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5 Diskussion und Kritik

5.2 Chancen und Hemmnisse aus der Sicht Indiens

(B) Auswirkungen auf das Humankapital

Die Ergebnisse zu den Auswirkungen von Migration auf das Humankapital beruhen überwiegend auf der Sekundäranalyse, wie in der Tabelle 31 auf S. 187 zusammen-fassend dargestellt wird. Die recherchierten Studien zeigten als erstes, dass in meh-reren kleinen afrikanischen Staaten mit unzureichender medizinisch-pflegerischer Versorgung und niedriger Zahl an Gesundheitspersonal ein großer Anteil der im Inland ausgebildeten Pflegekräfte und Ärzte ins Ausland ausgewandert ist. Der Brain Drain-Ansatz bringt die Einzelfaktoren in den folgenden kausalen Zusammen-hang: Auswanderung verringert das Angebot an Gesundheitsfachkräften im Her-kunftsland und verschärft medizinisch-pflegerische Versorgungsengpässe. Es gibt Gewinner (die empfangenden Industrieländer) und Verlierer (die entsendenden Ent-wicklungs- und Schwellenländer). Dieser Logik folgend veröffentlichte die WHO eine Übersicht mit Staaten, die bei der Migration von Pflegekräften besonders schutzbedürftig sind. Auch Indien wurde zu diesen Ländern gezählt.

Die Sekundäranalyse verdeutlichte, dass der Brain Drain-Ansatz zur Erklärung der Folgen von Migration im Gesundheitswesen aus der Perspektive von vielen Her-kunftsländern unzureichend ist. Als erstes bleibt die Größe eines Landes unberück-sichtigt. Die Migration von Fachkräften beeinflusst das Erwerbspersonenpotenzial in bevölkerungsreichen Ländern weniger als in kleinen. In Indien fällt die Auswan-derung von Fachkräften bei rund 700 Mio. Menschen im erwerbsfähigen Alter nur sehr wenig ins Gewicht.

Darüber hinaus wirkt sich Auswanderung nicht unter allen Bedingungen negativ auf das Arbeitskräfteangebot in Herkunftsländern aus. Empirische Forschungsergeb-nisse erbrachten sogar Hinweise auf positive Effekte: Die Motivation in einem Beruf tätig zu werden ist größer, wenn damit Chancen einer Auswanderung verbunden sind. In Kerala hatte sich laut der recherchierten Literatur die Zahl der Neuimmatri-kulationen in der Pflege erhöht, weil sie bessere Möglichkeiten auszuwandern bietet als andere Berufe. Nach einer Ausbildung kann oder möchte nicht mehr jeder Ein-zelne auswandern. Die Zahl der indischen Pflegekräfte hat sich deshalb durch Aus-wanderung nicht nur im Ausland erhöht, sondern im Saldo indirekt voraussichtlich auch in Indien. Die Ergebnisse der Sekundäranalyse sind in diesem Punkt

konsis-worteten mehr als sechs von zehn der in der indischen Pflege tätigen Responden-ten, dass die persönliche Entscheidung für eine Pflegeausbildung durch Auswan-derungsmöglichkeiten positiv beeinflusst wurde.

Einen Gegenentwurf zum Brain Drain-Ansatz liefert der sogenannte Brain Gain. Bei ihm stehen die Chancen von Migration durch transnationale Netzwerke im Vorder-grund. Im Ausland lebende Inder können „Brückenbauer“ sein und damit Arbeits-märkte und die Ökonomie in Herkunftsländern stimulieren. Dies belegen Beispiele aus der indischen IT-Industrie (Gründung neuer Technologieparks) und dem Ge-sundheitswesen (Gründung neuer Krankenhauskonzerne).

Positive Effekte durch Migration werden in der Literatur insbesondere mit zirkulären Wanderungsbewegungen verbunden, bei denen Migranten nach einem Auslands-aufenthalt wieder in ihre Heimat zurückkehren. Empirische Beobachtungen zeigen, dass mehrmalige Wanderungen zwischen unterschiedlichen Herkunfts- und Ziellän-dern zunehmen und mehr asiatische Migranten aus den Industrienationen wieder in ihr Geburtsland zurückkehren.

