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Blickwinkel 1: Der Mensch als reproduktives Wesen der Evolution

3. Kate Wilhelm: Hier sangen früher Vögel

3.1 Blickwinkel 1: Der Mensch als reproduktives Wesen der Evolution

Den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte bildet das Zukunftsszenario einer untergehen-den Menschheit, die durch radioaktive Verseuchung steril geworuntergehen-den ist. Davids Großvater fungiert dabei zu Beginn des Romans als Prophet:

Ich erkenne die Zeichen, David. Die Umweltzerstörung wächst uns über den Kopf, schneller, als irgendjemand wahrhaben will. In der Atmosphäre ist mehr Strahlung als jemals seit Hiro-shima – französische Bombentests, chinesische Bombentests, Unfälle in Kraftwerken. Gott weiß, wo die ganze Strahlung herkommt. Seit einigen Jahren haben wir es geschafft, dass die Bevölkerung konstant bleibt, aber, David, wir haben uns darum bemüht, und andere Länder er-reichen ebenfalls Null-Wachstum, aber sie bemühen sich nicht darum. In diesem Augenblick herrscht in einem Viertel der Erde Hungersnot. Nicht erst in zehn Jahren, nicht in sechs Mona-ten. Die Hungersnöte sind da, und zwar schon seit drei, vier Jahren, und werden ständig schlimmer. Noch nie gab es so viele Krankheiten, seit der Herrgott die Ägypter mit Plagen heimsuchte. Und es gibt Seuchen, über die die Medizin nichts weiß.78

Der Großvater fährt mit dieser Beschreibung fort und ergänzt das Bild mit Naturkatastro-phen, Artensterben, Pflanzenkrankheiten und Ressourcenknappheit. An diesem apokalypti-schen Setting sind zwei Punkte herauszuheben. Zum einen wird der Weltuntergang als multifaktorialer Prozess beschrieben, was ihn realistischer macht. Auch heute, fast vierzig Jahre nach Erscheinen des Romans, lassen sich alle zur Apokalypse führenden Faktoren in unserer Lebenswirklichkeit nachweisen. Zum anderen findet sich an dieser Stelle, transpor-tiert durch den Großvater, eine wichtige Kompetenz der Menschen – in der Natur lesen zu können, Zeichen zu deuten (dazu mehr in Kapitel 3.3).

Da das Verhältnis von Mensch und Natur empfindlich gestört ist, kommt es zur Katastro-phe, durch die die natürliche Reproduktion des Menschen, aber auch der Tiere, nicht mehr funktioniert. Der Protagonist David ist einer der führenden Wissenschaftler, die durch Klonen eine Lösung dieses Problems in die Wege leiten. Der Nachteil im Fortbestehen der Menschheit durch Klonen ist das Problem der hohen Sterblichkeit und Sterilität der Klone der 4. Generation. David und sein Onkel Walt nehmen diesen Sachverhalt an, weil sie die Forschungsergebnisse von Tierexperimenten auf den Menschen übertragen. Sie beziehen sich auf die Experimente von „Semple und Frerrer“79 (zwei fiktive Wissenschaftler). Die Fragestellung dieser Experimente war, ob die sexuell gezeugten Nachkommen von Klonen Abweichungen aufweisen. Dabei wurden nicht nur die Nachkommen der 1. Klon-Gene-ration untersucht, sondern die 1. Klon-GeneKlon-Gene-ration erneut geklont und deren Nachkommen untersucht bis hin zur 5. Klon-Generation (vgl. Abbildung 4). Durch den Verweis auf ein Experiment wird so erneut die Realitätsnähe bzw. wissenschaftliche Plausibilität erzeugt.

78 Kate Wilhelm: Hier sangen früher Vögel. Science Fiction-Roman, 2. Aufl., München, 1984, S. 19–20.

79 Wilhelm [Anm. 78], S. 22.

Aber der Niedergang beginnt in der dritten Klon-Generation, ein Niedergang der Potenz. Er ließ jede Klon-Generation sich sexuell fortpflanzen und überprüfte die Nachkommenschaft auf Normalität. Die dritte Klon-Generation hatte nur noch fünfundzwanzig Prozent Potenz. Der se-xuell erzeugte Nachwuchs begann mit demselben Prozentsatz, und in der Tat sank die Potenz bis zur fünften Generation sexuell produzierter Nachkommenschaft, um dann wieder anzustei-gen, vermutlich zurück zur Normalität.80

Abbildung 4: Asexuelle Reproduktion in Hier sangen früher Vögel. Zu Beginn werden die Originale (violettes und weißes Schaf oben links) geklont (1. Klon-Generation), diese werden wiederum geklont (2. Klon-Generation) und so weiter. Ab der 3. Klon-Generation werden Teile der Population steril und es treten Abnormalitäten auf. Die neration 5 kann nicht mehr geklont werden. Rechts zu sehen sind die sexuell erzeugten Nachfahren der Klon-Ge-nerationen. Während die Nachfahren der ersten beiden Klon-Generationen noch völlig normal sind (grüner Haken), gibt es ab der 3. Klon-Generation ebenfalls Sterilität und Abnormalitäten festzustellen (blaue und in schlimmerer Form rote Haken). Das rote Kreuz steht für das Aussterben. Die 5. Generation der Nachfahren der 3. Klon-Generation ist völlig gesund (roter Kreis) und dies ist der Zielpunkt für Walt und David. Die pinken Pfeile deuten an, welchen Weg stattdessen die Klone einschlagen. Sie klonen direkt nach der Zeugung die sexuell erzeugten Nachfahren. Und klonen diese dann wiederum auf normalem Wege weiter. Zudem können sie gegen Ende des Romans beliebig viele Generationen klonen.

