Veränderungen und Erweiterungen des Leistungsspektrums der Pflegeversicherung im Laufe der Jahre verdeutli-chen das Bemühen die Leistungen weiterzuent-wickeln. Die Bedarfslagen in häuslichen Pflege-arrangements erfordern jedoch weitere Anpas-sungen, auch durch die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs, die abschließend in diesem Beitrag skizziert werden.

One of the main aims of the German long-term care insurance was the promotion of home care vs. institutional care. In order to achieve this ob-jective, a range of benefits was introduced which in addition to informal care provided by family members are intended to ensure the care recip-ients’ stay in his or her own home for as long as possible. A closer look into characteristics of home care arrangements reveals that the needs are often more complex than the benefits pro-vided and that these only cover some of the exist-ing needs. Expansions and changes of the range of LTC benefits over the past years indicate po-litical efforts to continuously improve the benefit scheme. Home care needs, however, require some more adjustments, particularly due to the new eligibility criteria for long-term care that are out-lined at the end of this chapter.

4.1 Einleitung

Der Blick in die alle zwei Jahre veröffentlichte Pflegestatistik verdeutlicht seit langem die hohe Bedeutung und den hohen Anteil der

häus-lichen Pflege an der Gesamtbewältigung der Pflegebedürftigkeit. 2,65 Mio. Menschen (76 % aller pflegebedürftigen Personen) erhalten eine Unterstützung in ihrer häuslichen Umgebung, 1,76 Mio. erhalten Geldleistungen aus der Pfle-geversicherung und in 830.000 Haushalten sind ambulante Pflegedienste in die Versorgung ein-gebunden und leisten diese zu einem unter-schiedlich großen Anteil (Statistisches Bundes-amt 2018). Unter häuslicher Pflege wird im vorliegenden Beitrag die Gesamtheit der pfle-gerischen Unterstützung in der häuslichen Um-gebung eines pflegebedürftigen Menschen ver-standen. Diese kann durch Angehörige, Freun-de, Bekannte oder andere Personen im Rahmen ihrer sozialen Beziehung zum pflegebedürfti-gen Menschen erfolpflegebedürfti-gen. Diese Unterstützung wird oftmals auch als informelle Pflege bezeich-net. Unter formeller Pflege wird demgegenüber die Unterstützung durch professionelle Leis-tungserbringer, insbesondere ambulante Pfle-gedienste, verstanden.

Zum Zeitpunkt der Einführung der Pflege-versicherung war eine der großen Befürchtun-gen ein Rückgang der häuslichen Pflege durch eine mögliche nachlassende Pflegebereitschaft (Meyer1996) oder ein nachlassendes informel-les Pflegepotenzial durch veränderte Erwerbs-biografien von Frauen, Auswirkungen des de-mographischen Wandels oder andere Entwick-lungen. Die Pflegestatistik zeigt eindeutig, dass es zu diesen Entwicklungen nicht gekommen ist. Stattdessen hat sich die Anzahl der Haushal-te, in denen pflegebedürftige Menschen ohne professionelle Unterstützung versorgt werden, von einer Million im Jahr 2001 (Statistisches Bundesamt2003) auf 2,65 Mio. deutlich mehr als verdoppelt. Es kann nicht vorausgesagt wer-den, ob diese Entwicklung auch in den folgen-den Jahren bestehen bleibt, aber es gibt keine Anzeichen, dass kurz- und mittelfristig mit ei-ner deutlichen Trendänderung zu rechnen ist.

Zwar werden demographische Entwicklungen, nach denen wenige jüngere immer mehr äl-teren Menschen gegenüberstehen, Auswirkun-gen auf die informelle Pflege haben, daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass die häusliche Pflege durch Familie, Freunde und

4.2Charakteristika häuslicher Pflegearrangements

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Bekannte bald endet. Entsprechend bleibt die Unterstützung häuslicher Pflegearrangements eine wichtige Herausforderung der Pflegeversi-cherung.

