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Bezug zum Doppelgängermotiv – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Klonen

3. Kate Wilhelm: Hier sangen früher Vögel

4.1 Bezug zum Doppelgängermotiv – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Klonen

Der erste Typus des Doppelgängers, der deswegen als „identischer Zwilling“142 bezeichnet wird, hat seine Wurzeln schon in der Antike und findet sich in vielen Verfilmungen und Romanen zum Klon143. Auch Duncan Jones nutzt diesen Effekt in MOON. Modifiziert wird das Motiv in zweierlei Hinsichten. Zum einen liegt eine raumzeitliche Trennung zwischen Original und seinen Kopien vor. Die genetische Vorlage der Sam-Bell-Klone lebt zwar noch, es bleibt aber unklar, ob er von seinen Klonen weiß. Er tritt den Film hindurch nicht persönlich in Erscheinung und deswegen kann man nur die Klone untereinander als identi-sche Zwillinge bezeichnen. Zum anderen haben die Kopien nicht nur den gleichen Geno-typ, einen ähnlichen PhänoGeno-typ, gleichen Besitz (von Fotografien über Kleidung), üben die gleiche Arbeit aus, sondern auch den gleichen „Mnemotyp“ in Form von Gedächtnisim-plantaten, die neben Erinnerungen auch moralische Einstellungen beinhalten. So setzen z. B. beide Klone das Wohlergehen ihrer Familie an erste Stelle oder verwerfen die Idee, einen der noch nicht aufgeweckten Klone umzubringen. Durch die Modifikation des Mo-tivs durch Gedächtnisimplantate erhält die Doppelgängerfigur eine neue Qualität: Im Gegensatz zum klassischen Doppelgängermotiv, das mit Verwechslungsmomenten spielt, führt das gleiche physische Erscheinungsbild in MOON zu wenig Irritationen. Die Auf-merksamkeit wird so weg vom äußeren Erscheinungsbild und hin zum Innenleben der Fi-guren gelenkt. Die für beide Klone entscheidende Frage ist deshalb, wer Original und wer Kopie ist oder anders formuliert: Wer ist der Vater von Eve und der Ehemann von Tess auf der Erde? Erst als beiden bewusst wird, dass ihre Erinnerungen per Gedächtnisübertragung auf ihre Körper geladen wurden, nimmt die Identitätskrise Gestalt an. Hier wird offensicht-lich, dass mit den Gedächtnisimplantaten die Grundmuster menschlicher sozialer Interak-tion auf die Klone übertragen wurden. Gedächtnisinhalte miteinander zu teilen, ist für die Sam-Bell-Klone deshalb auch ein großes Problem. Im Gegensatz zu Filmen wie THE 6TH DAY (USA, 2000), in dem Original und Kopie glauben, das Original zu sein, treffen in

142 Sandro M. Moraldo: Wandlungen des Doppelgängers. Shakespeare, E.T.A. Hoffmann, Pirandello : von der Zwillingskomödie (The comedy of errors) zur Identitätsgefährdung (Prinzessin Brambilla, Il fu Mattia Pas-cal), Frankfurt am Main, New York, 1996, S. 13.

143 Beispielhaft: ROGER SPOTTISWOODE:THE 6TH DAY,2008.;FRANK LONGO:REPLI-KATE,2003.

MOON beide Kopien nicht auf den „richtigen“ Sam Bell. Als Sam X und Sam Y herausfin-den, dass Störsender installiert wurherausfin-den, um sie von der Erde zu isolieren, umgeht Sam X einen dieser Sender und ruft bei seiner vermeintlichen Familie an. Er spricht mit Eve, die mittlerweile fünfzehn Jahre alt ist (er glaubt, sie sei noch ein Kleinkind), und erfährt, dass

