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Beobachtungen als Zugang zur Objektseite von Atmosphären

TEIL 1 – KONZEPTIONELLER RAHMEN

3. Methodischer Zugang: Operationalisierung des

3.2 Beobachtungen als Zugang zur Objektseite von Atmosphären

Das Stadtplanungsverständnis der Moderne ging davon aus, dass über die Gestaltung der menschlichen Umwelt ein ursächlicher Einfluss auf das menschliche Verhalten genommen werden kann. Diese Annahme muss für die Wirkungsweise von Atmosphären abgelehnt werden. Das bedeutet, dass durch die Beobachtung materieller Umwelten keine direkten Rückschlüsse auf die Wirkungsweise von Atmosphären gezogen werden können. Stattdes-sen muss hier – ebenso wie bei der Fokussierung der subjektiven Ebene – die Ko-Konstitution von Subjekt und Objekt im Augenblick des Vollzugs be-rücksichtigt werden. Mit den Worten von Casey (ebd.):

Neither body nor place is a wholly determinate entity; each continually evolves, precisely in relation to the other. The place-world is energized and transformed by the bodies that belong to it, while these bodies are in turn guided and influenced by this world's inherent structures.

Die separate Betrachtung der materiell-körperlichen Seite von Atmosphären darf nicht dazu verleiten, dieser Materialität einen höheren Stellenwert in der Wirkungsentfaltung von Atmosphären einzuräumen als der Subjektivität der anwesenden Personen. Auf diese Gefahr wird an dieser Stelle deswegen so entschieden hingewiesen, da der allgemeine akademische Trend der Re-materialisierung des Sozialen leicht zu diesem Denken verleitet. Griffero

Die Atmosphären des Tempelhofer Feldes | Ulrike Mackrodt Kapitel 3

(2014: 32) verweist auf diesen Fakt anhand des Beispiels einer Eiche, die für verschiedene Personen verschiedene Bedeutungen haben kann:

it is, for instance, a potential few cords of wood for the forester, a threat-ening daemon for the little girl, to whom the knobby bark resembles the deformed face of a man […]. The same object, in a strictly physicalist sense, therefore presents different tones in different species-typical Umwelten.

Eine große und tiefe Pfütze am Eingang des Tempelhofer Feldes kann somit für einen Mann mit nicht-wasserfesten Schuhen ein veritables Hindernis sein, während sie für eine Kindergruppe mit Gummistiefeln eine unwider-stehliche Spielmöglichkeit darstellt. Ebenso habe ich persönlich ein und den-selben Ort auf dem Tempelhofer Feld zu verschiedenen Anlässen sehr unter-schiedlich erlebt. So war der – identisch weite – Spaziergang über die Lan-debahn des Tempelhofer Feldes für mich das eine Mal ein kurzweiliges und anregendes Erlebnis mit Freunden. Ein anderes Mal schien der Weg gegen einen schneidenden Winterwind nicht enden zu wollen. Wenn ich mich also der Objektseite von Atmosphären durch Beobachtungen annähere, so müs-sen die „dinglichen Attribute […] in ihrem ekstatischen Charakter verstanden werden, d. h. in Hinblick auf das, was sie ausstrahlen“ (Böhme 1998: 9, Hv. i. O.). So kann beispielsweise ein Musikinstrument einerseits als materi-eller Gegenstand betrachtet werden. Gleichzeitig verfügt es durch seinen Klang (oder auch nur durch das Wissen um seinen Klang) über einen eksta-tischen Charakter, der ihm ein atmosphärisches Potential verleiht. Nur wenn diese zweite Dimension meine Analyse leitet, kann über Beobachtungen ein Zugang zu Atmosphären erreicht werden.