Die Unterstützung der häuslichen Pflege war ein erklärtes Ziel der Einführung der Pfle-geversicherung und es wurden verschiedene Leistungen und Unterstützungsmöglichkeiten zur Verfügung gestellt, um dieses Ziel zu er-reichen. Neben den Hauptleistungen der Pfle-geversicherung, der Sachleistung für die Un-terstützung durch einen Pflegedienst und der Geldleistung für selbst beschaffte Pflegehilfen, waren Leistungen zur Sozialversicherung für Angehörige und Angebote zur Teilnahme an Pflegekursen unmittelbar nach Einführung der Pflegeversicherung bereits verfügbar. Im Laufe der Jahre sind verschiedene weitere Leistun-gen hinzugekommen, insbesondere hinsicht-lich der Beratung zu Pflegefragen. Diese Erwei-terungen der verfügbaren Unterstützungsmög-lichkeiten im häuslichen Umfeld sind einerseits Ausdruck der Lern- und Weiterentwicklungs-fähigkeit der Pflegeversicherung. Sie sind ande-rerseits aber auch Ausdruck vormals verkürzter Annahmen über die Wirkungen des verfügba-ren Leistungsspektrums und seiner Angemes-senheit angesichts vielfältiger und heterogener Bedarfslagen. Bevor im weiteren Verlauf dieses Beitrags die Leistungen eingehender hinsicht-lich ihres Nutzens und der Notwendigkeit ih-rer Weiterentwicklung beleuchtet werden, fol-gen zunächst einige Ausführunfol-gen zu häusli-chen Pflegearrangements. Sie bilden den Hin-tergrund für die Analyse und Bewertung der verfügbaren Unterstützungsoptionen der Pfle-geversicherung, insbesondere auch nach der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbe-griffs zum 01.01.2017.

4.2 Charakteristika häuslicher Pflegearrangements

Ein häusliches Pflegearrangement entsteht in der Regel über zwei unterschiedliche Wege.

Zum einen kann es sich als schleichender

Prozess entwickeln, indem zu Beginn unter-schiedliche Formen der Hilfestellung und Un-terstützung zwischen Familienmitgliedern ge-leistet werden, die sich zunehmend von einer gegenseitigen zu einer einseitigen Unterstüt-zung entwickeln, da ein Mitglied des Haus-halts krankheits-, alters- oder fähigkeitsbedingt in stärkerem Maß der Unterstützung bedarf.

Bei einem fortschreitenden Bedarf an dieser Art der Unterstützung entsteht ein dauerhaftes Hilfsarrangement, in dem es mehr oder we-niger offen zu Festlegungen kommt, wer die Hauptunterstützung leistet und wer Entschei-dungen trifft.

Der zweite Weg zur Entwicklung eines häuslichen Pflegearrangements entsteht auf-grund von akuten Ereignissen wie Unfällen oder nach einem Schlaganfall. Dabei entsteht aus einem vormals etablierten Alltag inner-halb eines Haushalts unmittelbar eine kritische Situation, in der ein Familienmitglied krank-heitsbedingt seinen Alltag und die darin vor-kommenden Aufgaben nicht mehr bewältigen kann und umfassender Unterstützung in vie-len Aktivitäten und Lebensbereichen bedarf.

Die Situation, auf die nur wenige Menschen vorbereitet sind, erfordert unmittelbares Han-deln und Entscheiden. In beiden Fällen besteht ein hoher Beratungsbedarf, um Entscheidun-gen und VorkehrunEntscheidun-gen treffen zu können, wie mit der Situation umzugehen ist. Die Frage, ob formelle Unterstützungsangebote in Anspruch genommen werden sollen, und falls ja, welche, spielt eine wichtige Rolle.

Ausgangspunkt eines Pflegearrangements ist in beiden Fällen, dass die Selbständigkeit eines Menschen beeinträchtigt ist, der aus die-sem Grund der Hilfe und Unterstützung ande-rer bedarf. Mit der Pflegeversicherung wurde ein Begriff der Pflegebedürftigkeit eingeführt, um den Kreis der leistungsberechtigten Perso-nen zu definieren. Nach diesem Begriff bestand Pflegebedürftigkeit im Zeitaufwand und in der Häufigkeit für die Unterstützung bei Alltags-verrichtungen in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftliche Versorgung. Dieser Begriff der Pflegebedürftig-keit wurde im Laufe der Jahre nicht nur zur

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Bestimmung des leistungsberechtigten Perso-nenkreises genutzt, sondern war auch maß-gebend für die wesentlichen Leistungen der Pflegeversicherung, die sich sehr stark an die-sem verrichtungsorientierten Verständnis ori-entierten. Erst mehr als zwanzig Jahre nach Einführung der Pflegeversicherung kam es zu einer grundlegenden Reform dieses Begriffs.