„seine“ Frau Tess seit einiger Zeit verstorben ist. Dadurch wird die Identitätskrise noch-mals verstärkt – nicht nur ist seine Erinnerung kopiert und modifiziert (wie er zuvor in einem Gespräch mit Gerty herausfindet), die Kopie ist auch nicht mehr aktuell. Die Mög-lichkeit, an die Stelle des Originals zu treten und somit Erinnerung bzw. Vorstellung und Realität in Einklang zu bringen, ist nicht realisierbar. Als Eve ihren Vater, den genuinen Sam Bell, an das Bildtelefon holen will, beendet Sam X das Gespräch, wirft das Bildtele-fon weg, weint und sagt: „I wanna go home“144. Dieser Satz versinnbildlicht die Identitäts-krise, in der sich beide Sam-Bell-Klone befinden. Alle Erinnerungen an das Leben vor dem Aufenthalt der Station sind modifizierte Kopien des Originals Sam Bell. Das Zuhause der beiden Klone ist nicht die Erde, sondern die Basis Sarang. Gerade die Erinnerungen sind der einzige Antrieb, um die Isolation auf der dunklen Seite des Mondes zu überstehen. Die Gefühle für Tess und Eve sind trotz der bitteren Erkenntnis echt, weswegen Sam X und Sam Y auf die Nachricht des Todes der geliebten Frau sehr emotional reagieren. Somit ist klar, dass die genetische Identität und das ähnliche Aussehen nicht zum Problem werden, sondern die Gedächtnisimplantate und mit ihnen die Verzweckung der Klone. Obwohl im Film individuelle Menschen mit selbst generierten Erinnerungen nie vorkommen, sind sie als Kontrastfolie in den Figuren der Sam-Bell-Klone schon angelegt. Die phänotypische Ähnlichkeit wird zudem durch den zunehmenden Verfallsprozess von Sam X sukzessive aufgelöst. Sam X geht es zusehends schlechter, was ihn auch äußerlich massiv von Sam Y unterscheidet. Von der Körperhaltung über die Hautfarbe und die Kleidung sind deutliche Differenzen auszumachen.

144 Jones [Anm. 140], TC:01:09:47.

Abbildung 5: Unterschiedliche Phänotypen der Klone (Jones [Anm. 138], TC: 01:14:36)

Wie auf Abbildung 5 zu sehen ist, steht Sam Y (links im Bild) aufrecht und trägt einen körperbetonten Overall, während Sam X geduckt läuft und sehr weite Kleidung anhat. Sam X wirkt so schmächtiger und kränker. Die Hautfarben der Klone unterscheiden sich deut-lich, sodass insgesamt ein unterschiedlicher Phänotyp sichtbar wird. Die Unterscheidung der Klone ist problemlos möglich. Durch die Auflösung der Doppelgängerschaft und damit auch des Doppelgängermotivs des identischen Zwillings wird die Fokussierung des Films auf die Problematik der geteilten Erinnerung nochmals verstärkt. Auch psychisch lassen sich ab diesem Zeitpunkt Differenzen ausmachen: Während Sam Y impulsiv, aggressiv und ungeduldig agiert, kümmert sich Sam X liebevoll um seine Pflanzen, redet mit ihnen und wirkt ausgeglichen und geduldig. Er erinnert hierbei stark an die Figur Freeman Lo-well aus SILENT RUNNING,der in der Pflege seines Waldes völlig aufgeht und letztlich das Überleben der Natur über das Leben seiner Kollegen stellt. In einem Gespräch mit Gerty äußert Sam X sogar Verständnis für „seine“ Frau Tess, weil er im Verhalten von Sam Y sein früheres nun überwundenes Ich erkennt. Sam X erzählt Gerty, dass ihn seine Frau we-gen seiner Impulsivität verlassen hatte und ihm nur unter der Bedingung, dass er sich än-dert, eine neue Chance gegeben hat (vgl. ab TC: 00:46:00). Man könnte hier eine Spielart des Doppelgängermotivs vermuten – eine Art „magisches Ebenbild“145 oder den Doppel-gänger der zweiten Stufe, der vor allem in der Romantik ein wichtiges Motiv war und des-sen Charakteristikum es ist, dass sich die Doppelgänger zueinander komplementär verhal-ten. Auch hier ist die literarische Vorlage zwar präsent, aber nicht ausreichend zur Be-schreibung der Konstellation bei den Sam-Bell-Klonen. Die Integrität des Originals wird nicht infrage gestellt (es ist fraglich, ob der richtige Sam Bell von seinen Klonen weiß) und die Gedächtnisimplantate sind modifiziert und nicht mehr aktuell. Sam X unterscheidet