Meine Beobachtungen fanden im Zeitraum von März 2012 bis Oktober 2015 statt und umfassten 20 mehrstündige Aufenthalte auf dem Tempelhofer Feld. Die Aufenthalte wurden in Form von Feldnotizen sowie Foto- und Vi-deoaufnahmen dokumentiert. Die erstellten (audio-)visuellen Daten über-nahmen eine wichtige Funktion für die Analyse. Denn diese Daten erlauben, die Materialität des Erlebens in zeitlich fixierbarer Weise zu erfassen. Damit wurde ich in die Lage versetzt, einen distanzierten und mehrfachen Blick auf das materielle Arrangement und die körperlichen Handlungen der darge-stellten Personen zu werfen. Insbesondere mithilfe von Videodokumentatio-nen war es mir während der Interpretationsarbeiten möglich, den vormals gegenwärtigen Moment auf dem Tempelhofer Feld zu reaktivieren und mehrfach nachzuerleben. Im Unterschied zu Fotografien können Videose-quenzen dabei nicht nur das materielle Arrangement erfassen, sondern auch die Situativität und – in begrenztem Umfang – auch die akustischen Eindrü-cke der sozialen Situation einfangen (Dirksmeier et al. 2011; Frers 2007; Lau-rier/Philo 2005). Die sinnlichen Informationen der audiovisuellen Daten ha-ben meine Interpretationen der Feldnotizen substantiell bereichert und mich vor einer Reduktion der Umweltwahrnehmung allein auf den visuellen Sinn

bewahrt (Rose/Tolia-Kelly 2012b: 3). Die Videosequenzen werden so zu Be-legen meiner vorangegangenen Präsenz auf dem Tempelhofer Feld. Die er-stellten Videoaufnahmen dienen als Proxy für sinnliche Erfahrungen, die weit über das im Bild Sichtbare hinausgehen (Pink 2006) und auch die At-mosphäre des Erlebens und den ‚Geist im Bild‘ (Crang 2010) mit einbezie-hen. Die erhobenen videografischen Daten dienen als analytisches Hilfsmit-tel, um die Beobachtungsvignetten zu erstellen und mein eigenes Erleben zu reflektieren. In die Ergebnisdarstellung gehen sie damit nur indirekt ein.

Die von mir erstellten Fotografien stellen in den nachfolgenden empirischen Ausführungen einen wichtigen Bestandteil der Ergebnispräsentation dar.

Gemeinsam mit den Beobachtungs-Vignetten dienen sie dazu, den Leser*in-nen Zugang zu meinem spezifischen Erleben des Ortes und des Geschehens zu geben (Frers 2007: 26). Frers, dessen phänomenologische Studie vorwie-gend aus foto- und videografischer Empirie besteht, reflektiert die Stärken und Schwächen audiovisueller Daten wie folgt:

Allerdings fordern sie, wie andere Verbündete auch, ihr Recht ein. Sie zeigen immer nur Ausschnitte, Teile des Geschehens. Sie zeigen das Ge-schehen aus einer bestimmten Perspektive, aus der des Fotoapparats, der Kamera oder der meines persönlichen und wechselhaften Empfin-dens. […] Sie zeigen das Geschehen, wie es vom Objektiv oder von mir in meiner leiblichen Verfasstheit wahrgenommen wird, sie zeigen die Dinge und die Menschen, wie sie für mich und die von mir verwendeten technischen Geräte sind. (ebd.: 256)

Die Kombination von Fotografien und Text bietet den Leser*innen einen mehrdimensionalen und (im digitalen bzw. gedruckten Textformat) best-möglichen Zugang zur Erlebensperspektive. Bei der gemeinsamen Verwen-dung von Text und Bild im empirischen Teil ist in methodologischer Hinsicht jedoch zu berücksichtigen, dass diese Darstellungsweise nicht den Erhe-bungsbedingungen entspricht. Denn in den Momenten des Spürens von At-mosphären habe ich das Erlebte in der Regel nicht fotografisch oder video-grafisch dokumentiert, sondern mich ganz dem Moment zugewandt. Diese situativen Entscheidungen gegen das Filmen resultieren aus der Tatsache, dass die Handhabung mit einer Kamera mich von meinem Umfeld entfrem-det hätte. Das Erlebte wird nicht mehr für den Moment wahrgenommen, sondern für ein zukünftiges Publikum gerahmt. „Each event is not so much experienced in itself but for its future memory [...]. The moment is no longer, if it ever could have been, lived for itself. Photography seizes and freezes a present moment and place for a future audience separated in time and space”

(Crang 1997: 366). Mit der gedanklichen Auseinandersetzung um die Wir-kung des Fotos, darum, welchen Bildausschnitt ich wähle und welche Posi-tion ich dafür als Fotografierende einnehme, entfremde ich mich von dem gegenwärtigen Moment und richte meine Aufmerksamkeit auf die zukünftige Rezeption des Bildes. Diese Unzulänglichkeit des gleichzeitigen Erlebens