Seit dem 01.01.2017 wird Pflegebedürftigkeit als Beeinträchtigung der individuellen Selb-ständigkeit und das daraus resultierende Ange-wiesensein auf personelle Hilfe in den Aktivi-täten und Lebensbereichen Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltens-weisen und psychische Problemlagen, Selbst-versorgung, krankheits- und therapiebedingte Anforderungen und Belastungen sowie Gestal-tung des Alltagslebens und sozialer Kontakte verstanden.

Dass ein auf Alltagsverrichtungen reduzier-tes Verständnis von Pflegebedürftigkeit und da-rauf ausgerichteter Leistungen nur bedingt sta-bilisierende Wirkung in häuslichen Pflegear-rangements zu entfalten vermag, ist darauf zu-rückzuführen, dass die Unterstützung bei All-tagsverrichtungen zwar einen relevanten Teil der notwendigen Hilfen ausmacht, in ihrer Be-deutung jedoch hinter anderen Aspekten zu-rücksteht. Bereits Ende der 1980er Jahre entwi-ckelte Bowers (1987) eine Typologie der Pflege durch Angehörige, nach der diese nicht an-hand von Einzeltätigkeiten, sondern bezogen auf die dahinterstehenden Absichten beschrie-ben wurde. Sie unterschied:

4 antizipierende Pflege, bei der es um die An-tizipation von gesundheitlichen Anforde-rungen und der Vorbereitung vorsorglicher Maßnahmen geht,

4 präventive Pflege, die sicherstellende und gewährleistende Aufgaben, z. B. bezogen auf Diäten oder Medikamente, umfasst, 4 beaufsichtigende Pflege, die als Folge der

präventiven Pflege notwendig werden kann, wenn diese allein nicht ausreicht,

4 instrumentelle Pflege, die am ehesten mit der Unterstützung bei Alltagsverrichtungen verglichen werden kann,

4 schützende Pflege, die als am schwierigsten bezeichnet wurde und bei der es um die Er-haltung des Selbstwertgefühls und der Au-tonomie des pflegebedürftigen Menschen geht.

Später fügten Bowers (1988) sowie Nolan et al.

(1996) noch die erhaltende und wiederherstel-lende Pflege sowie die reziproke – also auf Ge-genseitigkeit beruhende – Pflege hinzu.

Die vor allem auf instrumentelle Aspek-te ausgerichAspek-teAspek-ten Leistungen der Pflegeversi-cherung treffen nur einen Teil der hier von Angehörigen beschriebenen Pflege. Auch die ebenfalls bereits vor längerem von Twigg und Atkin (1994) vorgenommene Typologisierung pflegender Angehöriger gibt Hinweise auf um-fassendere Bedarfslagen. In diesem Ansatz werden Angehörige anhand demographischer Merkmale wie Alter oder Geschlecht, anhand der Erkrankung oder Problemlage des zu pfle-genden Familienmitglieds (z. B. Angehörige von Menschen mit Demenz) oder anhand der Beziehung zum pflegebedürftigen Menschen (z. B. Eltern, Kindern, Partner) charakterisiert.

Für die Frage der Angemessenheit von Leis-tungen und der Weiterentwicklung von Unter-stützungsmöglichkeiten ist dieser Ansatz von Interesse, weil sich aus jeder Betrachtungsweise unterschiedliche Aussagen zu bestehenden Be-darfslagen ableiten lassen.

Werden Angehörige unter dem demogra-phischen Merkmal des Alters betrachtet, ist es einleuchtend, dass diejenigen im erwerbs-fähigen Alter mit anderen Aufgaben hinsicht-lich der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Pflege konfrontiert sind als Angehörige, die das gesetzlich vorgesehene Rentenalter bereits erreicht haben. Für sie stellen sich sehr exis-tenzielle Fragen zur Alterssicherung und zu den Auswirkungen der häuslichen Pflegetä-tigkeit darauf. Bei Angehörigen jenseits der Erwerbstätigkeit wiederum führt das zuneh-mende Alter zu einer erhöhten Wahrschein-lichkeit, aufgrund von eigener Krankheit oder Funktionseinschränkungen die Pflege des Part-ners oder der Partnerin nicht aufrechterhalten

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