Die Klone der Post-6-Generation sind jedoch steril, geschlechtslos und haben keine Innovationskraft.

Da elektrische Energie stark limitiert ist, ist dieses Szenario auch heute noch plausibel.

Wenn die Zellkerne bzw. Eizellen der Originale nicht konserviert werden können, limitiert deren Lebensspanne die Verfügbarkeit des genetischen Materials für die Klone. Die DNA der Klone wird so Generation für Generation älter. Mutationen nehmen zu und die Schutz-kappen der Chromosomen, die Telomere, werden in jeder Zellteilung kürzer. In der Lö-sung dieses Problems sehen Walt und David den Durchbruch im Fortbestehen der

80 Wilhelm [Anm. 78], S. 23.

Menschheit und freuen sich dementsprechend, als sie genügend gesunden Klonen der 4. Generation zum Leben verholfen haben. Wenn sich diese auf natürliche Weise sexuell fortpflanzen würden, könnte sich die Menschenpopulation erholen. Das Problem dabei ist, dass die Klone ein Fortbestehen ohne Klon-Geschwister nicht akzeptieren wollen. Sexuelle Reproduktion wird als Möglichkeit von den Klonen absolut abgelehnt. Schon die 1. Klon-Generation kommt zu diesem Schluss, hier in einem Gespräch zwischen Walt-1 (der erste Klon von Walt) und David.

„Erinnerst du dich, wie eine eurer Frauen vor langer Zeit eine von uns getötet hat, David? Hil-da brachte Hil-das Kind um, Hil-das ihr glich. Wir alle sind jenen Tod mitgestorben, und wir erkann-ten, dass jeder von euch allein ist. Wir sind nicht wie ihr, David. Ich glaube, du weißt das, aber nun musst du es akzeptieren.“ Er erhob sich. „Und wir werden nicht wieder das werden, was ihr seid.“

Auch David stand auf, seine Beine fühlten sich seltsam schwach an. „Was willst du damit sa-gen?“

Sexuelle Reproduktion ist nicht die einzige Antwort. Nur weil die höheren Organismen sie entwickelt haben, muss sie noch lange nicht die Beste sein. Jede Art, die ausgestorben ist, wur-de von einer anwur-deren, höheren, ersetzt.“ „Klonen ist ein sehr schlechter Weg für die höheren Arten“, sagte David langsam. „Es unterdrückt Vielfalt, das weißt du.“ Seine Beine schienen immer schwächer zu werden, seine Hände begannen zu zittern. Er hielt sich an der Tischkante fest.

„Du gehst davon aus, dass Vielfalt nützlich sei. Vielleicht ist das aber nicht der Fall“, sagte W-1. „Ihr zahlt einen hohen Preis für eure Individualität.81

Der Kernunterschied zwischen Menschen und Klonen wird an dieser Stelle ganz deutlich:

Individualität trifft auf Kollektivität und damit sexuelle auf asexuelle Reproduktion. Wäh-rend die Klone im Kollektiv ihrer Brüder oder Schwestern leben, müssen sich die Men-schen mit ihrer Individualität alleine abfinden. Die logische Konsequenz ist, dass die Klone mit dem Alleinsein große Schwierigkeiten haben. Wenn von einer Klon-Linie nur ein Kind überlebt, wird es aus Mitleid umgebracht. Die dahinterstehende Grundannahme ist, dass genetische Identität zu einer besonderen Verbindung der Klone führt und dass solch eine Verbindung nur zwischen Klonen hergestellt werden kann. In Kapitel 3.2 werde ich noch deutlich machen, dass eine solche Verbindung nicht unähnlich zu einer Verbindung zwi-schen Liebenden gedacht werden kann. Hinter diesem Setting steht der Wunsch, mit der eigenen Individualität nicht so alleine zu sein, und die Utopie, diese Kluft zwischen den Individuen zugunsten einer großen liebenden Gemeinschaft aufzugeben. Zwar scheitern die Klone in Wilhelms Roman, dadurch wird aber betont, dass im menschlichen Zusam-menleben vieles verbessert werden kann. Das meint W-1 mit dem Preis, der bezahlt wer-den muss. Was an dem oben zitierten Dialog noch auffällt, ist, dass von David im Grunde genommen sozialdarwinistisch argumentiert wird. Indem er auf die Evolution verweist, in der sich sexuelle Reproduktion unter höheren Tieren durchgesetzt hat, bewertet er das

81 Wilhelm [Anm. 78], S. 70.

türliche System als moralisch gut – ein klassischer naturalistischer Fehlschluss. Doch auch W-1 ist tief in diesem Denken verhaftet. Anstatt mit David zu argumentieren, verweist er ebenfalls auf den Mechanismus der natürlichen Selektion und sieht in den Klonen eine evolutionäre Spielart des Menschen, die sich, weil sie besser angepasst ist, durchsetzen wird. Durch den Untergang der Klone am Ende des Romans und die Rückkehr zur sexuel-len Reproduktion, initiiert durch das zufällig entstandene Individuum Mark, setzt sich dann erneut ein evolutionär geprägter Gedanke durch, den David schon zu Beginn der Geschich-te äußert:

„Höhere Lebewesen müssen sich sexuell reproduzieren, oder sie sterben aus, und die Fähigkeit dazu ist da. Etwas erinnert sich und heilt sich selbst“ sagte er geistesabwesend.82

Erinnerung wird so auch genetisch gedacht. Zwar könnte damit die stabilisierende Selek-tion gemeint sein; ob eine Art überlebt, hängt aber auch in großem Maße vom Zufall ab.

Die Möglichkeit, dass die Menschen ganz aussterben, wird in Wilhelms Roman zumindest in Betracht gezogen.