Die Atmosphären des Tempelhofer Feldes | Ulrike Mackrodt Kapitel 3

und Filmens hat Michels (2015) in seiner videografischen Empirie zu Musik-performances im öffentlichen Raum reflektiert. Als Teil seiner Feldnotizen resümiert er darüber, warum sich Filmen und Erleben nicht miteinander ver-einbaren ließen:

For a split second, I think about getting the camera ready to capture this experience [of the music performance]. But I decide not to, because I thought that fiddling with the camera would ruin the experience. […] It was only after I had put away the camera that I managed to really tune in to the concert’s atmosphere. (ebd.: 260)

Wie bei Michels, so ist es auch in meiner Empirie zu einem solchen Changie-ren zwischen der Distanz des FotografieChangie-rens bzw. Filmens und dem Erleben im Moment gekommen. In der Interpretation der Daten ist zudem zu beach-ten, dass in den von mir erstellten Fotografien die sozialen Konventionen des Verhaltens in öffentlichen Räumen zum Tragen kommen (Oldrup/Carsten-sen 2012). So dominiert in den Fotografien häufig eine mittlere Distanz, die die Privatsphäre der beobachteten Personen achten soll. Gleichzeitig wird diese Perspektive zu Recht als academic gaze (Crang 1997: 369) kritisiert.

Zudem lenke ich den Blick der Leser*innen mit der von mir vorgenommenen Auswahl der Fotografien in spezifischer Weise. Bei aller Reflexion bleibt die-ser Abwägungsprozess eine intuitive Entscheidung, wie Pink (2004: 94) aus-führt:

The academic meanings that ethnographers give to visual images are […] arbitrary and are constructed in relation to particular methodolog-ical and theoretmethodolog-ical agendas. [...] A reflexive approach to […] visual re-search recognizes both the constructedness of social science categories and the politics of researchers’ personal and academic agendas.

Meine in dieser Arbeit getroffenen Bildauswahlen und Interpretationen re-präsentieren damit stets eine selektive Perspektive, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. Vielmehr erschaffe ich mit dieser Studie das Tempelhofer Feld in einer spezifischen Weise; denn „versucht man einen Raum mit [qualitativ-fotografischen] Methoden zu erkunden, erzeugt man diesen in zweiter Ordnung selbst“ (Dirksmeier 2013: 98). Die Studie stellt performativ das her, was sie zu beschreiben versucht: die Atmosphären des Tempelhofer Feldes. Das Dilemma dieses wirklichkeitskonstituierenden Ele-ments wissenschaftlicher Arbeit ist nicht aufzulösen.

Die hier vorgestellten sprachbasierten und beobachtenden Erhe-bungsverfahren wurden durch eine Vielzahl sekundärer Materialien ergänzt, die im Rahmen des Planungsprozesses und öffentlichen Diskurses von Drit-ten hergestellt wurden. Zu diesen Materialien zählen die von der Senatsver-waltung für Stadtentwicklung zum Tempelhofer Feld veröffentlichten Pläne und Karten, Gutachten, Stellungnahmen, Wettbewerbsunterlagen und Pres-seerklärungen. Darüber hinaus gehören dazu die medialen Selbstdarstellun-gen der Pionierprojekte. Diese umfassen Projekt-Homepages und

Facebook-Gruppen sowie Plakate und Broschüren. Aus dieser Vielzahl an Materialien fließen ausgewählte Karten, Fotos auf verschiedenen Homepages, Dia-gramme und Abbildungen in die empirischen Ausführungen ein. Dieser zei-gende Zugang zu visuellen Medien, insbesondere in Bezug auf Fotografien, ist in der methodologischen Debatte seit einiger Zeit kritisch reflektiert wor-den. Denn die damit verbundene Annahme einer ‚visuellen Wahrheit‘ muss angesichts des Wissens um die Konstruiertheit fotografischer Erzeugnisse abgelehnt werden (vgl. Pink 2004: 99). Gleichwohl vermittelt der zeigende Gebrauch von Fotografien weiterhin eine wichtige Wissensform in akademi-schen Texten (ebd.: 131), die nicht zugunsten methodischer Neuerungen voll-ständig aufgegeben werden muss. Die in dieser Studie verwendeten Fotogra-fien übernehmen demnach je nach Kontext eine unterschiedliche Funktion.

Sie dienen einerseits als Annäherung an das atmosphärische Spüren des Vor-Ort-Erlebens und andererseits ‚zeigen‘ sie spezifische räumliche und materi-elle Charakteristika, die im Text analysiert werden.