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4. Institutionalisierung von Berufsberatung und Berufs-

4.4 Berufsfreiheit

In diesem Abschnitt soll nun der zu Beginn des Kapitels aufgeworfenen Frage nach-gegangen werden, welche Bedeutung die verfassungsrechtliche Verankerung der Arbeits- und Berufsfreiheit für den jugendlichen Berufswähler speziell unter Berück-sichtigung der später zu behandelnden Berufsberatung besitzt. Stellt die in beiden Ländern geschützte Berufsfreiheit eine Illusion für den Jugendlichen dar oder impli-ziert sie, dass der Staat sich verpflichtet, lenkend und fördernd tätig zu werden, um die realen Voraussetzungen zur effektiven Wahrnehmung des Grundrechts zu schaf-fen? Vergleichend hierzu werden sowohl das deutsche Grundgesetz wie auch das

österreichische Staatsgrundgesetz hinzugezogen, um diese Frage zu eruieren. Zu hinterfragen gilt es zudem, inwiefern sich die Berufswünsche von Hauptschülern ü-berhaupt mit der beruflichen Wirklichkeit decken.

4.4.1 Berufsfreiheit im österreichischen Kontext

Im österreichischen Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 steht in Artikel 6 ein Hinweis auf die freie Erwerbsausübung. Hier heißt es: „Jeder Staatsbürger kann an jedem Orte des Staatsgebietes […], sowie unter den gesetzlichen Bedingungen je-den Erwerbszweig ausüben.“ Darüber hinaus steht es nach Art. 18 StGG jedem ös-terreichischen Staatsbürger frei, „[…] seinen Beruf zu wählen und sich für denselben auszubilden, wie und wo er will.“ Diese gesetzliche Norm unterliegt jedoch keiner besonderen Wirksamkeit, da sie sich in ihrer historischen Auslegung vor allem gegen ständische oder zünftische Bindungen und Privilegien wendet.

4.4.2 Berufsfreiheit im deutschen Kontext

Entsprechend des Grundgesetzes, Artikel 12 Absatz 1,

„[haben] [a]lle] [Deutschen] […] das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“ (Deutscher Bundestag 2006b, S. 17)

Damit garantiert das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland von 1949 al-len Deutschen nicht nur die Freiheit der Berufswahl, sondern auch die Freiheit der Berufsausübung. Grundlage dieser Dogmatik zur Berufsfreiheit ist nach wie vor das so genannte „Apothekenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Juni 1958 (BVerfGE 7, 377, 398f.), in dem die wesentlichen Grundsätze zur Auslegung der Be-rufsfreiheit erstmalig von der Rechtsprechung entwickelt worden waren. Seither wird die Berufsfreiheit als einheitlich geltendes Grundrecht verstanden, das die Berufs-wahlfreiheit sowie die Berufsausübungsfreiheit schützt (Schneider 1985, S. 8).

Im Vergleich beider gesetzlicher Regelungen zur Berufsfreiheit fällt auf, dass das österreichische Staatsgrundgesetz im Unterschied zum deutschen Grundgesetz durch Art. 6 StGG explizit die Gewerbefreiheit gewährleistet, wobei diese allerdings unter gesetzlichem Vorbehalt steht.

4.4.3 Berufsfreiheit für jugendliche Berufswähler: Eine Illusion?

In der Praxis wird die gesetzliche Gewährleistung der Freiheit auf Berufswahl bzw.

der Berufsfreiheit aufgrund mannigfaltiger arbeitsmarkt-, gesellschafts- aber auch

können. Wenzl (1998, S. 5) verweist in ihrer Evaluationsstudie zur Berufsberatung des Instituts für psychologische Berufswahldiagnostik darauf, dass sich Jugendliche in der Regel an Berufen in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld orientieren. Der el-terliche Einfluss bzw. der der Erziehungsberechtigten spielt eine große Rolle im Be-rufsentscheidungsprozess der Jugendlichen. Daneben können aber auch gesell-schaftliche Interessenvertretungen und der Gesetzgeber z. B. durch Zulassungsbe-stimmungen die Freiheit der (Aus-) Bildungswahl ebenso einschränken wie regionale Bedingungen.