Die im Ausland gesammelten Erfahrungen müssen für einen Brain Gain allerdings verwertbar sein; d. h. eine Diffusion von Kenntnissen und Technologien setzt be-stimmte strukturelle Gegebenheiten voraus. Unter den aktuellen Rahmenbedingun-gen im indischen Gesundheitswesen - die medizinische Versorgung der überwie-gend jungen Bevölkerung steht im Vordergrund und Altenpflege ist noch keine flä-chendeckend verbreitete professionelle Disziplin - wären in deutschen Pflegehei-men erworbene Fähigkeiten voraussichtlich nicht von großem Nutzen. Der enorm ansteigende Bedarf an Angeboten der Langzeitpflege in Indien weisen aber ebenso wie die Rückmeldungen aus den Interviews darauf hin, dass Pflegekräfte mit deut-schem Know-how möglicherweise in Zukunft Entwicklungen zur Professionalisie-rung in der Altenpflege begleiten könnten.

Die vorliegende Arbeit reiht sich, aufbauend auf dem Transnationalismus, in die Brain Gain-Ansätze ein. Im Zusammenhang mit der Migration indischer Pflegekräfte wurden überwiegend Chancen für das Humankapital in Indien identifiziert.

Tabelle 31: Wesentliche Erkenntnisse und theoretischer Bezug der

„Auswirkungen auf das Humankapital“

THEMA SEKUNDÄRANALYSE INTERVIEWS BEFRAGUNG

Brain Drain

Aus kleinen afrikanischen Staaten ist ein großer Anteil der im Inland ausgebildeten Fachkräfte des Ge-sundheitswesens ausgewandert.

Indien wird von der WHO zu den Staaten mit einem kritischen Man-gel an Gesundheitsfachkräften ge-zählt.

Indien hat weltweit eine der nied-rigsten Raten an Fachkräfteaus-wanderung (bezogen auf das Er-werbspersonenpotenzial).

Gute Möglichkeiten auszuwandern erhöhen die Attraktivität einer Pfle-geausbildung. Die Zahl der Pflege-studenten hat sich in Kerala des-halb voraussichtlich deutlich erhöht.

Gute Möglichkeiten auszuwandern wa-ren für mehr als sechs von zehn der Befragten ein Grund, eine Pflege-ausbildung aufzu-nehmen.

Brain Gain

Die Migrationsrealität ist komplexer geworden. Die Rückkehrbereit-schaft asiatischer Fachkräfte nimmt zu.

In transnationalen Netzwerken wurde die indische IT-Industrie auf-gebaut. Auch das indische Gesund-heitswesen hat durch transnationale Netzwerke profitiert.

Bei einer Rückkehr indischer Fach-kräfte muss für einen Know-how-Transfer das im Ausland erworbene Wissen in Indien verwertbar sein.

Unter den aktuellen strukturellen Bedingungen des indischen Ge-sundheitswesens wäre in der deut-schen Altenpflege erworbenes Know-how in Indien schlecht ver-wertbar. Gleichzeitig ist das Markt-potenzial in der indischen Alten-pflege/Geriatrie groß.

Aus Deutschland zurückkehrende in-dische Pflegekräfte könnten die Profes-sionalisierung in der indischen Alten-pflege begleiten.

Theoretisch- analytische Bezüge

Die Ergebnisse der Sekundäranalyse und der Befragung stehen im Wider-spruch zu den Prämissen der Brain Drain-Forschung. Es wurde gezeigt, dass die Migration von Pflegekräften nicht unter allen Bedingungen mit einem „Ver-lust“ an Arbeitskräften für das Herkunftsland verbunden ist. Stattdessen ist in-direkt sogar eine Erhöhung des inländischen Arbeitskräfteangebots durch Auswanderung denkbar, wenn sich in bevölkerungsreichen Herkunftsländern die Attraktivität bestimmter Ausbildungen steigert. Die durchgeführte Untersu-chung reiht sich daher, aufbauend auf dem Transnationalismus, in die Brain Gain-Ansätze ein, auch wenn unter den aktuellen strukturellen Rahmenbedin-gungen im indischen Gesundheitswesen an einer Übertragbarkeit der in der deutschen Altenpflege vermittelten Kenntnisse gezweifelt wird.