145 Moraldo [Anm. 142], S. 21.

sich von Sam Y vor allem durch sein Alter und damit seinen physischen Zerfallsprozess sowie seine psychische Entwicklung. Er hat sich in der dreijährigen Isolation verändert und Strategien entwickelt, um zurechtzukommen. Das Doppelgängermotiv wird im Film folg-lich erneut um eine Komponente erweitert. Neben den Gedächtnisimplantaten wird der Verlauf der Zeit und damit der Alterungsprozess an den Klon-Figuren gezeigt. An dieser Stelle wird also ein Minimum an individueller Entwicklung der Figuren gezeigt. Dies führt zwangsläufig zu der Frage, ob die Klone zu unterschiedlichen Entscheidungen kommen können, weil sie sich im individuellen Alterungsprozess voneinander unterscheiden. Die Antwort des Filmes besteht in einer Sequenz über die bevorstehende Ankunft von ELIZA (ein Team, das den beschädigten Harvester reparieren soll). Beiden Klonen ist klar, dass sie nicht gleichzeitig auf der Station bleiben können, ohne umgebracht zu werden. Sam Y überzeugt deshalb Gerty, einen weiteren Klon zu erwecken. Der Entstehungsprozess der Klone bleibt ungeklärt. Man erfährt nur, dass die Klone in einem verborgenen Raum auf-bewahrt werden. Sam Y hat vor, diesen neuen Klon zu töten und ihn in den verunglückten Harvester zu setzen, damit Sam X fliehen kann. Sam X macht ihm daraufhin klar: „I’m not gonna kill anybody. We can’t kill anybody. You can’t. I know you can’t because I can’t“146. Es wird ganz deutlich, dass der moralische Kern der beiden Klone trotz der Al-tersunterschiede gleich ist. Die Gedächtnisimplantate nehmen im Vergleich zu den indivi-duellen Erfahrungen auf der Raumstation den größeren Anteil ein. Dafür spricht auch, dass sich die Klone kurz vor dem Tod von Sam X, der sich entscheidet, den Platz im verun-glückten Harvester einzunehmen, um Sam Y zu retten, in ihre gemeinsamen Erinnerungen verlieren. Sie erinnern sich an das erste Treffen mit „ihrer Frau“ Tess und in dieser glückli-chen Erinnerung wird Sam X bewusstlos. Es ist klar, dass er bald sterben wird. Diese Sze-ne verdeutlicht die Tragik von Sam X, dem nichts anderes bleibt, als sich in die objektiv falschen, aber für ihn trotzdem realen Erinnerungen zu verlieren und auf eine bessere Zu-kunft für Sam Y zu hoffen. Sam X stirbt genau in dem Moment, in dem die Helium-3-Transportkapsel mit Sam Y an Bord Richtung Erde startet. Durch diese Aneinanderreihung des Todes des einen Individuums und der gelungenen Flucht des anderen sowie die voran-gegangene gemeinsame Erinnerung der Klone an ihre Familie verschwindet letztendlich der Unterschied zwischen den Individuen zugunsten einer Entwicklungslinie der Sam-Bell-Klone. An dieser Stelle zeigt der Film, dass eine neue Form menschlichen Daseins, in der Erinnerungen geteilt werden können, möglich ist, und erweitert so die Perspektive Mensch.

146 Jones [Anm. 140], TC:01:21:25.

Was problematisch bleibt, ist die Verzweckung dieser Menschenwesen. Ihre dreijährige Lebenszeit dient allein wirtschaftlichen Interessen, was der Anfang und das Ende des Films hervorheben. Zu Beginn wird dies durch den Werbespot von Lunar Systems insze-niert, am Ende verdeutlicht dies die Berichterstattung der Medien über die Ankunft von Sam Y.