Die seit Jahren angespannte Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt ist solch ein einschränkender Faktor im Berufsentscheidungsprozess von Jugendlichen, der mit-unter dafür sorgen kann, dass Jugendliche zunächst im so genannten „Übergangs-system“ (Beicht/Friedrich et al. 2007, S. 5) aufgefangen werden und nicht ohne wei-teres ihrem Berufswunsch nachgehen können. So konstatieren Beicht et al., dass

„[a]us den BIBB-Schulabgängerbefragungen und den BIBB/BA-Bewerberbefragungen […] die starke Diskrepanz zwischen den Berufswünschen von Jugendlichen und ihren tatsächlichen Realisierungsmöglichkeiten klar hervor [geht].“ (Beicht/Friedrich et al. 2007, S. 5)

Die in den letzten Jahren vorherrschende verminderte Wirtschaftslage, die zu einem verstärkten Abbau von Arbeitsplätzen geführt hat, sowie starke Geburtenjahrgänge als soziodemographischer Aspekt sind u. a. Gründe, die letztlich zu einer beträchtli-chen Unterversorgung an Ausbildungsplätzen geführt haben. Längere Wartezeiten in diversen Berufsbildungsangeboten wie berufsvorbereitenden Maßnahmen seitens der BA, ein schulisches Vorbereitungsjahr (BVJ) oder die Einstiegsqualifizierung Ju-gendlicher (EQJ) führen dazu, dass die Zahl der Altbewerber zunehmend steigt. Die Autoren Ulrich und Krekel weisen im Kontext der BA/BIBB-Bewerberbefragungen aus dem Jahre 2004 darauf hin, dass unter etwa 740.200 gemeldeten Ausbildungs-stellenbewerbern 266.700 Altbewerber waren, „die in das Vermittlungsjahr 2004 hin-einströmten“ (Ulrich/Krekel 2007, S. 12). Von diesen 266.700 Altbewerbern erhielten 158.200 wiederum keinen Ausbildungsplatz (ebd., S. 11).

Anhand dieser Zahlen soll deutlich werden, dass die gesetzlich geschützte Berufs-freiheit aus Sicht der betroffenen Jugendlichen in alternativen Berufsbildungsangebo-ten, die ihren Wunsch nach einer betrieblichen Ausbildung allen Widerständen zum Trotz noch nicht aufgegeben haben, als Farce erscheinen muss. Allerdings sind die Ursachen an späterer Stelle näher zu ergründen, warum „Altbewerber“ – unter denen sich vermutlich auch die in dieser Arbeit fokussierte Gruppe der Hauptschüler

befin-det – teilweise jahrelang in Warteschleifen zwischen dem Bildungs- und Beschäfti-gungssystem verweilen. Welche Rolle spielt hierbei das Berufsberatungssystem und welche realistischen Chancen haben Altbewerber, doch noch einen Ausbildungsplatz zu erhalten (vgl. hierzu Kapitel 7)? Angesichts der angespannten Ausbildungsplatz-lage sind viele Bewerber – insbesondere Jugendliche mit Migrationshintergrund – notgedrungen flexibler in ihrer Berufswahl geworden, was nicht unbedingt zu einer Übereinstimmung von Ausbildungsberuf und Wunschberuf führt (BMBF 2007a, S. 64;

Friedrich 2006, S. 11; Beicht/Friedrich/Ulrich 2007, S. 5).

Bezüglich des Bedeutungsgehaltes von Berufsfreiheit lässt sich sowohl für den deut-schen wie auch für den österreichideut-schen Kontext mit einem Zitat des österreichi-schen Autors Lenzhofer zusammenfassend feststellen, dass

„[… e]ine absolute Freiheit der Berufswahl für den einzelnen […] daher nicht denkbar [ist] und […] eine Illusion [bleibt], da sowohl die persönlichen Voraussetzungen als auch die Begren-zungen der Ausbildungseinrichtungen und des Arbeitsmarktes die möglichen Berufe ein-schränken.“ (Lenzhofer 1991, S. 8)

Sicherlich gibt es nicht die absolute Freiheit der Berufswahl, dennoch stehen jedem jugendlichen Berufswähler diverse Optionen der Berufs(aus-)bildung zur Verfügung, die grundsätzlich genutzt werden können, sofern genügend Informationen darüber und über mögliche alternative Berufsbilder vorhanden sind. Darüber hinaus erscheint ein Abgleich zwischen den Anforderungsprofilen, die die Unternehmen an potentielle Auszubildende richten, mit den eigenen beruflichen Vorstellungen und Wünschen sinnvoll, um ‚bösen Überraschungen’ bzw. einem Wechsel des Ausbildungsbetriebes oder Ausbildungsberufes vorzubeugen. Dies zu leisten bedarf professioneller Unter-stützung durch schulische Berufsorientierung sowie Aufklärung über Berufe und Bil-dungsmöglichkeiten durch die öffentliche Berufsberatung, damit Jugendliche, insbe-sondere die in dieser Arbeit fokussierte Gruppe der Hauptschüler, in die Lage ver-setzt werden, ihre Arbeits- und Berufsfreiheit realistisch nutzen zu können. Denn wie Beinke hierzu treffend konstatiert,

„[…] ist allerdings das Wählendürfen eine lediglich formaljuristische Lösung des Problems.

Dem Wählenkönnen sind eine Reihe von Grenzen gesetzt. Zur Voraussetzung, die Berufs-wahl frei vornehmen zu können, gehört die Kenntnis von Alternativen.“ (Beinke 2006, S. 21)

Obwohl Arbeit und Beruf sowohl in Deutschland als auch Österreich verfassungs-rechtlich geschützt sind, bleiben einige Fragen unbeantwortet. So bisher auch die oben aufgeworfene, ob die Berufsfreiheit jugendlicher Berufswähler lediglich eine Wunschvorstellung ist. Diese Frage findet m. E. angesichts der oben dargelegten

Unterversorgung an Ausbildungsplätzen ihre Berechtigung. Denn obwohl ein einheit-liches Grundrecht auf Arbeits- und Berufsfreiheit besteht, werden ausbildungsplatz-suchende Jugendliche aufgrund fehlender Ausbildungsplätze zunächst in alternati-ven Berufsbildungsangeboten „geparkt“, wie beispielsweise den berufsvorbereiten-den Bildungsmaßnahmen (BvB) seitens der BA, entsprechend des § 61 SGB III. De-ren angeblich (nach)qualifizieDe-render Charakter bedarf einer genauen wissenschaftli-chen Untersuchung. Einerseits werden die Jugendliwissenschaftli-chen mit der Einmündung in eine Zwischenstation des Bildungs- und Berufsausbildungssystems – zumindest temporär – ihres vermeintlichen Grundrechtes einer freien Berufs(ausbildungs)wahl beraubt, andererseits unterstehen sie gleichzeitig aber dem verfassungsrechtlichen Schutz laut Art. 12 GG durch die Zuweisung des Staates in eine berufsvorbereitende Maß-nahme.

Ausgehend von den o. g. verfassungsrechtlichen Überlegungen zur Berufsfreiheit ist das Aufgreifen einer zuvor in der Problemstellung aufgeworfenen Leitfrage nützlich, die sich mit dem Gedanken der Steuerung bzw. der Lenkung von jugendlichen Be-rufswählern durch die öffentliche Berufsberatung beschäftigt. Zunächst einmal lässt sich in diesem Zusammenhang fragen, inwiefern sich der Staat verpflichtet, lenkend und fördernd tätig zu werden, um die realen Voraussetzungen zu schaffen, die für die Wahrnehmung des Grundrechts auf Berufsfreiheit notwendig sind (Schneider 1985, S. 8f.). Darüber hinaus schließt sich m. E. aus berufsethischer Perspektive die Frage an, ob ein Berufsberater tatsächlich eine Lenkungsfunktion innerhalb der Beratung von jugendlichen Berufswählern innehaben sollte.

Diesen scheinbaren Widerspruch zwischen Berufsfreiheit und Berufslenkung ver-sucht Schneider aufzulösen, so dass „Berufsfreiheit und Berufslenkung nicht mehr als Gegensatz verstanden werden“ (Schneider 1985, S. 21). Als Fazit lässt sich an-lehnend an Schneiders Ausführungen festhalten, dass zu einer wirksamen Freiheits-sicherung sowohl die Berufsfreiheit als auch die Berufslenkung einem wechselseiti-gem Abhängigkeitsverhältnis unterliegen, wodurch die Berufslenkung sogar zu einem unverzichtbaren „Funktionselement“ (ebd., S. 21) einer offenen Berufs- und Arbeits-ordnung werde.

Ergänzend hierzu sei die Perspektive der Bundesagentur für Arbeit eingeflochten.

Wie Wolfinger et al. herausstellen, findet

„Beratung und Vermittlung durch die BA […] in einem Spannungsfeld zwischen dem Grund-recht der Berufswahlfreiheit und dem Streben des einzelnen nach beruflicher

Selbstverwirkli-chung einerseits und den Bedürfnissen der Betriebe und einem ausgeglichenen Ausbildungs- und Arbeitsmarkt andererseits statt.“ (Wolfinger 2007, S. 4)

Die Berufsberater müssen sich demnach permanent der Herausforderung stellen, einem möglichen Interessenskonflikt aus dem Wege zu gehen, indem sie zum einen die Bedürfnisse der Arbeitnehmerseite und zum anderen die der Arbeitgeberseite in ihrer täglichen Arbeit berücksichtigen.

Letztlich ist die Bedeutung der Berufsfreiheit bezogen auf jugendliche Berufswähler auch abhängig von dem Wirtschaftssystem, in das die Berufsfreiheit eingebettet ist.

Schneider verdeutlicht, dass hinsichtlich der verfassungspraktischen Bedeutung von Arbeits- und Berufsfreiheit immer auch die ihr zugrunde liegende und von ihr mitge-prägte soziale Wirklichkeit wie auch die marktwirtschaftliche Ordnung berücksichtigt werden. So fungiere Berufsfreiheit zugleich als Maßstab und Grenze staatlicher Regelungen (Schneider 1985, S. 19).